Rezension 2009

Christoph W. Bauer, Graubart Boulevard 
Innsbruck: Haymon Verlag, 2008

Während sich das offizielle Tirol den Hals im Blick zurück auf anno 1809 und vor auf das herandräuende Heldengedenken 2009 verrenkt, lenkt Christoph W. Bauer den seinen auf einen ganz anderen Jahrtag. Es geht bei ihm um den 9. November, der für die NSDAP der „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“ war, und das Jahr 1938, als dieser Jahrtag zur Reichskristallnacht in deutschen Landen wurde, auch in Innsbruck. Auf das in dieser Nacht stattgefundene Judenpogrom, auf den in dieser Nacht stattgefundenen Mord an Richard Graubart richtet er seinen Blick, auf die Villa Graubart in der Gänsbacherstraße 5, wo der Mord geschieht, zunächst, dann „die Museumsstraße entlang [wo sich das Schuhwarengeschäft der Graubarts befand] und immer tiefer hinein in die Geschichte einer Familie, von der ich zunächst nichts anderes wusste als das Datum der Ermordung Richard Graubarts.“

Dem Erzähler Christoph W. Bauer geht es aber nun gar nicht darum, in diesem Ereignis „einen Ring zu sehen, der sich um die Stadt legte, um sie an ihre Vergangenheit zu gemahnen“; es geht ihm nicht darum, einen Mörder auf-, sondern einer Familiengeschichte nachzuspüren. Patrick Modiano, den Bauer im Motto zitiert [„Es dauert lange, bis das, was ausgelöscht worden ist, wieder ans Licht kommt.“], mag Vorbild gewesen sein, Modiano, der seinen autobiografischen Roman Familienstammbuch mit einem Zitat von René Char beginnt: „Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren“.

Eben das macht Bauer, mit akribischer Unaufdringlichkeit, stupender Detailtreue, menschlicher Wärme für die Opfer, unparteiischer Distanz gegenüber den Tätern - und mit schriftstellerischem Geschick. Sein Blick bleibt so nicht im Jahr 1938 hängen, sondern geht viel weiter zurück, zurück zu Joseph Roths Ostjuden (und Bauer erreicht dabei die Qualitäten von Roths Essay „Juden auf Wanderschaft“), zurück gar zu den ersten Erwähnungen von Tiroler Juden um 1300. Das macht Bauers Buch zu einer sozial- und kulturhistorisch höchst interessanten Lektüre, die dennoch stets das rekonstruierte Schicksal Richard Graubarts und seiner Familie im Auge behält und mit Empfindungen des Erzählers verknüpft. Sorgfältig aufgespürte Archivalien sind sein Stoff, Gespräche mit Familienmitgliedern ergänzen das Bild, eine ausführliche Kenntnis der Literatur zum Thema rundet seine Suche nach der verlorenen Zeit ab.

Am Ende, nachdem auch der hier wie andernorts peinliche Umgang der Nachkriegszeit mit der Nazi-Vergangenheit aufgearbeitet worden ist, fasst Bauer die Ausgangspunkte noch einmal ins Auge: die Mordnacht in Kapitel 119 und den verstörenden Status quo in Kapitel 120: "Margarethe Graubart sollte Recht behalten, der Mord an ihrem Mann wird nie restlos aufgeklärt." 120 Jahre nachdem Simon Graubart, Richards Vater, das Gewerbe in Innsbruck angemeldet hat, „mache ich mich erneut auf den Weg zu seinem ehemaligen Geschäft. In den Erzählungen von Vera und Michael Graubart wird die [Museum-] Straße zum Boulevard, der sich um die Stadt legt, um sie daran zu erinnern, was sie sich selbst genommen hat."

Es ist bewundernswert, wie viel ausgelöschte Erinnerung Bücher ans Licht bringen, wenn Autoren wie Bauer sie schreiben. Mag sein, dass diese Erinnerung einer nationalen Minderheit auf lokalem Boden weniger quotenträchtig ist als jene, die auf mehrheitsfähige Schicksale nationaler Natur abzielt. Deutschland etwa rüstet sich bereits jetzt für die 2000-jährige Wiederkehr der Varusschlacht im Teutoburger Wald des Jahres 9 nach Christus. Tirol setzt auf ein 200-jähriges Jubiläum. Wie viel ehrenvoller nimmt sich dagegen doch jene Kerze aus, die Margarethe Graubart jedes Jahr zum 9. November ins Fenster stellt, und wie viel wertvoller ist ein Buch, das daran erinnert!

Bernhard Sandbichler

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