Rezension 2009
Erika Inger, All Souls Clinic. Martin Pichler, Navigatore
Edition Raetia 2009
Der Ausstellungskatalog All Souls Clinic zeigt Arbeiten der Südtiroler Künstlerin Erika Inger, die im Zeitraum von 2007 bis 2009 entstanden sind. Die Erfahrungen mehrerer Aufenthalte in Afrika haben die künstlerische Auseinandersetzung geprägt. Es handelt sich bei einem Großteil der Arbeiten um zweiteilige Kompositionen, jeweils bestehend aus einem Reisebild, das um eine skulpturale Einheit aus (Fund-)Gegenständen ergänzt wird. Die Abbildungen erinnern an geöffnete Zündholzschachteln: „Das sich Hin- und Herbewegen zwischen den Welten” des Reisenden vollzieht sich im Betrachter zwischen flächigem Bild und eingeschachteltem Fundstück. Das titelgebende Bild des Ausstellungskatalogs zeigt die Fotografie einer Klinik in Accra. Passanten gehen vorbei. Diverse Aufschriften („All Souls Clinic“, „No Entry“, „No Parking“) fügen der Abbildung verschiedene Bedeutungsebenen hinzu. Ergänzt wird dieses Bild durch eine geometrische Anordnung von Fundstücken, zerbrochenes weißes Porzellan, verbogene Nägel, eine Schere, Lichtschalter. Bruchstücke vor allem.
Sprachliche Elemente finden sich in vielen der Fotografien, auch formal wirken die zwei aneinander gefügten Querformate narrativ. Ein kurzer Text der Künstlerin, Abfahrt – Passage – Ankunft, verweist auf das Bedürfnis nach Fort-Bewegung, die Möglichkeit einer kritischen Distanznahme, jene sich in Auseinandersetzung mit dem Fremden neu zu verorten. Doch die Möglichkeit der Distanznahme ist eingeschränkt: „Das Ozonloch ist überall, das Internet ebenso. Die Sehnsucht nach unberührten Orten und Freiräumen und deren Verschwinden im Moment, in dem sie entdeckt werden. Bleibt die Sehnsucht, das Schöne besitzen zu wollen.” Zur Bewegung des Reisens fügt sich die Geste des Sammelns und Festhaltens.
Das Motiv der Fort-Bewegung spielt auch in Martin Pichlers kurzer Erzählung Navigatore eine Rolle. Die Fahrt eines Rollstuhlfahrers zu einer Tanzstunde. Navigatore, so wird der Ich-Erzähler von Margherita, die ihn begleitet, genannt, verzeichnet akribisch seine Wahrnehmungen, vor allem die nach innen gerichteten Bewegungen, die Begegnungen mit anderen Menschen in ihm auslösen. Der Körper dient als Messinstrument: „Ein kleines Erdbeben und Wirbeln in meinem Rücken“, „ein Kälteschlitz […] an meinen Hüften“, „gewecktes Blut, eine besondere Kitzligkeit an unvermuteten Stellen“. Der Erzähler dokumentiert, lotet aus: „Ich bin ein Kartograf, vermesse und staune, ich bin dauernd bei der Arbeit und ziehe die Grenzen nach.“ Grenzen und vor allem auch deren Überschreitung spielen in Pichlers Geschichte eine Rolle in vielerlei Hinsicht: In der Erfahrung körperlicher Unzulänglichkeit, als Barrieren zwischen Menschen, in Form von Übergriffen, aber auch in Bildern von Reibung, Ergänzung und Vereinigung. Navigatore hält, um bei der Sprache der Seefahrt zu bleiben, manchmal das Steuer fest in der Hand, verliert es aber auch wieder, changiert zwischen Gefühlen der Macht und Ohnmacht. Zentral ist die Frage nach dem Fremden und dem Eigenen, die schwierige, mitunter schmerzhafte Begegnung mit dem Anderen. Die Erkundung des fremden Kontinents ist hier in die persönliche Erfahrung verdichtet: „Ich denke an den elastischen Stoff, bei jeder Bewegung Reibung und Differenz, die beiden Hälften der Wirklichkeit: Was dem eigenen Körper zugeschlagen werden kann, und das restliche Gebiet, weit, öd und unerkundet.“
Formal überträgt Pichler die Frage nach Grenzen, das macht einen Reiz des Textes aus, durch die strenge Einhaltung einer einzigen Perspektive. Der Leser bleibt im Blick des Erzählers gefangen, der aber ist faszinierend präzise. Navigatore bricht herkömmliche Erwartungen, lässt „die Reifen schleifen [...] und Staub aufwirbeln“, ist voll von Sinnen- und Berührungslust.
Nicht gesagt wird, inwieweit Pichlers Erzählung als literarischer Kommentar zu den Arbeiten Erika Ingers intendiert ist. Augenfällig sind jedoch viele Bezüge sowohl auf der formalen als auch auf der Bildebene. Einfühlsam scheint der Autor Motive aus den Skulpturen der Künstlerin in seine Erzählung einzuweben. Da sind etwa die aus Stahlnägeln gefertigten Objektbilder aus der Serie „Nageln“, die sich ebenfalls im Katalog befindet. Auf einem Bildträger umgekehrt befestigte Nägel bilden verschiedene Sprachbilder („Ich“, „Seele“, „Stille“), die sich mit ihren Spitzen gegen den Betrachter richten. Die aus verbogenen Nägeln geformten Bilder werfen Schatten, die an feine Härchen erinnern. Sprießende Haare, „die kreuz und quer ins Fleisch gesteckten Schrotkugeln“, sind ein durchgängiges Motiv in Navigatore: Bärte, „dieses verletzliche Moos und die aperen Stellen dazwischen, wo die Härchen nicht sprießen wollen, rühren an mein empfängliches Herz.“
In einer früheren Arbeit – die Skulptur „leichter gehen“ (Skulpturenwanderweg Lana, 2000) – befestigte Inger schwere Steine auf Stangen und ahmte durch ihre Anordnung die Bewegung einer Welle nach. „ Die Skulptur verweist auf […] einen Prozess, dessen Ziel die Leichtigkeit ist, zwar eine fragile Leichtigkeit, aber eine, die wie ein Traum über die Erdschwere hinausweist”, schreibt die Künstlerin in einem Kommentar zu dieser Arbeit. „Eine fragile Leichtigkeit” ist auch in jenem Paartanz erahnbar, in dem Pichler seine Erzählung hoffnungsvoll enden lässt.
Iris Kathan