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Literatur im Lichthof (9/2016) - Zoom 

 

 

Roberta Dapunt: dies mehr als paradies | la terra più del paradiso
übersetzt von Versatorium (Khatuna Arshaulidze, Simon Arshaulidze, Julia Dengg, Helmut Ege, Ilia Gasviani, Nino Idoidze, Daniel Lange, Sonja Martinelli, Mathias Müller, Maria Muroni, Felix Reinstadler und Peter Waterhouse). (Reihe TransferBibliothek CXXVI).
Wien, Bozen: Folio 2016  
 

© Folio 2016Das Zuhause von Roberta Dapunt im ladinischen Abtei/Badia/Gadertal verrät vieles über die Erdhaftigkeit ihrer Lyrik. In dieser Landschaft von brüchigem Dolomit-Gestein und sattgrünen Almwiesen, mit ihren gebeizten viles übersät  - die buchstäbliche Bilderbuch-Alpinlandschaft - laufen nicht nur Scharen von passionierten Bergsteigern oder wanderlustigen Touristen umher. Hier sind auch BäuerInnen und DichterInnen am Werk.

Und tatsächlich: Pflege (cura) ist ein Wort, das die Dichterin gern in den Mund nimmt. Eine mit den Händen verrichtete Pflege, mit  ihren „behäbige(n)Hände(n)“, die auf dem Heft bleiben und auf das Schreiben warten wie „beharrlicher Granit“. Die Hände sind  ̶  neben dem Herzen – das tägliche Werkzeug von Roberta Dapunt. Dichten findet in der den bäuerlichen Verpflichtungen abgesparten Zeit statt, abends oder nachts, in ihrem Zimmer, in dessen Stille „(m)ein tägliches Ritual“ zurückkehrt. Und: Es ist etwas, das immer zu kurz kommt und dem man mit Schuldgefühlen nachgeht „und da die poesie, mehr möchte ich erspüren dies“.

Der schmale Gedichtband „La terra più del paradiso“ erschien 2008 in der renommierten weißen Reihe „Gli Struzzi“ des italienischen Verlags Einaudi. Er enthält 44 Texte, in der Schwebe zwischen Prosa und Lyrik. Roberta Dapunt wurde als neue Stimme der italienischen Lyrik gefeiert. Die ladinischen Gedichte „Nauz. Gedichte und Bilder“ (Deutsch von Alma Vallazza, Folio Verlag, Wien-Bozen 2012) erweckten gleichfalls im deutschen Sprachraum die Aufmerksamkeit der Kritik und Leserschaft. Einige Gedichtbände (u. a. OscuraMente, 1993, la carezzata mela, 1999,) gingen diesen Werken voraus. 2013 erschien „Le beatitudini della malattia“, eine poetische Auseinandersetzung mit dem Thema der Demenz.

Dass diese Sammlung, die Roberta Dapunt zum Erfolg verhalf, nun auch in deutscher Sprache klingt, ist ein Verdienst des Versatorium, des Übersetzerkollektivs an der Universität Wien unter der Leitung des Komparatisten, Dichters und Übersetzers Peter Waterhouse. Entstanden sind die Übertragungen der Gedichte während einer Klausur der ÜbersetzerInnen auf dem Hof, den Roberta gemeinsam mit ihrem Mann, dem Bildhauer Lois Anvidalfarei, auf 1400 Metern in Pedraces bei St. Kassian bewirtschaftet.

Die elf Übersetzer lassen bewusst in ihren Texten etwas vom Prozesshaften des Übersetzens spüren: an vielen Stellen nimmt die deutsche Syntax die italienischen Konstrukte fast wortwörtlich auf und lässt sie „sein“: „mich reuen meine sünden“; „glaube an die welt, an die schwarzen augen der söhne die sie verliert „engel froh mit wenig gedanken“; „die Lena die betete und die augen zu starb“.

„Dies mehr als Paradies“ – so die eigenwillige Übertragung des italienischen Originaltitels ̶  enthält nicht nur die italienischen Originaltexte und deren deutsche Fassungen, sondern auch drei Sprachkundigen vorbehaltene Übertragungen ins Georgische und zwei in einen Südtiroler Dialekt, was für die multikulturelle Besetzung des Übersetzerkollektivs spricht. Eingeflossen in die deutsche Ausgabe ist ein wortloses Gedicht, das im italienischen Original nicht enthalten ist. Laut Peter Waterhouse stammt es von einem ladinischen Original. Übriggeblieben sind aber nur Interpunktionszeichen. Spuren auf dem leeren Blatt. Kleine Zeichen, ähnlich denen, die sich in der Landschaft durch die bäuerliche Arbeit einprägen. Diese Achtung auch vor dem kleinsten Zeichen war ein Leitprinzip der Übersetzung.

Beim Lesen spürt man die Mühe, die Ausdauer, die Verbindlichkeit des Lebens am Hof. Kein Beiwerk, kein Experimentieren, keine Ästhetizismen oder Selbstgefälligkeiten. Roberta Dapunt geht mit der Sprache wie mit der Feldarbeit um: sie hackt, wälzt, sät und pflückt. Ackerarbeit, Tiere im Stall, knorrige und liebenswürdige Dorffiguren (der Linert, „auf den wangen die farbe der erdbeeren im winter“; die Hebamme Herta, „dem leben zur stelle“), Tod und Geburt, Rituale und Glaube biegen sich dem poetischen Duktus. Die Worte behalten und strahlen etwas von jener Schwere zurück, der man auch in den massigen Bronzeskulpturen von Anvidalfarei begegnet. Sie liegen verstreut auf den großen Wiesen um den Hof. In dieser Offenheit, angesichts des imposanten Heiligkreuzkofel, entfalten sie am besten ihr Wesen. In der Abgeschiedenheit ihres Zimmers im zweiten Stock des Hofes entfaltet sich hingegen Robertas Lyrik. Dichten ist aber - genauso wie die Wiese - ein freier Raum; hier im Zimmer findet nur eine andersartige Pflege statt.

In der Mitte des Bandes – auch optisch leicht erkennbar – trägt eine schmale Sektion den Titel „Die engen Begegnungen“. In diesen intimen, substantivisch geprägten Texten wird ein tief empfundenes Bekenntnis zur Poesie und zum Schreiben thematisiert. Als Pendant dazu findet man längere Texte („mein glaubensbekenntnis“ und „glaube“), die durch anaphorische Satzanfänge wie ritualisierte Gebete wirken. Andere wiederum („das sage ich dir mit dem leben“) erinnern im Sprachduktus, durch die wiederkehrende Verwendung der Futurform, an Cesare Pavese.

Im letzten Gedicht „jetzt wo ich mich selber zum gehorchen vermag“ will Waterhouse auch den wichtigsten Vers sehen, und hier vor allem  die letzte Zeile, in der er bewusst keinen Schlusspunkt setzt: „von händen randvoll mit vertrauen/denen ich zuschaue fortwähren“. Die erste Zeile (anstelle: Das erste Wort) im ersten Gedicht lautet in der italienischen Fassung: “mai come ora mi fu necessario il silenzio“. In der deutschen Übertragung: „mehr denn je jetzt bin ich bedürftig der stille“. Eine Leere, die zur Fülle wird, dafür als Pendant die (auch optische) Offenheit des letzten Verbs.

“In nessuna parte di terra mi posso accasare” (An keinem Ort der Erde kann ich heimisch werden). Giuseppe Ungarettis Vers trifft für Roberta Dapunt nicht zu. Diese ihre Erde bewohnt sie, über diese Erde stapft sie zum Stall, zum Feld, “denn allein ist der leib zu lieben dies mehr als paradies”. Eine Schwerkraft, die den Leser nicht daran hindert, auch etwas vom Himmel und dessen Leichtigkeit zu spüren. Denn die Dichtung von Roberta Dapunt speist sich aus dem Dialog mit einem Spirituellen, das sich im Austausch mit den ganz normalen Geheimnissen des bäuerlichen Alltags in den Dolomiten ereignet.

Carla Festi

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Friederike Gösweiner: Traurige Freiheit. Roman
Graz, Wien: Droschl 2016

© Droschl 2016Während der Lektüre dieses beunruhigenden Buches habe ich oft an "SauErde" von John Berger gedacht. Was John Berger phänomenologisch vom Rand der Gesellschaft, aus der Perspektive des Landes auf das Zentrum hin, beschreibt, beschreibt Friederike Gösweiner in "Traurige Freiheit", mit einem Rundum-Blick vom Zentrum auf das Zentrum der Gesellschaft. Und das ist ernüchternd.

Was der britische Autor, Maler und Kunstkritiker dem Land an Leben zugesteht, versucht Gösweiner dem Zentrum abzutrotzen. Mit dem Unterschied, dieser Gesellschaft, diesem Zentrum, ist nichts mehr abzutrotzen. Daher sind ihre Versuche des Anlandens zum Scheitern verurteilt.
Während das Land, die Peripherie, Leben ermöglicht, wünscht, verunmöglicht das Zentrum das Leben. Auch wenn der Stadtverkehr unübersehbar ist, die Fußgängerzonen und Einkaufsmeilen dicht gedrängt mit Menschen sind. Diese Zonen sind proportional zur Dichte an Window-Shoppern einsam.

Den Verlust eines durchaus archaischen Lebenskonzeptes, das die Bauern jahrein jahraus leben, auch wenn dieses Lebenskonzept vermeintlich zum Sterben verurteilt ist (was inzwischen schon vielfach bestritten wird), erlebt das Zentrum als existentiell.
Den Bauern bleibt noch die Improvisation, den Bewohnern der Städte vielfach nur noch ein 24-Stunden-Sedierungsprogramm auf unterschiedlichsten Ebenen.
Was sich bei den Bauern als Liebe zu den Wurzeln ihrer Existenz verschieden- und vielfältigst zeigt, gerät bei Gösweiner zur "globalen Krise", zum Zweifel an einer persönlichen Zukunft.

Es könnte ein Einzelschicksal sein. Aber das ist es nicht. Denn die Geschichte von Hannah geht weit über ein Einzelschicksal von Verlieren hinaus. Die Szene ist schmerzhaft, weil so nahe an der Realität. Wer jemals in den Fängen des Journalismus, des Buchverlegens, des Theater- oder Filmrealisierens geraten ist, weiß, wovon Gösweiner spricht. In diesem Sinn ist das Buch - wenn vielleicht auch nicht so gedacht - ein Erfahrungsbericht.

Hannah wünscht sich nichts sehnlicher als in Berlin ein Zeitungsvolontariat zu machen. Volontariate als neuzeitliche Form gesellschaftlich legitimierter Ausbeutung und Sklaverei unter dem Deckmantel beruflicher Ausbildung. Ohne soziale und rechtliche Gleichstellung. Weil sich in den Biographien Namen von Unternehmen in Medien gut lesen, ohne die Bedingungen zu kennen.
So realistisch ihr Angebot in Berlin ist, so groß sind die Träume einer Karriere. Und diese Sucht ist nicht zu stoppen.
Die einzige Barriere ist, so nachvollziehbar das sein mag, ihre Beziehung zu Jakob, einem Arzt. Über diese Schwelle muss sie in ein Leben hinein, das in allen möglichen Verlusten endet.
Der Text ist eine Hommage auf die, die immer verlieren, die in der Erfolglosigkeit verortet sind.

Nach Ablauf der Zeit des Volontariats steht sie quasi auf der Straße. Die Kontakte, oberflächlich genug, verdunsten wie der Regen. Was bleibt, ist die Vision einer Journalistenkarriere, diese würgende Hoffnung, die mit dem Verschicken unzähliger Bewerbungsschreiben genährt wird und sich in den Vorstellungen, gute Arbeit zu leisten, erschöpft.
Gäbe es die Gastronomie nicht, in Form kleiner Studentenbars, ginge die Zahl der erwerbslosen, im Käfig des Prekariats eingeschlossenen, sehnsüchtig auf einen Job harrenden Schreiber grenzenlos in die Höhe.

Martin Stein, der es "irgendwie" in die oberen Etagen als Journalist und Lektor des Instituts für Kommunikationswissenschaft an der Universität geschafft hat, ist die emotionale Insel in dieser Zeit, die Hannah allerdings nur mit dem Fernrohr ihrer Wünsche sieht.
Gäbe es Miriam nicht, die allerdings aus ähnlichen Gründen in Moskau weilt und schon bald aus ihrer "Dienststelle entsorgt" wird, weil vielleicht ein fachhochschul-geeichtes Beratungsunternehmen empfohlen hat, die Hälfte der "Freien" abzubauen, wäre die Orientierungslosigkeit von Hannah noch größer. So halten sich zwei Frauen im Meer der hoffnungsvollen Chancenlosigkeit wenigstens menschlich über Wasser.

Der Text, der so an der Realität entlangschrammt, nimmt einem den Atem, lässt einen beim Lesen frösteln, weil man das zum Teil alles schon selbst erlebt hat; diese Vertröstungen, dieses Abwimmeln, dieses Von-oben-herab, diese nicht nachvollziehbaren, begründungslosen Entscheidungen einer Jury, die aus jenen besteht, die sich mit Schmierseife und Gel gewaschen, den Windungen des Jobs entlangschlängeln, aus deren Ergebnissen keiner schlau wird; wie Träume und Hoffnungen einer Berufslaufbahn vorsätzlich systematisch zersägt werden, damit bloß keine Erwartungen auftreten können und die Begabungen mit der Kreissäge der Perspektivlosigkeit zu Brennholz eines kreativ-toten Jobs verarbeitet werden; dem In-Aussicht-stellen einer - wenn überhaupt - minderdotierten Tätigkeit, einer aus Selbstausbeutung und Selbstversklavung genährten Beschäftigungspolitik, an der Karl Marx seine helle Freude hätte.
Und die Erfahrung, wie man über die eigene Biegungsfähigkeit des ideellen Rückgrats zum Staunen kommt.

Jakob war für Hannah so etwas wie Heimat, die Gösweiner, ohne sentimental zu werden, sehr einfach und einfühlsam beschreibt, und aus der sie weg muss, um an die andere Seite von Heimat zu gelangen, die fremd ist. Jakob war die Sicherheit, die man verlässt, um den Geschmack der Unsicherheit zu kosten, auch auf die Gefahr hin, dass sie zum bitteren, scharfen, brennenden Alltag wird.

Die Fiktion dieser Geschichte trägt man im Einkaufskorb durch den Medien-Markt und sieht sich die Preise der Schicksale, der Orientierungs- und Beziehungslosigkeit an.
Nach einem Zusammenstoß - im Wortsinn - mit einem Taxi, blickt sie, nach ihrer Gesundung, von der Dachterrasse jenes Hauses, in welchem sie in der Wohnung von Miriam längere Zeit gewohnt hat, auf Berlin, beugt sich über das Geländer und der Blick nach unten auf das Pflaster hat für einige Momente etwas Anziehendes.

Für diese Aussicht einer Aussichtslosigkeit würden sich die Bauern in "SauErde" von John Berger nicht hergeben. Denn worin bestehen sonst die kleinen Geschichten des täglichen Lebens? An der Offenheit für eine Denk- und Empfindungsweise, die das Leben lebenswert macht: wenn es schneit (und die Beobachtung bei Gösweiner, dass es in Berlin schneit, macht für einen Augenblick dieses Schicksal von Hannah spürbar liebenswert), und für dieses Naturereignis, für das es in der gegenwärtig erlebbaren Welt offenbar weder Raum noch Verständnis gibt.
Man steht in der Wirklichkeit, rücksichtslos, chancenlos, zukunftslos.

Es ist ein Buch wider diese unerfüllbare "Heilserwartung", der so viele verfallen, die in sog. glänzenden Karrieren in Verlagen, Zeitungsredaktionen, Radio- und Fernsehanstalten oder den berüchtigten Creative Centers bestattet werden.
Dennoch - es sind die kleinen unscheinbaren Details, die den Hinweis eines Neubeginns des Lebens aufzeigen. Und sei es die Aussage ihres Klavierlehrers, der sie bei einem Spielfehler auffordert: "Können wir das nochmals von hier nehmen?"
Immer beginnt das Leben irgendwo, an einem Punkt der Erinnerung. Es ist und wird nie zu Ende sein. Die Frage ist nur wie ein Leben zu Ende geht. Aufrecht oder gebeugt.

Bei den Bauern in "SauErde" ist manches trostlos, aber das Überleben ist ihnen garantiert, durch harte Arbeit in, an und mit der Natur. Sie bedürfen keiner Jury, keiner Konkurrenz, keinen Versprechungen und Hinhaltetaktiken.

Damit ist "Traurige Freiheit" von Friederike Gösweiner eine zwar von Mitgefühl gepolsterte, aber um nichts weniger entvisionisierte Abrechnung mit den in die medialen Mechanismen Involvierten unserer Gesellschaft geworden. Als Einblick in die Abgründe einer Krankheit, genannt Karriere, an der viele leiden, das aber öffentlich niemals bestätigen würden.
Dem Kern dieses gelungenen Buches käme ein anderer Titel noch viel näher: "Der endlose Fall in die Freiheit".

Hans Augustin

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Friederike Gösweiner: Traurige Freiheit. Roman
Graz, Wien: Droschl 2016

© Droschl 2016Friederike Gösweiner hat einen kleinen Roman geschrieben, der zu Recht sehr gelobt wurde. Er verhandelt ein knappes halbes Jahr Lebensgeschichte einer angehenden studierten Journalistin um die 30: die räumliche und schließlich endgültige Trennung von ihrem Partner, das Praktikum, das sie bei einer großen Berliner Zeitung nicht versäumen zu dürfen glaubt, die berufliche und soziale Leere, die sie durch Kellnern und die flüchtige Beziehung zu einem namhaften Kollegen aufzubessern vermeint, die ziellose Zukunft, in die sie taumelt. „Zeit zu gehen, dachte Hannah.“ So lautet der Schlusssatz, der den Titel sinnfällig vor Augen führt.

Diese private Tragödie könnte leicht in Larmoyanz, in platte Sozialkritik oder eine aufdringliche Literarisierung abgleiten. Aber nichts von alldem findet sich hier. Diese Prosa ist - darf man das sagen? - makellos. Nicht, dass sie jenen Fertigkeiten geschuldet wäre, die in akademischen Literaturinstituten geschult werden und die hier gar nicht verunglimpft werden sollen. Friederike Gösweiner weiß gleichwohl, worauf es bei spannender Literatur ankommt: auf einen berührenden, gut geschnittenen Plot, der sich keine inhaltlichen Belanglosigkeiten erlaubt, auf eine durchgängig stringente Erzählperspektive und eine reduzierte Motivstruktur, die das Erzählte dicht und doch durchscheinend verweben.

So entpuppt sich der Befindlichkeitsroman einer Generation dieser Debütantin als überraschendes Leseglück. Gespannt verfolgt man jeden Einstieg dieser neun Kapitel, jede subtile Anspielung, von den Namen der wenigen Protagonisten über die vertraut fremden Orte des Geschehens bis hin zu den körperlichen und psychischen Empfindsamkeiten der Hauptfigur. Stilistisch gesehen wendet Gösweiner keine literarischen Taschenspielertricks an, sondern scheinbar beiläufige Raffinessen. „Da dachte Hannah, sie mussten ein komisches Paar abgeben“, heißt es einmal an einer Stelle, und zehn Zeilen weiter: „Sie mochten ein seltsames Paar abgeben, dachte Hannah“: das Gleiche, aber von einer anderen Seite bedacht.

Vorangetrieben wird die Handlung von unscheinbaren Impressionen, die die Außenwelt liefert und die Hauptfigur reflektiert; Vergangenes wird erinnert, und so kommt einem Hannah sehr nahe, während der nächste Handlungsschritt bereits gesetzt ist. Viel denkt sie, diese Hannah, denn GesprächspartnerInnen und Körperkontakt fehlen beinahe völlig in ihrem Leben. Und so entstehen in ihr Gedanken über das Gewicht der Welt, die ihr leicht in den Sinn kommen, dort aber schwer wiegen: „Gegenüber, auf dem Kollwitzplatz, beobachtete Hannah ein kleines Mädchen … Sie musste daran denken, dass ihre Mutter ihr früher öfters gesagt hatte, dass sie, Hannah, als Kind, wenn sie hingefallen war, immer sofort aufgestanden war. Hingefallen und gleich wieder aufgestanden. Ganz alleine und ohne zu schreien. So wie jetzt, dachte Hannah. Im Grunde ging es doch immer nur darum. Man fiel hin, man stand wieder auf. Es wurde nur mit jedem Mal mühsamer und schien länger zu dauern, bis man wieder hochkam.“

Bernhard Sandbichler

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Susanne Gurschler: 111 Orte in Tirol die man gesehen haben muss
Köln: Emons 2016

1© Emons 201611 Orte die man gesehen haben muss nennt sich eine inzwischen in der Reiseliteraturlandschaft etablierte Reihe des auf Regionalbezüge spezialisierten Kölner Emons Verlags. Beinahe ein Jahr lang hat sich die Kulturjournalistin Susanne Gurschler auf die Suche begeben nach den 100 und 1 Orten in Nordtirol, die es wert sind, gesehen und erfahren zu werden. Das Buch hält, was der Titel verspricht, nämlich die Augen zu öffnen für Besonderes und Spezifisches, damit vor allem für die Vielfalt der Region zu sensibilisieren. Der Blick wird vorwiegend auf Details gerichtet, auf Verstecktes, abseits Gelegenes, auf Dinge, die sich nicht in jedem Tirolführer finden, und die selbst mit der hiesigen Kultur- und Naturlandschaft Vertraute immer wieder zu überraschen vermögen. Bestechend ist die bunte Mischung der Orte: da finden sich die unbekannteren und versteckteren Kleinode unter den Kulturdenkmälern, landschaftliche Besonderheiten, immer wieder, wie könnte es in Tirol anders sein, spektakuläre Aussichtspunkte, umstrittene Orte und skurrile, aber auch Tirolklassiker wie die Telfeser Wiesen oder der Obernberger See, Orte, die ganz auf Gegenwärtiges verweisen – ein Schwerpunkt etwa liegt bei moderner Architektur – und historische Schätze, von denen kaum jemand weiß. Und weil ein Land nicht nur ein geografischer, sondern vor allem auch ein sozialer Raum ist, sind es immer wieder Menschen, für die sich Gurschler interessiert. Ihre Aufmerksamkeit gilt den an Orte geknüpften Geschichten und Überlieferungen ebenso wie ganz konkreten Personen des Hier und Jetzt, die etwas machen mit und an den Orten, an denen wir leben, etwa den stadtführerINNen, die mit ihren Erkundungsgängen durch Innsbruck so etwas anbieten wie „eine lustvolle Form von Beziehungstherapie“ für InnsbruckerInnen. Neben den einzelnen Ortsbeschreibungen wartet der Führer mit wertvollen Zusatzinformationen auf, gibt Auskunft über die Anbindung der Orte an das öffentliche Verkehrsnetz, Anfahrtswege, Öffnungszeiten und Kontaktadressen und empfiehlt weitere, den jeweiligen Orten nahegelegene Orte. Erwähnenswert sind auch die gelungenen Fotografien des reich bebilderten Reiseführers, die größtenteils von der Autorin selbst stammen.

Natürlich ist der vorgelegte Ortskanon ein subjektiver und je nach Betrachter oder Betrachterin würden sich immer wieder neue Tirol-Bilder ergeben. Gurschlers Auswahl überzeugt durch einen offenen, auch liebevollen Blick auf das Land und das Bemühen um eine Schnittmenge, die für jeden und jede etwas bereithält. Nicht zuletzt gelingt es der Autorin Lust darauf zu machen, das, was vor der eigenen Haustüre liegt, zu entdecken oder wiederzuentdecken, vielleicht auch sich selbst auf die Suche zu begeben nach weiteren besonderen Orten Tirols.

Iris Kathan

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Susanne Gurschler: 111 Orte in Tirol, die man gesehen haben muss
Köln: Emons 2016

© Emons 2016Kein Ort. Nirgends - existenzielle Unbehaustheit, wie sie unter diesem Titel auftritt, muss der Tourismuswirtschaft ein Gräuel sein! Für sie kann es gar nicht genug Orte geben, an denen sich zahlende Fremde heimisch fühlen sollen. In Tirol sehen diese Orte dann so aus, wie sie Thomas Parth in seinem Kompendium Zimmer frei fotografisch dokumentiert oder Lois Hechenblaikner fotografisch Hinter den Bergen interpretiert hat. Die einheimische Intelligentsija der 1970er-Jahre fühlte sich unter anderem aus solchen Gründen eher “homesick” (exemplarisch Christian Muthspiel über Werner Pirchner), sie empfand diese speziell andere Art des Heimwehs. Der rechte Feinspitz, ob in- oder ausländisch, gibt sich mittlerweile freilich nicht mit Tiroler Gemeinplätzen zufrieden oder grollt ihrer Ungestalt, nein, er sucht das Besondere, oder besser: Er lässt nach dem Besonderen suchen und greift zum Buch. Dort findet er 66 Lieblingsplätze, wie sie Irene Heisz beschrieben und Julia Hammerle für den Gmeiner Verlag fotografiert haben; oder er findet - neuerdings - 111 Orte, die man gesehen haben muss. Der Emons-Verlag stellt mittels Aufkleber klar: “Das Original” und legt seinem Südtirol- nun den Nordtirol-Band nach. Klar gibt es zwischen Vor- und Nachzügler Überschneidungen: den Landecker Chocolatier Hansjörg Haag oder die Kitzbühler Streif oder das Erler Passions- und Festspielhaus etwa. Aber selbst bei diesen (süßen) Lieblings(s)orten gibt es unterschiedliche Blickwinkel. Heisz verortet Tirol vom Außerfern bis Osttirol, Gurschler von Achenkirch bis Zirl. Erstaunlich ist bei beiden, wie kurzweilig Ortskunde sein kann. Gurschler hat als Fotografin außerdem ein ausgezeichnetes Auge. Werden bei Emons noch 111 Osttiroler Orte folgen? Die gibt es sicher und wir werden jedenfalls dranbleiben.

Bernhard Sandbichler

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Regina Hilber: Landaufnahmen
Innsbruck: Limbus 2016

Ein mosaikhaftes Panoptikum an Worten und an Gegenden

.Zwischenaufnahme
da flogen wir über das Zwiebelfeld und
hatten keine Tränen mehr für den
Elfenbeinturm (S.48)

© Limbus 2016In diesem Band, dem dritten Lyrikband in der Reihe der Limbus-Preziosen, zeichnet Hilber Landaufnahmen in Langaufnahmen und ‚Landwortüberleitungen‘. Sie zieht ihre poetische Landkarte in 5 Langgedichten von Brandenburg, Slowenien, Alpen, Frosinone, Friaul bis zur Hohen Tatra. Diese poetisch bildlichen Langlandaufnahmen, die ihren Reiz erst richtig beim mehrmaligen 'Tieferlesen' zum Vorschein bringen, entpuppen sich als schwer fassbare Wortkonstellationen. Nahezu hermetisch enthalten ihre Werke mehrere Schichten und Lesarten, die auf Decodierung warten, wie zum Beispiel das sich wiederholende Spiel mit den Buchstaben X, A und O, mit musikalischen Metaphern oder mit den Einbindungen des Mondes und Wolfes als Motiv. Manchmal sieht man sich dann als LeserIn, wie in dieser folgenden Zeile, sehr verstanden, wenn sie poeta-doctus-like und in Bachmannscher Manier Wortketten aneinanderreiht:  „sind deine verborgenen Wege / jemals an mich gestoßen / hielten sie verdeckt meine Hand“ (S.82). Preziös leuchten Passagen voll poetischer Kraft wie diese aus dem Band: 


der Mond macht sich
schlank damit die
Perseiden die
Nachttrunkenen bei
Laune halten
und nur weil der Schlaf
kein Schlaf war
treffe ich auf diese
Sternschnuppe da
der Einäugige wusste
es vor mir
beherrscht die Terrasse (S.25)

Zusätzlich lassen ihre Werke Erinnerungen an Sprachspiele und –reflexionen, an wittgensteinsches Philosphieren in der deutschen Lyrikgeschichte aufkommen. Auch lassen sich Parallelen zu Gertrude Steins „Rose is a rose is a rose is a rose“ aus dem Gedicht Sacred Emily ziehen, wenn Hilber beispielsweise schreibt: „es ist das Boot nie ein Boot für / sich selbst gewesen“ (S.28). Die Neuerfindung der Titel im Langgedicht Brandenburg geben gewollt oder ungewollt Sinn, ebenso die linksbündigen Einwürfe können zusammengelesen eine mögliche eigene Aussage ergeben und Leseart darstellen:


anfangs
kanntest du einen
gewachsen wie
Sonnen
Vermeldung in der
Kancelária:
(…)
und wieder das rote
Messingschild:
Kancelária
(…)
P.S.
Gruß aus Lviv


Sie verwebt ganz im Stil der Lyrik unsrer Zeit verschiedene Sprachen gekonnt ineinander, wie im letzten Langgedicht Friaul kursiv gesetzte Wörter die Zeilen in Friaulisch wiederholen.
Auch thematisiert sie das Reisen an sich – ganz dem Genre der Reisepoesie entsprechend  –  in Zeilen wie „meine Heimat ist mein Körper / ihm folge ich überall hin“ (S.64) oder

nur weg von der Verrichtung weg vom
Selbst hin zum anderen Leben
das eine Fata Morgana ist (S.21)

Binnenreimspiele und Alliterationen dominieren die Reimstruktur der sonst gänzlich in freien Rhythmen gehaltenen Werken:


wurde rot und roter
war Dung und Wunder (S.40)


Eine Gedichtzeile bleibt eine Gedichtzeile bleibt eine Gedichtzeile bleibt....

Siljarosa Schletterer

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C. H. Huber: Milzschnitten und andere Leckereien
 Innsbruck: TAK 2016

Im Reigen von Eros und Thanatos

© TAK Innsbruck 2016Eine einfache Suppeneinlage der klassischen altösterreichischen Küche ziert das Titelbild von C.H. Hubers neuem Erzählband „Milzschnitten und andere Spezialitäten“. Damit wird schnell klar, wir befinden uns inmitten gutbürgerlicher österreichischer Biederkeit. Einer Biederkeit, die entlarvt, demaskiert und zielsicher karikiert wird. Die traditionelle Küche – von Gerstensuppe über Gulasch mit Polenta bis hin zu Gröstl und Paunzen – ist nur eine von mehreren ‚Zutaten‘ dieses Erzählbandes, der die kleinen Alltagsbanalitäten und Beiläufigkeiten, aber auch großen Täuschungen und Enttäuschungen des Lebens thematisiert. Immer im Zentrum der Handlungen: die existenziellen Triebfedern menschlichen Daseins, Eros und Thanatos. Eros zieht sich mit dem Begehren und dem freizügigen, manchmal – im langjährig geteilten Ehebett – auch nur gewohntheitsmäßigen Ausleben der Sexualität leitmotivisch durch die Erzählungen. Auch der Tod ist in all seinen Facetten präsent. Vom erwarteten und nahenden Tod, dem ersehnten und erlösenden Tod, vom Glück des noch verpassten Todes und der traurigen Berechnung des herbeigeführten Todes ebenso wie von den düsteren Vorboten des Sterbens – Alzheimer und Demenz als „Sandkörnchen im Gedächtnismotor“ (S. 145) – ist die Rede.

Die Figuren in den Erzählungen stammen aus unterschiedlichen Milieus, aus groß- und kleinbürgerlichen aber auch aus proletarischen Verhältnissen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie ihre Lebensmitte bereits überschritten, ihr ‚Soll‘ erfüllt haben und sich in verschiedenen Stadien des Umgangs mit diesem Zustand befinden. Während die einen resigniert haben, nichts mehr erwarten und einen passiven Beobachtungsposten einnehmen, wollen es die anderen noch einmal wissen. Überbordende Lebenslust und Hedonismus wechseln sich mit aussichtsloser Ergebenheit, frustriertem Lamento und zynischer Kommentierung ab. Dabei erhalten wir Einblick in die Gedankenwelt der weiblichen und männlichen Ich-Erzähler, die in weitschweifigen Gedankenströmen von persönlichen bis hin zu weltpolitischen Themen mäandern und oft den Eindruck von Selbstgesprächen einer Generation erwecken, die zwar genügend Zeit aber nur noch wenig Zuhörer findet. Eine verkürzte Syntax sowie lose Assoziations- bzw. Gedankenketten verstärken den Anschein eines vom Leser belauschten Selbstgesprächs. Wie unterschiedlich die Figuren in ihrer Einstellung und Haltung gezeichnet sind, zeigt sich vor allem im sprachlichen Ausdruck: Der Duktus reicht vom derb-vulgären Ton, der die Herkunft der Figuren aus einfachen Verhältnissen unterstreicht, bis hin zu einer elaborierten bildungssprachlichen Ausdrucksweise.
Die Ich-Erzählerin der Titelgeschichte „Milzschnitten“ macht einen durchaus schmunzeln, wenn die offenbar geistig für eine Seniorenresidenz noch viel zu rüstige Dame in lapidarer Beifälligkeit die Gebrechlichkeiten des Alters unumwunden offenlegt und in sarkastischem Tonfall dem Zusammenhang zwischen Kaffeegenuss und Stuhlgang, den Problemen falscher Zähne und der allzu geschmacksneutralen Kost im Altersheim nachsinnt („Die Küche hier geht für meinen Geschmack wirklich zu sparsam mit Gewürzen und frischen Kräutern um. Will man ein noch häufigeres Verschlucken bei uns alten Tschapperln vermeiden?“ S. 10). Noch lebensfroher und aktiver zeigt sich die weibliche Figur in der Erzählung „Inventar“, in der ein wohlgerundetes fleischfarbenes Polstermöbel zum sexuellen Stimulans der ausgeprägten Libido ihres jüngeren Liebhabers gerät. Die Erzählerin gibt sich zu Beginn als halb belustigte, halb verärgerte Beobachterin der ekstatischen Handlung, deren Anlass – das erotisierende Möbelstück – sie wenig zu verwundern scheint. In Sorge „um die häusliche Sauberkeit durch die gefürchtete Spontanreaktion des Hauptakteurs“ (S. 62) gesellt sie sich schließlich, vorwiegend um unschöne Flecken auf den Textilien zu vermeiden, zu ihrem masturbierenden Liebhaber, nur um sich letztendlich gemeinsam mit ihm auf dem „bedrohten, samtweichen Teppich“ (S. 63) zu wälzen – ein Aufeinandertreffen tugendhafter Häuslichkeit und freizügiger Lebenslust, das satirisch überspitzt auf den Gipfel getrieben wird.
Ein wesentlich ernsterer Blick hinter die heile Fassade einer scheinbar harmonischen Ehe wird hingegen in der Erzählung „Trautes Heim“ geworfen. Mit bemerkenswertem Gespür für die kleinen Alltäglichkeiten fördert C.H. Huber die Langeweile hinter der bis ins Detail eingespielten Routine eines Ehepaars zu Tage, bei dem selbst die Leidenschaft zur pflichtbewussten, einstudierten Wiederholungsübung wird. Das wortkarge Abendessen, der gemeinsame Fernsehabend, sogar der obligatorische Beischlaf, dessen Anbahnung mit dem ritualisierten Tragen des „unbequemen Nachthemds mit den Spaghettiträgern“ (S. 77) erfolgt, bevor sich die Frau wieder in bequemerer Kleidung zu Bett begibt, lassen die begeisterungslose Eintönigkeit erkennen, in der sich dieser Ablauf regelmäßig wiederholt.
Die männlichen Figuren in den beiden Erzählungen „Perspektiven“ und  „Fett“ schwadronieren dagegen in derber, zum Teil rassistischer Sprache vom weiblichen Geschlecht, das auf das Körperliche reduziert und dessen physische Attribute als Objekt des Begehrens bewertet und verglichen werden („Darum mag ich auch Negerinnen nicht, die Negerinnen mit ihrem Fettsteiß, mit den Fettbrüsten, die sie oft haben, mit den Fettlippen, die sie einem überallhin drücken, mit ihren Fettaugen, […]“ S. 129). Dabei begreifen sich die Männer in ihrem Narzissmus als Opfer weiblicher Berechnung, wie sich in den abschätzigen, misogynen Bemerkungen offenbart. Eine Folge mangelnden Selbstbewusstseins, das wiederum mit der Zurschaustellung viriler Potenz, ausgeprägtem Sexualtrieb und machohaftem Auftreten bis hin zur schlagkräftigen Demonstration physischer Überlegenheit kompensiert wird. Die zweifelhafte Wirkung der männlichen Figuren auf das andere Geschlecht, die in Überlegenheitsposen kaschierte Unsicherheit und der daraus resultierende ausgeprägte Hunger nach Anerkennung werden als Schwäche des ‚starken Geschlechts‘ entlarvt.
Eine enorme Brisanz im Hinblick auf die nationalistischen Tendenzen der Gegenwart zeigt schließlich die Erzählung „Gross.Atemlos“. Das Denken eines von hoffnungslosem Narzissmus und Obrigkeitshörigkeit getriebenenen Arztes, der in der Zeit des Nationalsozialismus seine wissenschaftliche Karriere gnadenlos vorangetrieben hat und auch im Alter kein Unrechtsbewusstsein kennt, wird in beklemmender Authentizität geschildert. So gibt sich der greise Arzt selbst angesichts seines nahenden Todes empört über die unzureichende Anerkennung seines Beitrags zur Wissenschaft, für die er buchstäblich über Leichen gegangen ist. Auch hier positioniert sich ein männliches Ich, diesmal aus höherer Bildungsschicht, wie die eloquentere Ausdrucksweise demonstriert, als verkanntes Genie und Opfer gesellschaftspolitischer Entwicklungen.

Mit ihrem Erzählband deckt C.H. Huber schonungslos auf, was man mitunter lieber unter den Teppich kehrt. Sie seziert treffend, was Paare trennt bzw. zusammenhält und karikiert traditionelle Geschlechterverhältnisse mit spöttischem Blick. Sie scheut nicht davor zurück, den Finger in die Wunden fortgeschrittenen Alters  zu legen, zeigt mit ihren Figuren aber dennoch, dass Liebes- und Lebenslust keine Frage des Alters sein muss. Dabei schneiden die weiblichen Figuren, die nicht wie die männlichen von Anerkennungswünschen und Grandiositätsgefühlen getrieben werden, wesentlich besser mit der Gebrechlichkeit des Alters und im Umgang mit enttäuschenden oder unvorhergesehenen Lebens(ver)läufen ab. Die schneidende Satire mag bisweilen sogar irritieren, macht C.H. Hubers Erzählband aber gemeinsam mit der authentischen Schilderung der milieuspezifischen Sprache ihrer Figuren zur lesenswerten Sommerlektüre.

Andrea Margreiter

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Cognac & Biskotten, Talente Nr. 1-3. Anthologie
Mit Texten von Markus Jäger, Christian Klocker, Anja Larch, Nikolaus Neu, Margaritha Riccabona, S. H. Schild, Rafaela Schindlegger, Siljarosa Schletterer und Johannes Wieland
Innsbruck: pyjamaguerilleros 2016

© pyjamaguerilleros 2016Klein sind sie nicht die Ansprüche, die die neue Anthologie des Tiroler Literaturvereins Cognac & Biskotten erhebt. Entsprechend der gleichnamigen Lesereihe Talente betitelt, verspricht sie im Vorwort „Inhalt und Sinn“ statt „oberflächliche[m] Slam-Gepose“. Für alle, denen Cognac & Biskotten kein Begriff ist – dahinter verbirgt sich der „Tiroler Literaturclub mit dem Wow-Aha-Effekt“, ein gemeinnütziger Literaturverein, der seit seiner Gründung 1998 unterschiedlichste Literatur-Projekte verwirklicht. Dazu zählt auch die Herausgabe der gleichnamigen Literaturzeitschrift Cognac & Biskotten, die vor allem für ihre Innovativität – Format, Thema und Präsentationsort wechseln von Ausgabe zu Ausgabe – gerühmt wird.
Jüngster Streich des Vereins ist die Gründung der Lesereihe Talente. An bisher drei Abenden konnten Autorinnen und Autoren, die „bislang noch eher selten in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten waren“ in der Innsbruck Kulturbackstube Die Bäckerei, in der auch immer wieder Poetry Slams ausgetragen werden, ihre Texte präsentieren. Die nun im Kleinverlag pyjamaguerilleros erschienene Anthologie versammelt die Texte dieser drei Abende mit ausgewählten Fotos der Lesungen. Wer bei Talente lesen darf, entscheidet eine fünfköpfige Jury, die in ihrer Auswahl Wert legt auf „Poesie und Tiefgang“, auf eine Vielfalt, die in der effekthaschenden Slam-Poesie oft untergeht, in der der Wettbewerbsgedanke oft zu ermüdender Eintönigkeit hinsichtlich Inhalt, Form und Vortragsstil führt. Und eine solche Auswahl ist der Jury von Cognac & Biskotten in der Tat gelungen – der Band bietet erfrischende Uneinheitlichkeit.
Das lässt sich schon allein an den unterschiedlichen Textsorten festmachen, die er vereint: Gedichte stehen neben Prosa-Miniaturen, Kurzgeschichten neben Romanauszügen. Das Spektrum der Themen, die darin behandeln werden, deckt alle möglichen Facetten menschlichen Lebens ab. Es geht um Liebe und es geht um Hass, um Befreiung und Ausbruch und die Überwindung von Gegensätzen und gestärktes Miteinander, um Tagträumerei und Tagespolitik. Im Band begegnet uns der abstinente Alko-Lenker, der sich nach langer Durststrecke endlich mit dem retournierten Führerschein auf die erste Ausfahrt machen kann, wo ihm ein gehöriger Schreck widerfährt, wir treffen auf die Tochter, die an Jelineks Klavierspielerin erinnert und sich in kafkaeskem Setting von der verstorbenen Mutter befreit, wir erinnern uns, während draußen der erste Schnee fällt, mit dem pensionierten Universitätsprofessor an die Ermordung seiner esoterischen Sekretärin Frau Häflinger und wir lesen vom unglücklich verliebten Ferialarbeiter an der Brenner-Mautstelle Schönberg, der nichts mehr fürchtet, als von seiner mit ihrem Freund aus dem Urlaub zurürckkehrenden Flamme die acht Euro Gebühr entgegennehmen zu müssen.
Viele dieser Geschichten leben von einem Humor, der nicht großspurig auftritt, sondern oft im Verborgenen steckt und häufig erst durch unerwartete Wendungen und Enden evoziert wird. Sicher: Für Wettstreite, in denen es darum zu gehen scheint, dass das Publikum bei jeder Zeile in tosendes Gelächter ausbricht, sind solche Texte nicht geeignet. Doch gerade dies macht die Sammlung so wertvoll, denn sie zeigt: Es geht auch subtil, es geht auch leise. Unterstrichen wird dieser Grundsatz auch durch den Raum, den der Band ernsthafteren Themen lässt: Hier ist ebenso Platz für die Reflexion, das Innehalten, Zu-sich-Kommen wie für die Anprangerung von Missständen und den Appell an Nächstenliebe und Courage. Die Reisende in Peru will es wagen, in die fremde Kultur einzutauchen, die doch auch viel Unheimliches birgt; Gib acht! heißt ein Text, der die Lesenden zu einem Gedankenspiel einlädt: Wie wäre es, schutzsuchend in ein Land zu kommen, dass einem doch nur Misstrauen und Feindseligkeit entgegenbringt.
Sprachlich ist dieses Ensemble von Texten dabei die reinste Polyphonie: Zeichnen sich die einen Texte durch sachlich-nüchternen und klaren Stil aus, klingen die anderen bildhaft und malerisch. Und auch wenn die eine oder andere Metapher überspannt sein mag, das eine oder andere sprachliche Bild zu schillerend, so wird man sich, klappt man das Buch nach den gut hundert Seiten zu, vermutlich eingestehen müssen, dass man wohl lange keine so abwechslungsreiche Unterhaltung genossen hat.

David Winkler-Ebner

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Brigitte Knapp: Aurora. Erzählband
Innsbruck: edition laurin 2015

Die Suche nach dem Leben und die fehlende Magie in den Erzählungen.

© edition laurin 2015“Sie ist eine normale Frau. Sie sucht den Zeitpunkt der Vollendung des Glücks.

Das bedeutet, sie ist nicht unglücklich.

Sie weiß jetzt, dass er überall ist und immer.“

Es geht häufig um den richtigen Zeitpunkt in den acht Erzählungen des Bandes Aurora von Brigitte Knapp. Und es handelt sich meist um ganz „normale“ Figuren, die sich in einem allzu gewöhnlichen Leben befinden, dabei jedoch nicht so sicher sind, ob das alles gewesen sein soll und welche Alternativen es sonst noch geben könnte. Oft stellen sich die Figuren selbst viele Fragen, auf die dann in den Erzählungen keine Antworten folgen:

„Wie sieht er aus, der Punkt, an dem sie zufrieden ist? Der Punkt, an dem sie sich endlich gemütlich in den Sessel setzt, den Kopf an dessen Ohren lehnt und in ihren Seufzer alle Mühen hinein legt, die sie letztens begleitet haben. Was wird da alles beieinander sein? Wer anwesend?“ fragt sich die Frauenfigur in der Erzählung ZeitPunkte. Sie lebt gemeinsam mit ihrer Tochter, vermisst ihren verstorbenen Mann und hat immer Hunger. Hunger nach Leben, nach einem anderen Leben als dem, das sie lebt. Während sie am Ufer des Flusses sitzt und über mögliche Veränderungen in ihrem Leben nachdenkt, gesellt sich eine viel jüngere Frau zu ihr und es entsteht eine Vertrautheit zwischen den beiden Figuren. Etwas bewegt sich in ihnen, auch wenn nach außen hin alles still zu stehen scheint. Die Figuren wissen vom Glück, einander begegnet zu sein und vielleicht im anderen neue Gedanken ausgelöst zu haben. Eine Aufbruchsgeschichte ist auch die Erzählung At the end of the album, die sich auf das Album Aurora bezieht, woher der Name des Erzählbandes rührt. In diesem Text wird das Leben aus der Sicht einer jungen Ich-Erzählerin betrachtet. Wie mehrere der Geschichten von Brigitte Knapp verläuft diese entlang binärer Konzepte, die in Opposition zueinander stehen: Macht und Ohnmacht, Problemlosigkeit und Probleme, Frieden und Krise, früher und heute. Die Figur bewegt sich gegenwärtig in der schwierigeren Situation, glaubt sie jedenfalls. Erst im Vergleich mit ihrem aus Afghanistan geflüchteten Freund Zaher spürt sie ihr Glück. Und doch diese Ohnmacht, die ihr bleibt und die der Sänger Verneri Pohjola ihrer Ansicht nach so genial in die Musik übersetzen konnte: „Woher wusste Verneri Pohjola, wie mein Leben klingt?“  Am Ende der Erzählungen gibt es häufig ein Happy-End, eine Aufbruchsstimmung, eine Wandlung. Das klingt dann zu einfach, zumal die Geschichten, die erzählt werden, abseits mancher dichotomischer Strukturen inhaltlich doch vielfältiger sind, als dass sie sich so einfach auf eine glückliche Lösung, auf einen guten Gedanken, auf eine warme Geste zusteuern ließen. „Narben machen Menschen interessanter, dachte Leonhard. Und gut, dass er diese Arbeit als Kunstwerkbewacher bekommen und angenommen hatte“. Dies sind die Gedanken, die beispielsweise Leonhard, einem arbeitslosen Mann am Ende der Erzählung zugeschrieben werden. Er hat den Job vermittelt bekommen, ein Kunstwerk zu bewachen, das er anfangs für nutzlos hält, in dem er aber zusehends sich selber erkennt.

Alle Texte sind in zahlreiche kleinere und größere Abschnitte eingeteilt, wobei manchmal bereits zwei Sätze einen Paragraphen ausmachen. Dies mag den brüchigen, zweifelnden Figuren entsprechen, kommt aber den Erzählungen als Ganzes nicht immer entgegen. Der Lesefluss wird dadurch immer wieder unterbrochen und es ist wenig Raum für eine poetische Atmosphäre, die die Figuren  und ihre Geschichten unvergesslich machen würden. Zu selten dringt die Poesie durch, wie etwa im zweiten Teil der Erzählung Masken und Spiegel. Der Text beginnt sehr salopp, in einer Alltagssprache, wechselt dann abrupt in ein anderes Stilregister, so dass die Erzählung fast daran zerbricht. Der Wechsel von Erzählperspektiven ist nicht immer nachvollziehbar und scheint in mehreren Texten grundlos. Ebenso führt die Entscheidung für die vorwiegend parataktischen Satzstrukturen in Knapps Erzählungen oft dazu, dass die Figuren und die Geschichten zu wenig plastisch werden und dass der Leser am Ende einer Erzählung das Gefühl hat,  mit einer ihm nicht ausreichend vorgestellten Figur und einer angerissenen Geschichte allein zurückgelassen worden zu sein.  Zuweilen muten die Geschichten wie erste Versionen an,  zumal sie der Realität sehr nahe stehen und sprachlich oft kaum verdichtet sind – so beispielsweise die Darstellung der Telefonkontakte in der Erzählung Who the fuck is Alice?:

„Mein Handyverzeichnis weist ca. 100 Telefonnummern auf (meine eigene nicht gespeichert, weil ich sie mir merken kann). Ca. fünf davon wähle ich regelmäßig. In meinem Adressbuch befinden sich gut weitere 100 Nummern. Darin blättere ich relativ häufig und dabei bleibt es oft.“

Brigitte Knapps Erzählband Aurora ist ein Buch, dem mehr Poesie und weniger Alltag gut tun würden.

Barbara Siller

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Martin Kolozs: Sommer ohne Sonne. Roman
Hohenems, Wien, Vaduz: Bucher 2016

© Bucher 2016„Hast du auch nichts vergessen?“ – So harmlos Martin Kolozs seinen jüngsten Roman auch eröffnet, so schnell kann man erahnen: Etwas viel Schwereres, als der Anfang vermuten lässt, ist liegengeblieben und harrt in dem beschaulichen norwegischen Ferienhaus der Erinnerung. Der renommierte Theaterkritiker Martin Sauerwein verbringt dort den Sommer – in diesem Jahr jedoch nicht allein, sondern im Beisein einer jungen Biographin, nach deren Abreise seine Gedankenwelt aus den Fugen gerät: Nie verarbeitete Erlebnisse, die er der Autorin seiner Memoiren verheimlicht hat, tauchen als Geister der Vergangenheit auf; er, der jahrelang geschwiegen hat, „als fürchte er mit nur einem Wort zu viel, einen Dämon oder anderen Höllenhund zu entfesseln und nicht wieder einfangen zu können“, muss nun einsehen, dass er dem Verdrängten nicht länger entkommen kann. Mit der Erinnerung aber kommen die Zweifel, brennende Fragen nach der Richtigkeit und dem Sinn des eigenen Tuns: So wird aus der bescheidenen Geschichte eines reifenden Mannes mehr und mehr ein Roman über das Schicksal, der Suche nach einem erfüllten Leben und das Recht darauf, dieses selbst zu beenden.
Tiefes Verständnis für diese großen Themen zeigt nur die in Sauerweins Gedächtnis lebendig werdende Freundin, die alte, fast stereotypenhaft weise Cäcilia – ihr stehen die Figuren der Gegenwart gegenüber, aus denen sich ein konfliktgeladenes Beziehungsgeflecht ergibt: verletzliche Frauen, die den angesehenen Theaterkritiker Klischee-gemäß wild begehren, ein eifersüchtiger Ehemann, der zwielichtige (in seiner Authentizität wohl am besten gelungene) Handlanger Arne, und vor allem der unnahbare Sauerwein selbst, der sich, aus Angst vor dem eigenen Versagen, in schwierige Liebschaften flüchtet. Die eigentliche Handlung aber besteht aus bruchstückhaften Erinnerungen, die auch die Struktur des Textes prägen: Erst allmählich erfährt der Leser von Sauerweins einschneidenden Begegnungen – das Verfahren, das Geschehen nur langsam und unter Missachtung der Chronologie zu entrollen, trägt ebenso wie die eingeflochtene Kriminalgeschichte dazu bei, die Spannung aufrechtzuerhalten. Vieles ist dabei zu knapp und zu vage erzählt, um in einen größeren Sinnzusammenhang eingeordnet zu werden – dennoch ist man dankbar für die Aussparungen, wenn mit dem Verzicht auf Erklärungen und Wertungen vermieden wird, dass moralisch-belehrende Töne überhandnehmen.
Szenische, mit norwegischen Einsprengseln versehene Dialoge, vor allem aber die genauen Beschreibungen von Mimik, Gestik und Sprechweise der Figuren verdeutlichen die Komplexität der zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen Wichtiges unausgesprochen bleibt und nur in subtilen Andeutungen erkennbar wird – Kolozs Bemühen, Inquit-Formeln zu variieren („blaffte“, „lächelte beinahe angewidert“, „schnitt ihm das Wort im Mund ab“, „prustete […] spöttisch“) lässt den Text aber ebenso wie die vielen Vergleiche („lakonisch im Brustton eines südamerikanischen Großgrundbesitzers“, „rollte dabei mit den Augen, wie ein Orakel, das in die Zukunft blickt“, „grinste […] zufrieden wie ein dicker Kater“, „[n]eugierig wie eine Eule“, „glitt aus dem Bett, wie über eine Notrutsche“) oft umständlich gezwungen wirken. Sprachlich besser gelingen dem Autor die Naturbeschreibungen, mit denen er die raue nordische Landschaft mit ihren Fjorden und Küsten nachzeichnet. Regen und Sturm werden zum Symbol für die inneren Zustände der Hauptfigur, wobei eine schlichte, klare Sprache, mit der Kolozs Naturphänomene einfängt, zumindest ab und zu verhindern kann, dass der Text in Sentimentalität abgleitet: Von dem Geruch des Fallobstes, den Weißwangengänsen und dümpelnden Eiderenten, den gegen die Häuser schlagenden Böen und den klappernden Wellblechdächern der Schiffshütten möchte man sehr gerne mehr lesen.

Maria Piok

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Elisabeth Malleier: Rabenmutterland. Mit einem Vorwort von Martha Verdorfer
Meran: alphabeta 2016

© alphabeta 2016Rabenmutterland ist ein Buch, das der Frage nachgeht, wie historische Zäsuren und gesellschaftliche Krisen auf das Leben jener wirken, die nicht zu den Besitzenden und Mächtigen gehören, deren Aktionsradius eingeschränkt ist und die somit rascher als andere zu Opfern der Verhältnisse werden. Es ist ein Buch, das sich mit wissenschaftlicher Akribie und Empathie Angehörigen der Unterschicht in Südtirol widmet – einer gesellschaftlichen Schicht also, die kaum je ins Licht gerückt wird. Und es ist ein Buch, das einmal die Frauen in den Vordergrund stellt: Elisabeth Malleier begibt sich auf Spurensuche und rekonstruiert die Geschichte ihrer beiden Großmütter – dabei ist ihr Augenmerk besonders auf die Optionszeit gerichtet. Die Autorin – Jahrgang 1961 und in Meran aufgewachsen, nach eigenen Angaben als Angehörige des akademischen Prekariats in Wien tätig – findet in ihrem Buch unterschiedliche Zugänge, die sie parallel anlegt und manchmal auch gegeneinander stellt. Der Großteil des Textes ist erzählte Geschichte, ergänzt durch Fotos aus dem Familienalbum. Dieser Hauptstrang ist sachlich ausgerichtet, doch er bleibt nicht anonym – der persönliche Blickwinkel und die Umstände der vorausgehenden Recherche werden offen gelegt. Die Erzählung wird von Fakten und Zahlen ergänzt, diese Abschnitte geben Auskunft z.B. über das Optionsgebaren, die Auswanderungsbewegungen, über das Fürsorgesystem im Nationalsozialismus oder die Rücksiedlung und den Sozialstaat der 1960er Jahre. Die dritte Ebene ist außergewöhnlich: Wiederholt werden subjektiv und in Ich-Form geschriebene Passagen (in Kursivschrift) eingeschoben, sie geben Kindheitserlebnisse und weitere Entwicklungsschritte der Autorin, persönliche Erinnerungen und Reflexionen wieder. Es sind quasi Bruchstücke der eigenen Biographie, die deutlich machen, dass schmerzhafte Zäsuren und Erfahrungen in einem Leben an die Kinder und Enkel weitergegeben werden. Bei Malleier ist diese Perspektivierung nicht bekenntnishaft, sie dient vielmehr einer politischen Aussage, die gegen Ende des Buches auch mitgeteilt wird:

Das „Zwitterwesen“ dieses Textes als einerseits wissenschaftliche Abhandlung und zugleich auto/biographische Erzählung kann als Ausdruck struktureller Gewalt gesehen werden, als Graben, der die Wissenschaft und die Erfahrungen der sogenannten Unterschicht voneinander trennt. Daher gibt es hier auch keine harmonische Überbrückung dieser beiden unterschiedlichen „Kontinente“. Dies kann als ein Scheitern, ein Versagen gedeutet werden, zugleich ist es aber auch die Weigerung den Preis zu zahlen, den die Überbrückung dieser Kluft bedeutet, nämlich das vollständige Zurücklassen und die Verleugnung des eigenen sozialen Herkommens – der endgültige „Seitenwechsel“. (S. 140)

Damit ist auch eine Textqualität angesprochen, die jenen Leserinnen und Lesern, die nicht nur historisch interessiert sind, entgegenkommt. Elisabeth Malleier erzählt engagiert und keineswegs distanziert, sie teilt die eigene Innensicht und versucht, sich auch dem Empfinden ihrer Protagonistinnen anzunähern. Das macht das Buch abgesehen vom Informationsgehalt gut lesbar und passagenweise sogar fesselnd.

Was hat sich zugetragen? Wie folgt eines aufs andere? Was genau ist damals geschehen und wie konnte es dazu kommen? Welchen Zwängen waren meine Großmütter ausgesetzt, als sie für Hitler und damit für die Auswanderung ins Deutsche Reich optierten? Und welche Folgen mussten diese Frauen und ihre Kinder tragen? Fragen wie diese standen offenbar hinter den Recherchen, die die Autorin in italienische und österreichische Bibliotheken und Archive, aber auch zu den Menschen, die noch Antworten auf ihre Fragen haben konnten, führten. Beide Großmütter, Anna und Rosa, waren Optantinnen und Rücksiedlerinnen, und beide waren arm. Die eine war ledige Mutter, die andere eine Witwe mit drei Kindern. Diese Frauen mussten selbst entscheiden, ob sie ‚bleiben‘ wollten oder ‚gehen‘ würden, es war eine vielleicht von Hoffnung geleitete Entscheidung zwischen zwei diktatorischen Regimes, dem Nationalsozialismus und dem italienischem Faschismus: „Die Großväter gab es nicht“, schreibt Malleier (S. 140), aber auch die Väter, so wird sich im Verlauf der Erzählung zeigen, waren abwesend, sie blieben unbekannt oder entzogen sich ihrer Verantwortung, z.B. durch Alkoholismus.

Je eines von Rosas und Annas Kindern finden im Jahr 1961 zueinander und werden wiederum zu Eltern, es sind Hermine und Ernst, die Eltern der Autorin. Schon das ‚Weggehen‘ hat die wirtschaftliche und soziale Situation ihrer Mütter nicht verbessert, Option und Umsiedlung haben sich, wie Malleier schreibt, „nicht zuletzt als nachhaltige Zerstörung familiärer und sozialer Strukturen“ (S. 111) ausgewirkt. Viele Familien wurden auseinandergerissen und ideologisch gespalten, so etwa in Annas Fall, deren 10 Geschwister entweder im Land blieben oder sich über ganz Österreich verstreuten. In der ‚neuen Heimat‘ waren die Südtiroler Optanten oft ‚die Fremden‘, manche wurden von den Einheimischen ausgegrenzt und auf dem Arbeitsmarkt ausgebeutet. Die Rücksiedlung brachte erst recht kaum zu überwindende Schwierigkeiten mit sich, nicht zuletzt wurden die Optanten vielfach als ‚Verräter‘ gesehen und in der ‚alten Heimat‘ nicht willkommen geheißen. Die Folge ist: Hermine und Ernst waren traumatisierte Kinder, die Not, Ausgrenzung und große Unsicherheit erfahren haben. Wie sollten sie zu Eltern werden, die ihre Aufgaben meistern konnten?

Der Krieg setzt sich in den Nachkommen fort, Gewalt wird durch staatliche Verträge und Abkommen nicht aus dem Gedächtnis und vor allem nicht aus den Körpern und Empfindungsmustern der Menschen verbannt. Vor allem dann, wenn diese Gewalt keine Bewusstheit erfährt, wenn sie verschüttet bleibt, nimmt sie lediglich eine andere Form an, und manchmal nicht einmal das. Das Scheitern, die Angst, die Ohnmacht – sie werden zum ‚Normalzustand‘, zum nicht mehr hinterfragten und oft auch zum bewusst verschwiegenen Leid.

Einzig Hermine, die Mutter der Autorin, besaß die Fähigkeit, die eigene Situation zu verändern, zumindest im kleinen Rahmen. Sie konnte sich aus dem Allerschlimmsten herausziehen und alleine, in einer bestimmten Phase ihres Lebens notgedrungen auch ohne Kinder, weitermachen und ihr Leben stabilisieren, und das trotz schwerer psychischer Probleme. Doch Elisabeth Malleiers Text macht es deutlich: Nicht die einzelne Frau, nicht Hermine ist eine sogenannte Rabenmutter, es sind die Verhältnisse, das Land nämlich mit seinen restriktiven Gesetzen und eingeschränkten Möglichkeiten, die ‚ihre Kinder‘ einmal hin und herschieben, ein andermal im Stich lassen. 

Das Buch fordert da und dort von den Leserinnen und Lesern einige Geduld: Man muss sich durch verzweigte (und auch ‚gebrochene‘) Familienverhältnisse durcharbeiten und behält diesbezüglich nicht leicht den Überblick. Doch das brennende Anliegen der Autorin ist durchwegs spürbar und hält bei der Stange. Die Option ist ‚historisch aufgearbeitet‘, es gibt viele gute Bücher über diese Zeit, einige von ihnen bieten einen subjektiven Blickwinkel, sie berichten über Einzelschicksale oder lassen Betroffene zu Wort kommen. Obwohl es das alles gibt, möchte man auf Rabenmutterland nicht verzichten, denn das Buch ist nicht nur engagiert, sondern auch wohltuend ehrlich. Es versucht nicht, die Lücken zu schließen oder die Brüche zu überbrücken, es will aus dem Leben der betroffenen Menschen keine ‚Biographie‘ machen, es will keine ‚Wahrheit‘ erzählen und verweigert sich einem pseudoobjektiven Wissenschaftsanspruch. Auch die Wissenschaft, so Malleier, konstruiere Wirklichkeiten, auch eine sogenannte Dokumentation sei eine „Art von Fiktion“ und womöglich sei „die Literatur mit ihrer potentiellen Offenheit der Deutungen von Wirklichkeiten“ präziser als alle Wissenschaft. (S. 141)

Rabenmutterland ist als Collage angelegt, das Buch bleibt „fragmentarisch, enthält Lücken und Leerstellen“ (Verdorfer, S. 12). Genau wie die Lebensgeschichten, die darin erzählt werden.   

Erika Wimmer

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Waltraud Mittich: Micòl
Innsbruck: edition laurin 2016

© edition laurin bei innsbruck university press 2016Dass Bücher mit ihren Möglichkeits- und Reflexionsräumen Leben beeinflussen, vor allem vertiefen können, diese Erfahrung kennt wohl jede Leserin, jeder Leser. Einzelne Bücher können Wegbegleiter sein über ein ganzes Leben, über große Zeiträume hinweg, damit so etwas wie ein Kontinuum herstellen in Lebenserzählungen. In Waltraud Mittichs jüngstem Buch Micòl ist es Giorgio Bassanis 1962 erschienener Roman Die Gärten der Finzi Contini, der die junge Frau, die die Erzählerin einmal war und die alte Frau, die die Erzählerin zum Zeitpunkt ihres Erzählens ist, gleichermaßen beschäftigt. Bassanis autobiographisch gefärbter Roman erzählt rückblickend die Geschichte einiger jüdischer Jugendlicher aus Ferrara Ende der 1930er Jahre. Als der städtische Tennisclub die jüdischen Mitglieder ausschließt, öffnet die vornehme Familie der Finzi Contini ihre bis dahin geschlossenen Gärten. Einen Sommer lang treffen sich hier die Kinder des Hauses, Micol und Alberto, der Ich-Erzähler, der sich in Micòl verliebt, und einige andere, um gemeinsam Tennis zu spielen. Schon zu Beginn des Romans erfährt der Leser, dass die Familie der Finzi Contini die faschistische Ära nicht überleben wird, Micòl und ihre Eltern 1943 deportiert werden. Mittich greift die Figur der Micòl auf und schreibt deren gewaltsam abgebrochenes Leben fort, schreibt ihr ein mögliches Leben auf den Leib, denn für die Erzählerin gilt […] das Postulat: nichts ist wirklicher als das Mögliche.

In wechselnden Erzählperspektiven wie literarischen Formen und durchbrochen von metafiktionalen Passagen werden Momentaufnahmen auf Micòls mögliches Leben geworfen. Dabei wird einen Zeitraum umspannt von mehr als einem halben Jahrhundert Geschichte, beginnend bei der kurzen Rückkehr Micóls nach Ferrara und Venedig 1946 bis zu ihrem Tod in Vukovar Ende des 20. Jahrhunderts. Mit Micòl entwirft Mittich eine Frauenfigur, die, zurückgekehrt aus der Hölle, sich nicht in vermeintlichen Sicherheiten einrichten kann und will, kompromisslos und radikal nach eigenen Wegen sucht. Die Autorin zeichnet sie als Allein- und Vorausgeherin, als Grenzgängerin und Vergine (deren Paradiese andere sind als die der vielen anderen, die lebt nicht zu gefallen), denn, so heißt es einmal,  mythische Frauengestalten brauchen wir, Verginen, die Legendenbildung erzwingen. Die fiktive Lebensgeschichte der Micòl wird in Beziehung gesetzt zu anderen biographischen Bruchstücken vor allem von Frauenleben, wobei es kühne Lebensentwürfe sind, die Mittich zu interessieren scheinen. Neben Frauenfiguren, die nur punktuell ins Textgewebe eingefügt werden, etwa Rahel Varnhagen oder Giuni Russo, sind vor allem Emily Dickinson und ihre Gedichte zentrale Bezugsgrößen des Textes. Was Emily und Micòl, schon bei Bassani ist diese Verknüpfung angelegt, aus der Perspektive der Erzählerin unter anderem verbindet, ist das Alleinsein und das Spiel mit den Rollen [...]. Denn Alleinsein bedeutet sich Ausloten müssen. Was alle eingeführten Figuren darüber hinaus verbindet, ist, dass sie sich, sei es künstlerisch, sei es ganz konkret, produktiv einbringen in die Welt, gestaltend tätig sind, denn es geht der Autorin nicht nur um ein Ausloten der Vielzahl von Facetten weiblicher Identität, vielmehr auch um die entscheidende Rolle, die sie Frauen zudenkt in gesellschaftspolitischen Prozessen. Durch die assoziative Verknüpfung von Lebenslinien und Motiven, denen nachgespürt wird, wird das Neuland der Frauen poetisch zum Schwingen gebracht. Dabei gibt der Text keine Antworten, wirft vielmehr Fragen auf, zeichnet einen Weg der schöpferischen Suche: Ich bin immer bloß einen Schritt davon entfernt, in die Sicherheiten abzustürzen. Sie würden mich mit offenen Armen auffangen. Aber ich bin auf dem Weg zu den neuen Orten, auch wenn die Hinweisschilder fehlen. Ich erwarte nichts. Denn wer sich etwas erwartet, wartet auf das Alte. […] Mein Feld ist die Imagination. Und so mische ich die Zeiten, bin Demiurgin. Die Gegenwart bloß als Vergangenheit der Zukunft zulassen. Das ist ein neuer Weg. Ich sage nicht, dass er richtig ist. Ich sage, dass ich baue und gehe.

Mit Micòl wählt Mittich eine literarische Figur, die – bei Bassani erschließt sie sich ausschließlich aus der Perspektive des (liebenden und heftig begehrenden) Erzählers – seltsam rätselhaft bleibt, die ihr Geheimnis nicht Preis gibt. Gerade ihre Unbestimmbarkeit macht diese Figur so faszinierend und eine produktive Aneignung überhaupt erst möglich. Immer wieder hinterfragt die Erzählerin den von ihr beschrittenen Weg Micòl fortzuschreiben, spricht in diesem Zusammenhang etwa von Anmaßung und stellt einmal fest, das Leben dieser jungen Frau weiter zu schreiben, ist ohne Absturz in die Banalität nicht möglich. Tatsächlich verliert der Text an manchen Stellen an literarischer Dichte, wenn Micòl allzu deutlich als Trägerin kulturkritischer Positionen fungiert. Letztendlich scheint es aber der Autorin vor allem darum zu gehen, Zeitfragmente aufzuzeigen, vor deren Hintergrund eine zeitgenössische Standortbestimmung möglich ist. Die Notwendigkeit von Erinnerung ist das eigentliche Generalthema des Romans, der leitmotivisch wiederholt: Die Vergangenheit ist eine Zeit, die nicht vergeht. Und wer könnte besser durch den Garten der Erinnerung führen als Micòl? In diesem Sinne liest sich Mittichs Text auch als Plädoyer für die Literatur, die, verdichtet im zentralen Bild des Gartens, als Ort des Widerstands und der Erinnerung verstanden werden kann und gerade durch ihre Mehrdeutigkeit zu sensibilisieren vermag für Wirklichkeiten, die anders nicht zugänglich gemacht werden könnten.

Mittichs Prosa ist eine, vielstimmig und vielsprachig, die stets bemüht ist eindimensionale Perspektiven aufzubrechen, in der Wirklichkeit und Fiktion, Literatur und Leben, Vergangenes und Gegenwärtiges einander durchdringen, und die gerade, indem sie sich für das Hergekommene,  Tradierte wie Vergessene interessiert, offen und neugierig ganz auf das Gegenwärtige und Kommende gerichtet ist.

Iris Kathan

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Hans Platzgumer: Am Rand. Roman
Wien: Zsolnay 2016

Abgrundtief

© Paul Zsolnay 2016Es ist der 11. Oktober 2012, 9:38 Uhr: ein kühler, bewölkter Donnerstag. “Präzise will ich jetzt sein, alles andere wäre Zeitverschwendung”, notiert Gerold Ebner, der Ich-Erzähler dieses Romans, auf die gewellten karierten Seiten eines Schreibblocks, der, eingepackt in eine Plastiktüte und eingeschlossen in einer verbeulten, bronzenen Schatulle, eigentlich ein Gipfelbuch ist. Wir befinden uns auf dem Bocksberg, einem schroffen Fels, unterhalb des Gipfelkreuzes auf einer jäh abfallenden Felskante. Zwölf Stunden später: “Es ist 21:38 Uhr. Stockdunkel. Um mich herum die Nacht. Einen einzigen Schritt muss ich noch tun.”
Damit enden das Seitenkonvolut (und der Roman), die Finger sind steif vor Kälte, der übrige Körper durchfroren. Ob dieser erst 42-jährige Protagonist, ratlos vor der Zukunft, diesen letzten Schritt setzt, bleibt offen. Aber im Schreiben hat er seiner eigenen Vergangenheit nachgespürt und sich auf Stefan Zweig bezogen, der im brasilianischen Exil Die Welt von gestern beschrieb: “Und kurz nach seinem Augenzeugenbericht wählte er den Freitod. Genug war auf ihn eingewirkt worden, mehr als ein Mann verkraften konnte. Sich selbst und seiner Frau verabreichte Zweig die Überdosis. Auch ich hätte mir das mit Elena vorstellen können.” Diese, seine langjährige Lebensgefährtin, ist freilich bereits fünf Monate vor diesem Moment in den Tod gestürzt, an den Felshängen des Breitenbergs. Mit sich riss sie die dreijährige Sarah, ein Mädchen, welches das kinderlose Paar in einem Formule-1-Automatenhotel in Valence aufgegabelt und mit nach Bregenz genommen hatte.
Der Tod ist im Roman des aus Innsbruck gebürtigen und in Bregenz lebenden Hans Platzgumer stets ein hochdramatisches Finale. Sein Protagonist hat ihm mehrfach in die Augen geblickt. Damals als er Ende 1994 seinen maroden Großvater mütterlicherseits, einen charakterlosen “Monarchen”, kühl abwägend erstickte; damals, viel früher, als sie, Peter, Guido und er, Jugendfreunde aus der Südtiroler Siedlung, vom Ausleger eines Krans dreißig Meter über dem Boden baumelten: “Einen Sturz vom Kran hätten wir genauso nicht überlebt wie Sascha seinen Sturz von der Autobahnbrücke.” Jahrzehnte später, als Gerold ebendiesem Guido, dem eine hochkonzentrierte Lauge am Bau Kehlkopf und Speiseröhre zerfressen hat, Sterbehilfe leistet: “Endlich gibt er sich dem Tod, mir, hin.” Und schließlich der erste Tod in Kindesjahren, als ihn die Mutter “mit Gewalt aus der Guflergruft hinausschieben” musste, in welcher der Nachbar als Mumie verrottet ist, so lang saß er tot vor dem Fernsehapparat: über ein Jahr!
Es gibt also gute Gründe, warum diese Konfessionen makabre Todesschatten inszenieren, welche die Sinnleere der Lebenden vorausgeworfen hat. Das Leben seines Protagonisten erfüllt Platzgumer freilich auch mit lichten Momenten: Die Kindheits- und Jugenderinnerungen aus den 1970er- und 1980er-Jahren erreichen eine authentische Unbefangenheit, die Beziehung zu Elena ist eine subtile Romanze aus den 1990er-Jahren, die Beschreibung der schriftstellerischen Versuche eine mit kluger Ironie ausgeführte praktische Poetologie, und was wir über Gerolds Schulkollegen Hansi Platzgummer und dessen Vorfahren im Südtiroler Glurns erfahren, hat etwas von Invektiven Bernhard’schen Zuschnitts. Später macht Gerold diesen Hansi zur Hauptfigur seines zweiten Romanversuchs: “eine dürre, blasse Gestalt, die jeder von uns ‚Skelett‘ nannte, ein Eigenbrötler, der lieber im Keller Gitarre spielte, als mit uns auf der Wiese zu kicken.” Der reale Hans Platzgumer hat die Memoiren dieses Musikers unter dem Titel Expedition 2005 längst abgearbeitet. Zuletzt erschien von ihm, nach drei Romanen, ein Musikerroman unter dem Titel Korridorwelten (2014). Sein neuer Roman lässt einen nun nicht mehr automatisch nach dem legendären Musiker Platzgumer schielen, der dieser Autor einst war. Ein Schriftsteller, der sich vom Musiker emanzipiert: Diesem Ziel ist er mit seinem bislang überzeugendsten Roman näher gekommen. Und bei seinem Ehrgeiz und seiner Konsequenz wird er es vermutlich erreichen.

Bernhard Sandbichler

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Annemarie Regensburger (Hg.): „Eppes tuet sig“ . Neue Tiroler Dialektgedichte von Maria Koch, Angelika Polak-Pollhammer, Ingeborg Schmid-Mummert
Innsbruck: Kyrene 2016

© Kyrene 2016„Eppes tuet sig“ – Etwas tut sich also im Bereich der Dialektlyrik. Der im Kyrene Verlag erschienene Band macht nicht nur mit seinem mit bunten Farbklecksen versehenen Einband auf sich aufmerksam. „Neue Tiroler Dialektgedichte“ verspricht der Band, herausgegeben von der Imsterin Annemarie Regensburger, die sich bekanntlich seit etlichen Jahren in ihrem Schreiben mit dem Dialekt als Literatursprache auseinandersetzt und sich in ihrem Tun auch als Fördererin einen Namen gemacht hat. 2003 gründete sie in Imst die Plattform Wortraum für Oberländer Autorinnen, aus der nun auch die Beiträgerinnen des Bandes Maria Koch (neben Regensburger Mitbegründerin der Plattform Wortraum), Angelika Polak-Pollhammer und Ingeborg Schmid-Mummert hervorgehen. Die Autorinnen stammen aus Obsteig, Imst und dem Ötztal, wo sie längst keine unbekannten mehr sind. Mit Publikationen wie z.B. „Ehe der letzte Schornstein fällt. Südtiroler Familien und ihr fremdes Zuhause“ (Angelika Polak-Pollhammer gemeinsam mit Annemarie Regensburger, EYE Verlag 2014) oder Veröffentlichungen in österreichischen Literaturzeitschriften, fielen die Autorinnen aus dem Oberland, die sowohl in Schriftsprache als auch im Dialekt publizieren, aber schon seit einiger Zeit auch außerhalb ihres Umfeldes auf.
Mit dem vorliegenden Band melden die Autorinnen sich nun mit einem starken Zeichen für die Dialektdichtung zu Wort. „Warum heute im Dialekt schreiben“, fragt die Herausgeberin Annemarie Regensburger in einem Nachwort zum Band. Für Regensburger ist der Dialekt „für die meisten Tirolerinnen und Tiroler immer noch Muttersprache im eigentlichen Sinn des Wortes“. In diesem Zusammenhang sei „der Dialekt sozusagen die Sprache des Herzens, des Gefühls, der Emotionen, mit der die Menschen Heimat verbinden.“ „Werden Menschen ihrer Muttersprache beraubt“, so schreibt Regensburger kämpferisch, „verlieren sie ein Stück ihrer Identität.“ „Muttersprache“, „Sprache des Herzens und der Emotionen“, Verbundenheit mit „Heimat“ – all dies sind Zuschreibungen, die sich mit dem Dialekt in Verbindung bringen lassen und doch liegt in ihnen auch das, was Sprache an sich ausmacht. Weiter fassen ließe sich in Bezug auf den Dialekt nicht nur der Heimatbegriff. Nicht erst seit der so genannten „Flüchtlingskrise“ leben Menschen in den Tiroler Städten, Dörfern und Tälern, die in gewisser Weise ihrer Muttersprache, ihrem Heimatland „beraubt“ wurden und mehr als „ein Stück“ ihrer Identität verloren haben. Sie müssen lernen, mit einer neuen Sprache umzugehen und wenn sie es geschafft haben und bei uns „heimisch“ werden, dann wird man sie nicht immer nur in Schriftsprache sprechen hören. Die neu erlernte Sprache wird vielleicht eine andere tonale Färbung haben, aber sie werden „ih“ statt „ich“ sagen oder „it“ oder „nit“ statt „nicht“, je nachdem, wo (z.B. in Tirol) sie ihr neues Leben begonnen haben. Und doch wird die Sprache ihres Herzens möglicherweise immer eine andere bleiben, nämlich die ihres Herkunftslandes. Ohne Frage würde ein Migrant, eine Migrantin, die beginnen würde, im – beispielsweise – Tiroler Dialekt zu schreiben, einen gänzlich neuen Blick auf dieses sprachliche Feld werfen. Abgesehen davon stellt sich die Frage, ob der Dialekt als Ausdrucksform vielleicht auch ohne schwerfällig anmutende Zuschreibungen, wie „Mutter- oder Heimatsprache“ auskommen würde und viel eher spielerisch als ein die (Schrift)sprache erweiterndes Instrument betrachtet werden könnte. Durch H. C. Artmann und die Wiener Gruppe, die Regensburger immer wieder als Instanz nennt, die den Dialekt, nach „braun gefärbten“ und idealistisch geprägten Jahren, wieder in neuer Form an Aufmerksamkeit gewinnen ließen, hat der Dialekt als Literatursprache zweifellos auch eine gesellschaftspolitische und kritische Funktion eingenommen. Sie dürfen im historischen Rückblick selbstverständlich nicht fehlen. Heute allerdings in Zeiten von Sprachverwirrung, MigrantInnensprachen, Identitätskrise und massiver Medienpräsenz scheint sich die Frage nach der Wahl der literarischen Ausdrucksform – wie immer in Zeiten des Umbruchs – wieder ganz anders zu stellen. Jene Irritation und Konfrontation, die Artmann und die Wiener Gruppe, sowohl mit ihrer vom Wienerischen ausgehenden Kunstsprache als auch (und das darf nicht unerwähnt bleiben) mit ihrer damals ungewöhnlichen und neuartigen Vortragsweise in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten, ist heute, in einer Zeit, in der die deutschsprachige Literatur in einer derart großen Fülle an Formen, Sprachen und Themen auftritt, ungemein schwerer zu erreichen. Warum also heute im Dialekt schreiben? Bedeutet dies einen Rückzug in das eigene (sprachliche) Umfeld, in eine Welt mit begrenzter Reichweite oder ist es viel mehr ein Versuch, dort anzusetzen, wo noch so etwas wie Unmittelbarkeit, Authentizität oder Ursprünglichkeit vermutet wird? Ist das Schreiben im Dialekt die Auseinandersetzung mit einer  Sprache, die es zu pflegen gilt und auf die durch die Literatur aufmerksam gemacht werden soll? Oder wird der Dialekt als Mittel der Kritik an den vorherrschenden Zuständen eingesetzt, mit denen man sein Umfeld aufrütteln und sozusagen ins eigene Fleisch schneiden will?
Tatsache ist: Man kann nicht davon ausgehen, dass– um es anhand des konkreten Beispiels zu sagen – der Dialekt des Oberlands von einem breiteren Publikum verstanden wird. Eine Übertragung in Schriftsprache ist also, so dieser Anspruch verfolgt wird, unentbehrlich. Einer Notwendigkeit, der in dem Band „eppes tuet sig“ auch nachgegangen wird, allerdings handelt es sich überwiegend um „reine“ Übertragungen, auf die Form, wie z.B. auf Zeilensprünge und Stimmigkeit der Dialektgedichte, wird dabei (leider) nicht in allen Gedichten geachtet. Die Intention der Übertragungen bestand wohl rein darin, die Gedichte für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen und weniger darin, auch die schriftsprachlichen Texte in eigenständiger Form zu publizieren. Einerseits bewirkt diese Vorgangsweise, dass man sich dem Dialektgedicht noch einmal widmet, nachdem man die Übertragung gelesen hat, andererseits geht bei der „reinen“ Übertragung so manches Mal der Atem und Rhythmus, den man im Dialektgedicht gerade noch gespürt hat, verloren.
Thematisch vereint die Gedichte von Maria Koch, Angelika Polak-Pollhammer und Ingeborg Schmid-Mummert der Ausdruck weiblicher Lebenswelten. Geschrieben wird über Haus- und Gartenarbeit zwischen Beziehungs-, Familien- und Berufsleben, aber auch darüber, sich als Frau zu behaupten, sich seinen eigenen Träumen und Bedürfnissen zu widmen und nicht immer klein beizugeben. Der weibliche Blick ist dabei ein durchwegs selbstbestimmter und selbstkritischer, in dem immer wieder der Wunsch nach einem Ausbruch oder dem Aufbrechen eines vom Alltag bestimmten Lebens erkennbar wird. Aber nicht nur der Trott des alltäglichen Lebens gibt den Ton vor, auch Traditionen, Feste und Brauchtum fordern die aktive Beteiligung der Frauen. In den Gedichten werden diese (weiblichen) Pflichten immer wieder mit Ironie reflektiert.

alle johr wieder

wieder a lebkuchnhaus
bachn
wieder d kinder
eiche glockt
wieder alls siaße
zomm gessn
wieder in grund
ve die zacher
vergessn

(alle jahre wieder / wieder ein lebkuchenhaus gebacken / wieder die kinder hineingelockt / wieder alles süße aufgegessen / wieder den auslöser / für die tränen / vergessen, Maria Koch, S. 25)
„mittelt drein ih“ – dieser Vers von Angelika Polak-Pollhammer ist bezeichnend für viele der Gedichte des Bandes, deren Großteil von Innerlichkeit bestimmt ist: Selbsterfahrungen, Träume, Wünsche und Befindlichkeiten oder Emotionen finden sich häufig in Texten der drei Autorinnen. Die von ihnen gewählte (Dialekt)sprache ist direkt, ungeschönt und schnörkellos, eine Sprache, die sich auf das Wesentliche reduziert. Dabei arbeiten die Autorinnen mit Bildern und Motiven, oft liegt das Poetische auch bereits im Dialekt selbst. In ihrer Form konzentrieren sich viele der Gedichte auf wenige Verszeilen, manche lassen sich in ihrer Knappheit durchaus auch als Aphorismus lesen:

a nuijr blickwinkl

d´sicht verändern
was aißn blick verlorn war
wiedr richtig sehchn.

(ein neuer blickwinkel / die sicht verändern /was aus dem blick verloren war / wieder richtig sehn, Angelika Polak-Pollhammer, S. 62)

In Gedichten, die sich kritisch mit der Gesellschaft auseinandersetzen, richtet sich –  im Gegensatz zu jenen Gedichten, die sich mit der Rolle der Frau beschäftigen, manchmal etwas Vage und Allgemein – der Blick nach außen. Thematisiert werden beispielsweise bestimmte Verhaltensweisen, wie das Wegschauen bzw. nicht Hinschauen wollen, Sturheit, fehlender Weitblick oder Rücksichtslosigkeit.
Wie alle Gedichte, sollten vor allem Dialektgedichte unbedingt auf ihren Rhythmus, ihren Klang und ihren Ton abgefragt werden. Beispielsweise Ingeborg Schmid-Mummerts Gedichte, die mittels Redundanz bestimmter Verse etwas Litaneihaftes entwickeln und so zu überzeugenden Kompositionen werden, hätte man gerne auch selbst gehört. Eine Anregung für folgende Dialektbände:  eine CD beizulegen, die einem wohl noch einiges zu den Gedichten eröffnen würde.

verdraht

es draht der Tog
es draht is Glick
es draht sich mei Kopf
wenn ih an dih denk
es draht der Wurm
es draht die Leier
es draht die Bonk
es draht sich olles
grod um dih

(verdreht / es dreht der Tag / es dreht das Glück / es dreht sich mein Kopf / wenn ich an dich denke / es dreht der Wurm / es dreht die Leier / es dreht die Bank / es dreht sich alles / gerade um dich, Ingeborg Schmid-Mummert, S. 159)

Maria Koch, Angelika Polak-Pollhammer und Ingeborg Schmid-Mummert sind Autorinnen, die im wahrsten Sinne des Wortes in ihrem Dialekt, in ihrer Sprache zuhause sind und ihn als Literatursprache einzusetzen wissen. Somit eröffnet einem die Lektüre des Bandes den Blick in einen Literaturraum Tirols, der sich fernab von Klischees bewegt und sich eigenständig präsentiert. Die Frage nach der Wahl des literarischen Ausdrucks, muss wohl jedes Mal wieder aufs Neue gestellt werden und genau das ist es, was die Auseinandersetzung mit Sprache und in diesem Fall mit dem Dialekt lebendig hält.

Gabriele Wild

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Anna Rottensteiner: Nur ein Wimpernschlag. Roman
Innsbruck: edition laurin 2016

© edition laurin bei innsbruck university press 2016Aus dem Grenzbereich zwischen Wachen und Träumen hebt eine namenlose weibliche Stimme an zu erzählen, von Wahrnehmungen, deren Ungesichertheiten einander ähneln. „Das erste Wort“ ist Anna Rottensteiners erster Teil ihres Romans „Nur ein Wimpernschlag“ überschrieben. Die Erinnerung an heiße Sommer ist in eine an kindliche Unschuld erinnernde Tonlage gebettet. Wünsche, Sehnsüchte, Ängste, vage, unbestimmt, flirrend wie die Hitze. Von einem Haus am Hang wird erzählt, von einem Dachboden, von der Mutter, vom Vater, von Klara, der stummen Schwester, von Siri, der bewunderten und beneideten Freundin. In diesem Haus am Hang durchdringen einander Phantasie und Wirklichkeit so, dass etwas Magisches entsteht: Evokation kindlicher Weltentdeckung, Vorantasten in eine unverständliche, bisweilen auch unzuverlässige Welt, mit dem Spiel als naivem Weltzugang, in dem Grenzgänge eingeübt werden. „Ich versuchte, den Staub nicht aufzuwirbeln, berührte nichts. Schaute nur und atmete. Und war jedes Mal enttäuscht, dass zwischen all dem Krempel kein bisher ungesehener Gegenstand hervorblitzte, unerwartet und doch heiß herbeigesehnt. Ein Ding, das ein Geheimnis in sich barg, meine Fantasie angestachelt und mir zugerufen hätte, komm schon, in mir findest du verborgen, wonach du suchst. Dabei wusste ich gar nicht, wonach ich suchte. Ging also auf die Loggia zurück, drehte den Schlüssel im Schloss um und setzte mich auf den Stuhl, wartete oder las.“

Mit einer im Konjunktiv erzählten, mit dem Namen „Meta“ überschriebenen Episode von einem Aufbruch wird in den Text eine zusätzliche Ebene eingefügt. Meta, das ist ein von den Kindern erfundener Name, Klaras erstes Wort nach einer langen Zeit der Stummheit, und wird der Figur eines Mädchens zugesprochen, das ein afrikanisches Land verlässt, um jenseits des Meeres Zuflucht zu suchen. Die Möglichkeitsform mildert die angedeuteten Entbehrungen und Widrigkeiten.

In „Ungezügelte Zungen“, dem zweiten Teil, hat die Ich-Erzählerin das Elternhaus für einen Ort jenseits der Grenze verlassen, kehrt im Sommer zurück, um als Rezeptionistin in einem Hotel zu arbeiten, wo sie Marco, ihren künftigen Partner, kennenlernt. Wohnung nimmt sie im Haus am Hang. Dazwischengeschnitten sind nun Briefe einer Mutter an ihren Sohn, die von einer vergangenen Zeit berichten, von Grenzen und Grenzübertritten, von Krieg und Flucht in Europa. Ort und Zeit bleiben unbestimmt. Mit der Familien-Korrespondenz wird wieder eine Schicht von Wirklichkeitserfahrung mit neuen Perspektiven eingezogen. Diese Briefe, die am Dachboden verborgen liegen, wird die Erzählerin finden, als sie zornig über eine ungerechtfertigte Schuldzuweisung des Vaters eine Truhe entleert. Es ist die Korrespondenz ihres Vaters, die sie nun zu lesen beginnt. „Nur ein Wimpernschlag, und ich wurde ruhig, die Ohnmacht, der Zorn und die Wut lösten sich in den feinen Wirbeln von Staub, Heu und Stroh auf. Ich legte mich in die Truhe und begann zu lesen. – Vielleicht würde ich verstehen.“

Zur selben Zeit schuftet „Meta“ als illegale Arbeitskraft auf einer Obstplantage im Süden. Dies wird in Form des Dialogs eines Ich mit Meta erzählt, dem Bootsflüchtling, der unter unsäglichen Bedingungen lebt. „Und ich schäme mich, Meta, schäme mich dafür, dass mein Kontinent sich dir nicht von einer besseren Seite zeigt. Seine verpesteten Zungen streckt er dir entgegen, seinen eisigen Wind bläst er dir ins Gesicht. Es ist leicht, Klamauk mit Teufeln zu treiben, wenn man nicht an die Macht der Fratzen glaubt, so wie du, und an die Macht der Beschwörung.“

Der dritte Teil, „Es ist an der Zeit, dich beim Namen zu nennen“, kommt aus einer anderen, „erwachsenen“ Perspektive. Die Erzählerin berichtet von einer höheren Warte aus, gibt wieder, was geschehen ist: den Tod der Eltern, ihr Leben als Journalistin. „War selbst eine Unbehauste geworden, das Haus am Hang und mit ihm die Sommer der Kindheit in all ihrer Schönheit und Grausamkeit gab es nur mehr in der Erinnerung, in die Klara und ich uns über Skype oft hineinfallen ließen. Eine Streunerin in den Städten meines Kontinents, über die ich Reportagen verfasste, Chronistin ihrer Schönheit und ihres Verfalls.“ Von einer losen Beziehung mit Marco, mit dem sie nach Kalabrien fährt, um die Flüchtlingssituation vor Ort zu sehen, wird erzählt. Vom Heimatdorf Antonellas, jener kleinen Tochter der Hausverwalter ihres italienischen Sommerdomizils aus dem ersten Teil. Nun bekommt „Meta“ ein Gesicht, einen Körper: die Spielfigur aus Kindertagen wird lebendig, als die Erzählerin in Kalabrien von Dawit erfährt, deren Liebe. Wiederum ist die zusätzliche Korrespondenz-Ebene eingezogen, diesmal sind es E-Mails von Antonella, die sich in der Flüchtlingsbetreuung engagiert und von den Schwierigkeiten dieser Unternehmungen berichtet.

Geschickt verknüpft Rottensteiner europäische mit afrikanischen Migrationsgeschichten und verleiht dem Phänomen dadurch Anschaulichkeit und eine Folie fürs Mitgefühl. So ist dieser, Räume öffnende Text nicht nur ein Plädoyer für Humanität, sondern auch für das Erzählen selbst als einer genuin menschlichen Leistung, die Not lindern kann. Worte können Wegweiser sein, erst durchs Erzählen werden die Erlebnisse konkret.

Florian Braitenthaller

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Thomas Schafferer: 500 Polaroids
Innsbruck: TAK 2015

Ein Reisekoffer voll heimgeschriebenem Fernweh und  lyrischen Mitbringseln

und (dann…) ist […] alles wieder zu ende// als ich ahoj sage (S. 268)

© TAK 2015Thomas Schafferer als bekannter „rocksänger der lyrik“ (S.277) schickt auf eine „lesetour durch europa“ (S.325). Dieses Monument – dieses lyrische Lebensabschnittswerk entstand in den letzten 20 Jahren in 23 verschiedenen Ländern. Um den Atlas seiner Gedichte genauer zu kartografieren, um seinen lyrischen Reiserouten detailreicher nachzufolgen, ist ein Register von örtlichen wie auch zeitlichen Entstehungsdaten der Werke angehängt. Wenn Polaroids üblicherweise Sofortbildfotografie, die auf ein Format eingestellt ist, meint, dann sind Thomas Schafferers Polaroids geschriebene Schnappschüsse, die auf ein literarisches – lyrisches Format eingestellt sind, und „ein wenig von allem“ (S.205) festzuhalten vermögen. Er schreibt über „das äußere und das innere“ (S.13), über Vorurteile und „nachurteile“ (S.95) der bereisten Länder, dabei wird von ihm alles zum „zeichen der poesie“ (S.49) erklärt.


auszeiten

genieße es, schnell notierte
gedanken, ideen und
skizzen aus den heften und
büchern in entspannter
gelassener weise, am
küchen- oder schreibtisch
in einem waggon sitzend, in
ein elektrogerät der einsen
und nullen zu tippen und
mich dadurch wieder in den
momenten, situationen und
auszeiten einer reise zu
versenken (S.299)

Seine Schilderungen berühren und „wie nette zufallsbekanntschaften / schlenzen sich schnappschüsse// wortfragmente“ (S.50) ins eigene Lesefotobuch – ins eigene „gedankenzimmer“ (S.50), wenn er uns „in geheimer mission unterwegs im / polaroidgewitter tausender / eindrücke“ (S.75) mitnimmt. Er weicht die – möglicherweise konstruierte – strikte Grenze zwischen lyrischem Ich und Autor bis zum kaum merklichen Vorhandensein auf, wie er selbst im Gedicht 'bin mein lyrisches ich' (S.9) beschreibt.

Neben dem titelgebenden Cognac des (seines) Tiroler Literaturmagazins Cognac & Biscotten ist auch eine weitere Leidenschaft, das österreichische Autorenfußballteam, in den Gedichten prominent vertreten: „bei diesem fußballspiel am / meer, das mir gut tut“ (S.147). Darüber hinaus nimmt uns Schafferer mit – wortgenau – auf seine Lesetouren durch die Slowakei, Tschechien und den restlichen Europäischen Ländern. Er nimmt uns mit auf seinen Liebesreisen zu seiner bzw. mit seiner „madama d‘amour“ (S.113). Er nimmt uns mit zu seinen Literaturstipendienorte wie Willisau. Er teilt mit uns die Welten zwischen und hinter den Bergen, „[…] dorthin / wo ferne nicht immer ferne / heißt“ und bringt uns wieder zurück nach Tirol „an ein vertrautes territorium / an einen landstrich, der uns / heimat ist“ (S.90).

Er schafft es dabei, auf beeindruckend direkte Weise über Begriffe wie Heimat und Liebe, die so gern vermieden, die so gern umgangen werden, zu schreiben ohne dabei vaterländisch oder kitschig zu wirken. Ganz im Gegenteil: Er berührt, und auf verblüffende popartige Weise findet man sich selber auf Reisen, in seinen Reisen, seinen Emotionen und Eindrücken wieder. Man zieht Vergleiche mit den eigenen (poetischen) Schnappschüssen, erkennt bekannte Orte wieder, und unbekannten Orten möchte man gerne selber nachreisen. Er macht Lust, mit nichts als einem Notizbuch die Welt zu erkunden.  

An verschiedenen Orten schreibt er Gedichte „aus mir in die Welt“ (S.153),  und ladet dabei „poetischen akkus“ (S.260) der LeserInnen wieder auf. Man vergnügt sich an Neologismen wie „wohlfühlenswürdigkeiten“ (S.47), „sonnenaufgähnen“ (S.135) „panierte boniertheit“ (S.143), „vergangenkunft“ (S.173), oder „charmepunkflecken“(S.323).

In seinem lyrischen Fotobuch stehen anekdotische Verschreiber à la Bastian Sick wie „die direktion dekliniert / jegliche verantwortung / für diebstahl“ (S.11) neben Wissenswertem, geografischem, politischen wie auch geschichtlichem Hintergrundwissen wie zum Beispiel, dass Habsburg eigentlich bloß eine kleine Gemeinde ist (S.288).

Da schlängeln sich Bergdörfer in den Feiertag (S.149) und eine Seite weiter finden wir das Gedicht:

saint-rémy
nur zwei, drei städte weiter
brennen autos, aber ich
weiß nicht viel davon, in der
abgeschiedenheit dieser
reise, ohne wochentage und
nachrichten, durch diese
landschaft

nur zwei, drei straßen weiter
wurde nostradamus geboren
denke ich mir, als ich mir die
barstoppeln vom kinn
schneide, wie van gogh sich
sein ohrläppchen, in dieser
landschaft (S.150)

Wir stehn mit dem Autor in Ausschwitz, wenn er fragt „soll ich trauern, soll ich hassen, wenn mir / zimmern mit koffer, mit brillen, mit haaren / die tränen aus der seele pressen, angesichts / des sterbens jener menschen“ (S.162), um dann gut 50 km, eine Buchseite und 5 Gedichte weiter zu verdutzt festzustellen: „farben erhellen die tradition / und nusstorten schmiegen / sich züngig an menschen / die in monarchischen / athmosphären schwelgen / in krakau“ (S.164).
Schafferer erzählt gleichermaßen von allbekannten unliebsamen Reiseerlebnissen wie „fettnäpfchen“ (S.175), Campingpannen (S.154) oder dem Gefühl eigentlich „nichts magisches“ (S.176) erlebt zu haben und bringt dabei zum Schmunzeln. Er erzählt von gesellschaftlichen Reiseillusionen, Reiseverbrechen und Reisevorurteilen und regt zum Nachdenken an:

die strände (wie)
sie sind, wie sie sind, die strände
aus sandgebautem fernweh, das das
sehnen zur sucht und den wahrhaft
guten alltag zum ungeheuer macht
das auf der lauer liegt, am sprung uns
aufzufressen, angesichts der strände
die bei genauerer betrachtung
eigentlich nur ausgeutete, dreckige
natürlichkeiten in menschenhand
sind (S.96)

Die Gedichte sind geprägt vom Vergewissern der Beziehung, vom Vermissen des Gegenübers in Zeilen wie „dich mir herbeidenken, bis wärme / mich zu dir leuchtet […]“ oder vom  Abschiednehmen und Wiederzusichholen wie in den tagebuchartigen Gedichtsequenzen in „streifenweise seeland“ (S.81 ff), die man Gedicht für Gedicht weiter lesen möchte wie einen Fortsetzungsroman. In allem scheint das lyrische Du, seine große Liebe, durch. Die lyrischen Aufzeichnungen lassen die LeserInnen teilhaben an der gemeinsamen Beziehungsreise, die in der Hochzeit und Hochzeitsreise im Gedicht „himmelschlüssel“ (S.359) gipfelt. Dieser Lyrikband berührt und kann auch an alle reisehungrigen-lesefreudigen Menschen als eine absolute Urlaubslektürenempfehlung ausgesprochen werden. An jene, die einen Reise in Europa planen: schlagt eure Destinationen nach und findet Inspirationen! An jene, die heimkehren: findet die Schönheit des Vertrauten, findet möglicherweise die erlebten Orte wortsicher wieder! Für alle daheimbleibenden BalkoniengenießerInnen: geht auf eine  „lesetour durch europa“ (S.325) und erlebt lyrisches Reisen im Liegestuhl, wie schon Max Frisch weise formulierte: „Die Meisten verwechseln Dabeisein mit Erleben.“

Siljarosa Schletterer

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Walter Schlorhaufer: Glasfeder. Werke und Materialien
Hgg. von Johann Holzner, Bettina Schlorhaufer, Anton Unterkircher
Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2016 (= Edition Brenner-Forum, Band 11)

 

© Studienverlag 2016 (= Edition Brenner-Forum, Band 11)Bekannte Dichter und Schriftsteller waren Ärzte: Schiller, Büchner, Tschechow, Schnitzler, Benn, Döblin, Bulgakow. Aber sie waren als Dichter nicht mit derselben Hingabe auch Ärzte. Von Anton Tschechow zum Beispiel ist die Briefäußerung überliefert: „Die Medizin ist meine gesetzliche Ehefrau, die Literatur meine Geliebte. Wenn mir die eine auf die Nerven fällt, nächtige ich bei der anderen.“ (Tschechow ordinierte zwar, und das ohne Honorar, war aber doch mehr aushäusig.)

Der Innsbrucker Arzt Walter Schlorhaufer (1920 bis 2006) hätte sich mit den Genannten wohl nicht in eine Reihe gestellt, aber er kannte sehr wohl das Problem. Dieser Auswahlband stellt ihn, zehn Jahre nach seinem Ableben, als Erzähler, Essayist und Lyriker mit der Absicht vor, ihn im literarischen Gedächtnis zu halten. Für den Unkundigen empfiehlt es sich, mit dem Lebensabriss, den Walter Schlorhaufers Tochter Bettina, Architekturtheoretikerin und – historikerin, erstellt und mit autobiographischen Abschnitten ihres Vaters ergänzt hat, zu beginnen. (Bettina Schlorhaufer hat auch kommentierende Worte zu einer Reihe seiner Malereien gefunden – „Er verfasste gemalte Empfindungen“ -, die Schlorhaufer nicht selbst der Öffentlichkeit vorgestellt hat:  eigenwillige Aquarellstudien in Erdfarben und Umbra.) Man kann aber genauso mit Johann Holzners ausführlichem Essay „Walter Schlorhaufer, Arzt und Schriftsteller“ beginnen. Holzner stellt Schlorhaufer sehr kenntnisreich in literarische Bezüge und in die gesellschaftliche Situation, die er in Tirol und Österreich vorfand, als er daran ging, Prosa und Gedichte zu schreiben.

Walter Schlorhaufer begann sein Medizinstudium im Krieg, bewegte sich als Gegner des Nationalsozialismus in „Nestern des Widerstands“, spezialisierte sich auf dem Gebiet der Phoniatrie und Logopädie und wurde Fachmann für Hör-, Stimm- und Sprechstörungen an der Universität. Er veröffentlichte in literarischen Periodika und Anthologiereihen der 1950er und 1960er Jahre (z. B. Neue Wege, Wort im Gebirge, Die Sammlung, Stimmen der Gegenwart). Seine erste Buchveröffentlichung brachte der Klagenfurter Verlag Kleinmayr im Jahr 1948 heraus: „Die Liebesstationen des Leonhard Dignös“.

Der Band ediert eine Reihe von Erzählungen, so auch „Dignös. Eine Kindheit“, nach einem  Projekt, das in PC-Dateien vorliegt und für eine umfassende Veröffentlichung vorgesehen war. „Dignös“ erzählt von einem Buben, der in der Volksschule in einem Kellerzimmer unterrichtet wird, von dem aus die Beine der Vorübergehenden zu sehen sind. Die Fenstergitter werfen Schattenkreuze auf den Boden, und die Schatten der Gitter schneiden gleichsam in die Schattenbeine der Passanten. In der Phantasie des Buben spielt sich ab, was Jahre später Peter Weiss  zum Darstellungsmodus seiner Erzählung „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ (1960) gemacht hat. -  „Der Dienstgang“  ist eine ins Skurrile reichende  Geschichte zweier Polizisten („Mitstern“ und „Ohnestern“), in der mit einem Spiel von Befugnissen, Vorschriften und Amtsgeheimnissen vermittelt wird, dass eine „schlafende Stadt keine Ahnung davon hat, was innerhalb ihrer Mauern vor sich geht.“ -  Die Erzählung „Mein Freund Nos ist gestorben“ stammt aus dem Nachlass. Darin schildert ein Ich-Erzähler das Begräbnis seines Freundes Nos  damit sind wohl auch wir alle (nos) gemeint, denn auch uns (nos) kann und wird es treffen. Das Begräbnis schiebt eine immer deutlicher werdende Fremde zwischen Nos und den Erzähler und andere Schulfreunde. Schließlich bewirkt der Tod eine solche Entfremdung, dass der Erzähler flieht – nicht ohne ein recht kühnes Bild: „Unter dem Arm, im Mantel versteckt fest an mich gepresst, trug ich mein Leben, ein gestohlenes Gut“, aus dem Friedhof hinaus. – Eine Erzählung aus dem Jahr 1954, „Die neue Adresse“, schildert einen missglückenden Besuch in einem Haus, das an einem Rotlicht kenntlich sein sollte, aber nicht ist. Eine Drucklegung ist damals vielleicht nicht ohne Grund unterblieben. -  Eine halbseitige Erzählung, übertitelt mit „Piece“ ist in ihrer Kürze eindringlich. An einem gewöhnlichen Wochentag zieht es den Erzähler nichts wie weg aus seinem Arbeitsbereich Klinik, hinaus auf die Straße. Als alter Mann genießt der das Vertraute wie seinerzeit als Bub und saugt die Anblicke ein. Dann aber schrumpft die Erinnerungswelt, das Realitätsprinzip nimmt überhand, und er geht zurück, nichts wie zurück. „Endlich Klinik. Daheim.“

Die Gedichtauswahl ist in zwei Gruppen abgedruckt, von 1947 bis 1960 und von 1992 bis 2001. Im Gedicht „Die Sägemühle“, in Reimen, die nicht klingeln, hört man einige Echos aus dem Expressionismus, zum Beispiel „Am Dachrand giebelt steil das Bretterholz“. Wie dieses Gedicht reimt auch ein weiteres ganz unaufdringlich: „Der schwarze Vogel war das Letzte, das ich sah, / (ich kannt ihn nicht und gab ihm keinen Namen) /, als tief im Tal die ersten Lichter kamen / und um mich her ein Dunkles weit und breit geschah.“ In diesem fünfstrophigen Gedicht gelingt es Schlorhaufer, eine  sich steigernde Überwachheit eines Schlaflosen zu vermitteln. - Das Gedicht „Es war da irgendeiner, der zum Sterben ging“ (1953 in „Stimmen der Gegenwart“) mag zwar an einen Rilke-Ton anstreifen („Die Flamingos“), doch ist es sehr wohl eine Stimme der Gegenwart: „Das Gespann der dunklen Brauenbögen / War hochgeschraubt, als zögen / Vögel irgendwo // Und ihre Flugvignetten stünden in der Luft.“ – In „Von den Steinen (1)“ mag zwar von ferne ein Gottfried-Benn-Ton hörbar sein – „Diesseits bin ich, ein Teilstück des Teilstücks, / eine Gebärde, ein Zufallsschrei“ – , aber in diesem Gedicht beweist Schlorhaufer zum Beispiel, dass er mit Wortspielen so umzugehen und auf sich zu beziehen weiß, dass es keineswegs klappert:  „Die vielen Steine: / Der auf der Straße der Verlassenheit, / ich, der Stein des Anstoßes, / von dem du gesprochen hast, / der Edelstein, der ich gern wäre, / Stolper- und Trittstein zugleich, / und der vom Bruch.“ – In einer Todesvorstellung (im Gedicht „Tomba“, italienisch für „Grab“) holt Schlorhaufer aus  der mythischen Vorstellung von „Tod und Tödin“ eine „Todin“ („la morte“), mit der er im Grab schläft (und mit der er – vielleicht – d e n Tod umgehen kann?) Der Fluß der Gedanken durch den Kopf: So heißt zwar ein Prosaband Peter Roseis (1976), aber in Schlorhaufers Gedichten bedeutet das für Leser und Leserinnen, die zuweilen harten Fügungen und gebrochenen Zeilen in einen Fluß und ins Gleiten zu bringen. Von  den späteren Gedichten meinte ein jüngerer Kollege als Rezensent, sie seien dunkel in der Aussage und dunkel in der Stimmung und fügte Herablassendes hinzu. Ersteres ist nicht unangemessen, Letzteres ist es, denn es träfe auch Sprachbilder wie „Hinter dem Gitter / des Alterns / ist das Schweigen zu hören / oben am Joch.“

In dem Essay „Das Problem der Polarität“ (veröffentlicht 1963) denkt Schlorhaufer über das Verhältnis von Gedanke, Form und Sprachbild im Kunstwerk nach. „Immer zielten im schwankenden Aufenthalt zwischen Gedanken und Gestalt die Bildpfeile der Dichtung mit einer wahrheitsharten Spitze und den bunten Federn der Subjektivität nach der totschwarzen Scheibe der Erkenntnis.“ War das Schlorhaufers Leitgedanke, wenn er die wissenschaftliche Arbeit unterbrach und ans Schreiben ging? - Unveröffentlicht blieb der Essay „Über Dichten und Schreiben“, eine Argumentation mit dem Ziel, „den zugegebenen Prestigeverlust des Dichtens zu kupieren.“ Das im Jahre 1957. Was mag sich Schlorhaufer bei der Diffamierung des Wortes „Dichter“ durch die Achtundsechziger gedacht haben? –  Am 13. April 1960, zum 80. Geburtstag Ludwig von Fickers, druckten die „Salzburger Nachrichten“ seine Hommage auf den Begründer und Herausgeber der Zeitschrift „Der Brenner“. Darin skizziert er in einem von Dankbarkeit geprägten Ton den Herausgeber und sein Lebenswerk und bezeichnet sich selbst als einen vom Jubilar „Geführten“. Der Band enthält auch erhellende Ausführungen von Anton Unterkircher über Schlorhaufers Beziehungen zu Ficker.

Im Abschnitt „Korrespondenzen“ sind  Ausschnitte aus Briefen Schlorhaufers an den Lyriker Rudolf Stibill und den Komponisten Peter Zwetkoff zu lesen. Darin geht es unter anderem um die  Schwierigkeit, das Schreiben mit der medizinischen Arbeit zu vereinen (die ihn andererseits „reinigt von allerhand Problemchen“), vom Zögern, seine Gedichte aus der Hand zu geben, von Zweifeln an der schriftstellerischen Tätigkeit überhaupt, von seiner Skepsis gegenüber dem Reden über Kunst, also  das, was man heute die „sekundären Diskurse“ nennen würde, und auch von einem in größerer Gesellschaft mit Ingeborg Bachmann verbrachten Abend („Recht nett!“). Neben den erwähnten Ausführungen Holzners und Unterkirchers enthält der Band auch Informatives aus der Hand des  ORF-Redakteurs Martin Sailer über Schlorhaufers Hörspiele.

Eine Bibliographie sowohl von Schlorhaufers literarischen als auch wissenschaftlichen Arbeiten und eine in Hinsicht auf die Quellenlage willkommene editorische Notiz beschließen den handlichen Band, der von der Vielseitigkeit eines Dichter-Arztes zeugt.

Karlheinz Rossbacher

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Brita Steinwendtner: Jeder Ort hat seinen Traum. Dichterlandschaften. Broschürte Neuauflage der 2007 erschienenen Ausgabe
Innsbruck, Wien: Haymon 2015

© Haymon 2015
In zwölf Essays macht sich Brita Steinwendtner auf die Reise zu für Schriftstellerinnen und Schriftsteller bedeutsamen Orten, Lebens- und Schreiborten meist, nicht selten auch Sehnsuchtsorten, sucht nach den filigranen Verbindungslinien zwischen Orten, Schreiben und Texten, fragt dabei nach den konkreten Bedingungen und Voraussetzungen für den jeweiligen schriftstellerischen Prozess ebenso wie nach der Bedeutung von Orten und Räumen in den jeweiligen Werken. Die Reisen führen zur Asche Bruce Chatwins auf die Peloponnes, an den Lago Trasimeno zu Paul Wühr, zu Hartmut Lange ins ebenfalls umbrische Niccone-Tal, zu Veit Heinichen an den Golf von Triest, zu Peter Turrini ins Weinviertler Kleinriedenthal, zu Barbara Frischmuth nach Altaussee, zu Christoph Ransmayr ins Salzkammergut, zu Peter Handke nach Chaville, einem Vorort von Paris. Sie trifft sich mit Raoul Schrott im Tiroler Gasthof Sonne in Tarrenz, begibt sich auf die Suche nach Ingeborg Bachmann und Johannes Urzidil in Rom, vollzieht Ilse Aichingers Wien nach und besucht Poschiavo in Graubünden, um – selten reist sie allein, meist in Begleitung von W. (ihrem Mann Wolf Steinwendtner) – gemeinsam „Wolfgang Hildesheimer nach-zu-denken“.
Auf ihren Reisen lässt sich die Autorin von Lektüren ebenso anleiten wie von der Wahrnehmung der Landschaften, die sie aufsucht,  jenen Dingen, die ihr – ganz im Hier und Jetzt – begegnen. Die beiden Lektürelinien befruchten einander, führen zu einer zweifachen Annäherung: Texte, Autoren und ihre Beziehung zu Orten initiieren Neugier am konkreten Ort, geben Anlass genau hinzuschauen, hinzuspüren, aufzunehmen. Umgekehrt fungiert der Ort als Ausgangspunkt einer spezifischen Annäherung an das Werk, insbesondere auch den literarischen Topographien, der porträtierten Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Nie steht dabei der aufgesuchte Ort isoliert da, immer steht er in Verbindung mit anderen imaginären wie realen Landschaften, immer wird auf ein anderswo verwiesen, kommt es zur Überschreitung von Grenzen.

Mit seinem topographisch interessierten Zugang steht das Buch zunächst einmal im Kontext jener großen Zahl von Publikationen, in denen literarische Schauplätze und biographisch markierte Orte zum Ausgangspunkt literarischer Spurensuchen werden. Dennoch hebt sich das Buch von vielen verwandten Veröffentlichungen ab. Das liegt einmal an der Konsequenz mit der die Autorin bei dem von ihr gewählten Zugang bleibt, diesen reflektiert und in all seinen Facetten auszuloten sucht. Fragen nach dem Ort des Autors wie jenem der Literatur bleiben durch alle Essays hindurch das Leitmotiv der Annäherung. Der Ort erweist sich dabei als gewinnbringende Kategorie, wenn es darum geht, den jeweils spezifischen Zugriff auf Welt einer Literatur beschreibbar zu machen, als mögliche Eintrittsstelle auch in das Verständnis einer Poetik eines Autors, einer Autorin.
Dabei setzt Steinwendtner  ihren (Orts-)Lektüren ihre höchst eigene Stimme hinzu. Die Einbeziehung des subjektiven Blickwinkels, des eigenen Standortes, sind eine wesentliche Qualität der Essays: „Hier bin ich. Fontäne von Glück“. Sich die Orte gehend erschließen, dabei mit allen Sinnen lesen und auflesen, zeigt sich als wesentliches Verfahren ihrer Annäherung:
und ich werde in den Tag hineingehen, schauen, hören, riechen, staunen, mich verirren, wiederfinden, flanieren, müde werden, mir den roten Wein im Geschäft gegenüber öffnen lassen, eine Redewendung mehr lernen, vielleicht eine Lektion weiterkommen im Langenscheidt, Dumont studieren, den Stadtplan, die Stadtteile und Ausfahrtsbusse, Natalia Ginzburg lesen und Pasolini und gehen und schauen und gehen und jeden Tag mehr einen Schritt weiter tun, in diese museale und jetzt pralle Stadt, in dieses schnelle, laute und schlaflose Leben, und jeden Tag ein Stück stärker werden und weniger abgesogen von mir selbst durch die Wörter der anderen. Jeden Tag näher kommen jenen, die ich suche. (87f)
Ungewöhnlich ist auch, dass sich Steinwendtner vor allem den Landschaften lebender Autorinnen und Autoren zuwendet, dabei bei all der spürbaren Nähe – die meisten Essays beruhen auf Begegnungen und Gesprächen mit den Schreibenden – die diffizile Grenze zum Voyeuristischen nie überschreitet, in „zuneigende(r) Distanz“ bleibt, diese Grenze auch wiederholt reflektiert: Was läßt sich über ein Leben sagen? Über eine Liebe? Mit unserer Sprache, dieser „fürchterlichen Anhäufung von fertigen Sätzen“, von Worten, in denen Mißbrauch, Fälschung und Vulgarität so eng beieinander liegen? Und was ist Wahrheit?

Die zwölf Autoren- wie (Stadt-)Landschaftsporträts, angesiedelt zwischen Reiseschilderung, Kulturjournalismus und poetischer Spurensuche, sind von literarischer Qualität. Diese zeigt sich nicht nur in der Beschreibungskunst der Autorin, auch in der Art und Weise in der das Material (Vorgefundenes, Aufgelesenes, Lektüren und Gespräche) arrangiert wird, sich dabei wie nebenbei Nachbarschaften, Motiv- und Themenstränge ergeben. Manches kehrt in immer neuen Spielarten wieder, etwa die Frage nach dem Verhältnis von Eigenem und Fremden, dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie, die Bedeutung des Gehens und Weggehens für das Schreiben, der Schreibort als künstlich geschaffenes Vakuum einerseits, das Bedürfnis nach konkreter Anschauung und Teilhabe andererseits, nicht zuletzt die Bedeutung jener Orte, die auf keiner Landkarte auszumachen sind. Was die Qualität und Dichte viele der Texte schließlich auch ausmacht: die Autorin, langjährige Leiterin der Rauriser Literaturtage, Literaturwissenschaftlerin und Historikerin, schöpft bei ihrer „Suche nach Zusammenhängen und Einzelheiten“ aus einem reichen Fundus an Wissen und Kenntnissen, kann so scheinbar spielerisch Verbindungen herstellen, die jeweiligen Themen und Fragestellungen durch manchmal überraschende Details ergänzen, kann vor allem auch weglassen, muss nicht alles sagen. Herausgekommen ist so ein Buch, das auf jeden Fall Lust macht, die vorgestellten Literaturen aber auch Landschaften (wieder) zu entdecken.

Iris Kathan

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