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Literatur im Lichthof (9/2016) - Zeitblende

Ingrid Böhler: Text und Paratext. Zur kritischen Edition von Hitlers „Mein Kampf“

 

Worin liegt die Bedeutung von „Mein Kampf“?

„Adolf Hitler stand vor dem Nichts, als er 1924 an Mein Kampf zu schreiben begann.“[i] Er war 35 Jahre alt und hatte in seinem bisherigen Leben an einer bürgerlichen Existenz wenig Interesse gezeigt: Die Schule verließ er vorzeitig ohne Abschluss. Gerne wäre er akademischer Maler geworden, aber die Wiener Kunstakademie lehnte ihn zweimal ab. Für eine andere Ausbildung zeigte er keine Ambition, erst recht nicht für ein geregeltes Arbeitsleben. Er frönte dem Müßiggang, hielt sich jahrelang zunächst in Wien und ab 1913 in München über Wasser, indem er eine Halbwaisenpension bezog, sein Erbe und den Kredit einer Tante aufbrauchte. Zum Kriegsdienst jedoch meldete er sich freiwillig („die unvergeßlichste und größte Zeit meines irdischen Lebens“,[ii]) und blieb Soldat, solange es ging – bis zum März 1920. Ende November 1918 zu seinem Regimentsstandort München zurückgekehrt, fand er sich mitten in den revolutionären Unruhen wieder, die den Start der Weimarer Republik überschatteten. In dieser Zeit nahm Hitlers Weg in die Politik seinen Anfang. Es zog ihn ins deutschnationale Lager. Im Herbst 1919 wurde er Mitglied der DAP, die sich einige Monate später in NSDAP umbenannte. Bei Versammlungen kam sein demagogisches Redetalent zum Vorschein, er erweckte Aufmerksamkeit und rasch öffneten sich Türen. Nicht zuletzt konnte Hitler Kontakte in bürgerlich-elitäre, antidemokratisch gesinnte Kreise knüpfen, die ihn zu fördern begannen. Nachdem die Reichswehr ihn demobilisiert hatte, wurde die politische Agitation zu seiner Hauptbeschäftigung. Mitte 1921 gelang es ihm auch, die alleinige Parteileitung an sich zu ziehen. Er war nun lokaler Parteiführer einer militanten rechtsextremen Gruppierung.

Die Folgen des verlorenen Krieges lasteten schwer auf dem Deutschen Reich: Die harten Bedingungen des Friedensvertrags von Versailles galten als inakzeptable Demütigung. Ein anhaltender ökonomischer Niedergang stürzte die unteren Schichten in Elend und Not, das machte rebellisch, zumal das russische Beispiel vor Augen führte, was alles möglich war. Dadurch fühlten sich wiederum diejenigen, die etwas besaßen, bedroht. Abstiegsängste löste auch die fortschreitende Inflation aus, die nicht nur Ersparnisse auffraß, sondern viel umfassender zur wirtschaftlichen Lähmung beitrug, in der das Land feststeckte. Kollektive Verrohung und dadurch bedingte Bereitschaft, die gesellschaftlichen Gegensätze auf der Straße auszutragen, war eine weitere Erbschaft des verlorenen Krieges. In diesem Klima von Instabilität und Unsicherheit trauten immer weniger Deutsche der Regierung zu, Lösungen zu finden. Für populistische Protestparteien waren die Zeiten daher gut. Dieser Rückenwind, den die NSDAP verspürte, führte zum Hitler-Putsch vom 8./9. November 1923, der bekanntermaßen scheiterte, aber 16 Putschisten und vier Polizisten das Leben kostete. Hitler wurde in Haft genommen und des Hochverrats angeklagt, seine Partei verboten. Die Anhängerschaft lief auseinander, zumal die junge Weimarer Republik im Jahr 1924 endlich Tritt fasste. Mit internationaler Unterstützung konnten die Weichen für eine längerfristige wirtschaftliche Erholung gestellt werden.

Währenddessen saß Hitler in Landsberg am Lech in Festungshaft. Ein ihm und seinen Ideen äußerst wohlgesonnenes Gericht hatte dafür gesorgt, dass es bei der gesetzlichen Mindeststrafe (fünf Jahre) blieb. Zudem wurde die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung eingeräumt. Diese Zulassung einer Strafverkürzung durch das Gericht stellte Rechtsbeugung dar. Sie führte aber dazu, dass Hitler am 20. Dezember 1924 wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Ein weiteres entscheidendes Detail des milden Urteils bildete die Haftform, bei der es sich um die leichteste Form von Freiheitsentzug handelte. Hitler war in Landsberg gemeinsam mit anderen Mitverschwörern recht angenehm untergebracht: Er konnte sich u. a. innerhalb des Gefängnisses frei bewegen, auf dem Postweg mit der Außenwelt kommunizieren und Besuche empfangen – beachtliche 345 Personen an 524 Terminen. Für die zahlreichen Geschenke, die er erhielt, musste eigens Platz geschaffen werden. Unter den Dingen, die eintrafen, befanden sich auch Schreibmaschine, Schreibtisch und Schreibpapier (mit Hakenkreuz-Motiv).[iii] Hitler hatte begonnen an einem „umfangreichen Buche“ zu schreiben. Dies nahm ihn mehr und mehr in Anspruch, ab Juli 1924 bemühte er sich sogar via Zeitungsannonce, den Besucherstrom einzudämmen, um intensiver arbeiten zu können.[iv]

Wie die Herausgeber der Neuedition von „Mein Kampf“ in der ausführlichen Einleitung deutlich machen, war Landsberg mit seinen hotelartigen Haftbedingungen für Hitler geradezu ein Glücksfall. Einerseits standen dem nötigen Zuspruch und der materiellen Unterstützung von außen kaum Hindernisse im Weg, andererseits fand er erholsame Ruhe und Zeit,

„um über sich und seine Situation nachzudenken und all das, was hinter ihm lag, zu ordnen und zu verarbeiten. […] Hitler und seine Anhänger brauchten einen Neuanfang, sie brauchten eine neue Strategie und sie brauchten nicht zuletzt so etwas wie einen theoretischen Überbau.“

Zwar war das Manuskript noch nicht fertig, als Hitler rechtzeitig zum Weihnachtsfest Landsberg verlassen durfte, aber ohne seinen Aufenthalt dort wäre „Mein Kampf“ niemals entstanden und die NSDAP „aller Wahrscheinlichkeit“ das geblieben, was sie vor dem Putsch gewesen war: „eine radikale Splitterpartei […], deren Wirken sich auf München und sein Umland begrenzt[e].“[v]

Nachdem Hitler wieder in die Freiheit zurückgekehrt war, verzögerten verschiedene Umstände das Erscheinen von „Mein Kampf“. Einen der Gründe lieferte die bayrische Staatskanzlei. Während und nach seiner Festungshaft unternahm sie mehrere Anläufe, Hitler, der noch immer österreichischer Staatsbürger war, auszuweisen. Dies wusste die österreichische Regierung aber zu verhindern. Wien wollte den Putschisten nicht zurückhaben – aus nachvollziehbarer Sorge, sich mit dem Unruhestifter ein Problem einzuhandeln.[vi] Wäre die Ausweisung gelungen, wäre Hitlers Karriere beendet gewesen – und das 20. Jahrhundert nicht zu jenem geworden, das wir kennen.

Mit der Gefahr der Ausweisung im Rücken und einem Redeverbot, das die Behörden im März 1925 gegen ihn verhängten, zusätzlich belastet, sah sich Hitler zur Vorsicht genötigt. Das betraf auch seine angekündigte Publikation. Es galt unnötige Provokation zu vermeiden. Er entschloss sich daher, seine Schrift völlig neu zu gliedern und umzuarbeiten. Außerdem sollte sie nun in zwei Bänden herauskommen, wobei er den ersten 392 Seiten starken Band, der ab Juli 1924 erhältlich war, umsichtiger Weise mit der Gründungsversammlung der NSDAP im Frühjahr 1920 enden ließ. Der zweite Band (354 Seiten) folgte dann im Dezember 1926. Erst im Jahr 1930 brachte der Eher-Verlag eine einbändige, kostengünstige Volksausgabe heraus. Hintergrund bildeten die Wahlerfolge, die die Partei ab 1929 feierte.

Die Käuferschaft der vorliegenden kritischen Edition blättert und liest jedoch in der seitenident gesetzten, zweibändigen Erstausgabe von „Mein Kampf“ – viele hundert Seiten, geschrieben von einem Autodidakten, der weder viel Bildung genossen, noch viel von der Welt gesehen hatte. Dass hier kein Schreibprofi am Werk gewesen war, wurde von Rezensenten schon damals bemerkt – sprachlich häufig ungelenk und klischeehaft, inhaltlich stark redundant und nicht immer logisch, im Tonfall voller Pathos, Schwulst und hochtrabender Selbstgefälligkeit. Dennoch: Durch den direkten Kontakt mit dem Werk stellt sich nolens volens ein Eindruck von der Leistung ein, die Hitler mit dem Schreiben des Buchs vollbrachte und die angesichts dessen, dass er wenig hatte, worauf sich aufbauen ließ, doch erstaunlich bleibt.[vii] „Mein Kampf“ wäre trotzdem zu Recht in Vergessenheit geraten, als wenig origineller Beitrag zur einschlägigen völkischen Literatur, die in den 1920ern ein populäres Genre darstellte. Man müsste sich nicht damit beschäftigen, wenn Hitler nicht im Unterschied zu anderen Autoren, deren Schriften zu Nationalismus, Revanchismus, Rassismus, Gewalt und Diktatur aufriefen, die Gelegenheit bekommen hätte, seine Ideen in die Realität umzusetzen.

So aber wurde das Ergebnis von Hitlers Schreibanstrengung zu einer geschichtswissenschaftlichen Quelle ersten Ranges. Dass es sich um eine wilde Mischung aus (höchst stilisierter) Biographie, Parteigeschichte, Anschuldigungen in alle Richtungen, taktischen Überlegungen und Handlungsanleitungen, ideologischer Programmatik und Zukunftsentwürfen für Deutschland aus penetranter Ich-Erzähler-Perspektive handelt, der ein klarer roter Faden fehlt, tut dabei nichts zur Sache. Wie schon erwähnt, war das Schreiben über all diese Dinge außerdem ein Klärungs- und Selbst(er)findungsprozess von immenser Tragweite. Nach dem krisenhaften Einschnitt von 1923/24 verpasste Hitler damit nicht nur seinem Selbst- und Sendungsbewusstsein, sondern auch seiner Autorität das entscheidende „Upgrade“, ohne das die späteren Erfolge nicht denkbar sind. „Mein Kampf“ ist daher zunächst als wortreiche und wirkmächtige Propagandaschrift für den unbedingten Führungsanspruch in der eigenen Partei und den der NSDAP innerhalb des stark zerklüfteten völkischen Lagers zu lesen. Darin liegt die unmittelbare historische Relevanz des Textes.

Falsch wäre es dagegen anzunehmen, von „Mein Kampf“ gäbe es eine direkte Verbindung zur Machtübernahme 1933, geschweige denn, dass das Buch einen Masterplan für das Dritte Reich, „das sich nur unter Berücksichtigung vieler Faktoren, Kräfte und Personen erklären lässt,“ geliefert hätte.[viii] „Mein Kampf“ offenbarte trotzdem viel über die Ideen, Pläne und Ziele seines Autors. Es ist richtig, dass es in vielerlei Hinsicht starke Ähnlichkeiten mit anderen einschlägigen Schriften aufwies und aus zeitgenössischer Perspektive daher – im Unterschied zu heute – nichts Besonderes war. Viele der präsentierten Gedankengänge und Argumentationslinien waren auch sehr vage oder lückenhaft geblieben. Die Haltung, das Pamphlet für großsprecherische Propaganda zu halten und nicht wirklich ernst zu nehmen, war daher alles andere als abwegig. Die Editoren der Neuausgabe legen aber Wert darauf, den bekannten Vorwurf aufzugreifen, wonach in „Mein Kampf“ das Katastrophenpotenzial, das Hitlers Ideen und damit seine nationalsozialistische Bewegung bargen, zu erkennen gewesen wäre, v. a. ein entschlossener Wille zum Krieg und die Bereitschaft zur brutalen Abrechnung mit allen Gegnern. Diese Auffassung wird am Original anhand zahlreicher Stellen und dazu verfasster Kommentare herausgearbeitet.

Über Hitlers Ausführungen zur „Lösung der Judenfrage“ heißt es in der Einleitung:

„[Es] besteht kein Grund, die Brutalität, Radikalität und ideologisch begründete Unerbittlichkeit, mit der Hitler in Mein Kampf argumentiert, mit Hinweisen auf das zu relativieren, was damals in völkischen und antisemitischen Kreisen sonst noch so üblich war. Keine Frage: Von Hitlers Hasspredigt einen direkten Weg nach Auschwitz zu konstruieren, wäre viel zu einfach. Noch problematischer aber wäre es, eine solche Verbindung einfach zu ignorieren.“[ix]

Ohne auch nur ahnen zu können, welche konkrete Politik Hitler betreiben würde (wie im Übrigen dieser in den Jahren 1924 bis 1926, als er „Mein Kampf“ verfasste, mit Sicherheit davon selbst genauso wenig eine klare Vorstellung hatte) – bis zu einem gewissen Punkt wussten die Deutschen trotzdem, mit wem sie sich einließen, als sie Hitler wählten bzw. was sie guthießen, als sie Hitler zujubelten. Othmar Plöckinger, einer der Herausgeber der kritischen Neuauflage, konnte dies in seiner 2006 publizierten Studie zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von „Mein Kampf“ genau belegen. Das Buch des bekannten Putschisten war nicht nur breit besprochen worden, bereits vor der Angelobung Hitlers als Reichskanzler im Januar 1933 war es knapp eine Viertel Million mal über den Ladentisch gegangen. Im Jahr der „Machtergreifung“ wurden dann nochmals rund eine Million Exemplare verkauft.[x]

Doch weder die in „Mein Kampf“ nachzulesenden antisemitischen Hassbotschaften noch die verbale Kriegstreiberei verhinderten, dass 1932 fast 40 Prozent Hitler ihre Stimme gaben, und auch später, als aus den Ankündigungen Tatsachen wurden, blieb die Zustimmung hoch. „Mein Kampf“ ist zweifelsohne eine Schlüsselquelle, um zu einem tieferen Verständnis von dem zu gelangen, was Hitler antrieb. Sie gibt jedoch nicht viel her, wenn es darum geht zu verstehen, warum so viele Deutsche (und später auch Österreicher und Österreicherinnen) Hitler dermaßen begeistert in das Dritte Reich und selbst noch in den Krieg gefolgt sind, schreibt Wolfgang Benz in seiner Rezension für die „Zeit“. Aber gerade dies sei der springende Punkt an der Geschichte des Nationalsozialismus. Das Pamphlet gäbe auf diese Fragen „auch in dieser kritischen Edition keine Antwort – schon deshalb, weil die Deutschen sich weit mehr an der Rhetorik des Redners Hitler berauschten als an der schwer erträglichen drögen Prosa des schreibenden Egomanen.“[xi]

Ein Einwand in Bezug auf eine Grundtendenz in der Kommentierung, die bei Wolfgang Benz hier möglicherweise diskret mitschwingt, wird von Götz Aly, einem weiteren prominenten Kenner des Nationalsozialismus, in gewohnter Schärfe vorgetragen:

„Jeder Historiker stellt seine Fragen aus der Gegenwart, aber mit der anderen Hälfte seines Gehirns muss er sich in die fragliche Zeit versetzen und in diesem Fall erklären, warum so viele Deutsche 1932/33 Hitler wählten und sich noch mehr Deutsche bis zum Beginn des Krieges für seine Politik begeisterten. Der Historiker muss also nicht nur mitteilen, warum heutige Deutsche Hitler als Verbrecher ansehen, sondern auch, warum just deren moralisch und geistig nicht schlechter ausgestattete Vorfahren ihm so gern folgten, was sie an seiner groben Sprache so reizvoll fanden.“[xii]

Aly wirft den Editoren der Neuausgabe vor, jene sozialkritische Dimension in Hitlers Botschaften und Forderungen zu wenig durch erläuternde Kommentare herauszuheben, die der breiten, um ihre Zukunft besorgten Masse als Versprechen einer Veränderung ihrer Lebensverhältnisse zum Besseren hin erscheinen musste, als attraktive Aussicht auf die Versöhnung von Sozialismus und Nationalismus in Form einer „echten“ Volksgemeinschaft:

„Selbstverständlich bedurfte es dazu äußerer Umstände: Versailler Friedensdiktat und Inflation, ausländische Militärinterventionen, bewaffnete Aufstände im Inneren und die Weltwirtschaftskrise ebneten ihm den Weg. Seinen Wählern versprach er bedingungslosen Antiliberalismus und kraftvollen Staatskapitalismus. Den rassisch angeblich Gleichen und erbhygienisch angeblich Gesunden verhieß er das Zeitalter national-sozialer Gerechtigkeit. Er stellte den totalen Staat über das Individuum. Er verkehrte die sozialen, religiösen und regionalen Gegensätze, die innerhalb der deutschen Gesellschaft bestanden, zu äußeren – zu nationalen und rassischen. Mit dieser Mixtur gelang ihm die Entfesselung ungeheuerlich zerstörerischer Energien.[xiii]

 

Die Neuauflage – ein Projekt zur Entmystifizierung von „Mein Kampf“

Bei Buchpräsentationen hält sich der Medienrummel normalerweise in Grenzen. Das gilt ganz besonders, wenn Wissenschaft im Spiel ist. Aber Ausnahmen bestätigen bekanntermaßen die Regel. Am 8. Januar dieses Jahres, als die Neuauflage von „Mein Kampf“ vorgestellt wurde, war am renommierten Institut für Zeitgeschichte in München – der ältesten Forschungseinrichtung für den Nationalsozialismus im deutschsprachigen Raum – das Gedränge ganz außergewöhnlich. Ein Duzend Fernsehanstalten und mehr als hundert Journalistinnen und Journalisten aus dem In- und Ausland waren gekommen. Dazu passte, dass bei einer Startauflage von 4.000 Exemplaren zu diesem Zeitpunkt bereits 15.000 Bestellungen vorlagen. Offenkundig war mit diesem intensiven Kaufinteresse, das noch immer anhält, nicht gerechnet worden (oder wollte damit nicht gerechnet werden?). Mittlerweile wird die vierte Auflage ausgeliefert. Laut Wikipedia waren Anfang Mai 55.000 Stück verkauft.

Manche kritische Stimme, die sich im Vorfeld zu Wort gemeldet hatte, dürfte sich fürs Erste bestätigt fühlen. Sie warnten davor, dass das Institut für Zeitgeschichte Hitlers Hetzschrift erneut zum Bestseller machen würde und dieser zu allem Überfluss in der neuen, wissenschaftlich aufpolierten Aufmachung (deren aufwändige Buchgrafik ein wenig an eine „wertvollen Bibelausgabe“ erinnere[xiv]) nun getrost als „Klassiker“ ins Schaufenster oder Bücherregal gestellt werden dürfe. Für Jeremy Adler, Germanist am Londoner King’s College, war das Vorhaben allein schon deswegen skandalös. „Mag der Wille hinter der Neuausgabe noch so gut sein, der Abdruck eines fragwürdigen Textes kann nur ein Ergebnis zur Folge haben: die Aussagen des Autors zu verbreiten.“[xv] Dies sei in Bezug auf Hitlers menschenverachtende, rassistische und aufrührerische Botschaften ein geschmackloses, die NS-Opfer bzw. deren Nachfahren zutiefst verstörendes Unterfangen. Die Neuauflage sei aber auch deshalb abzulehnen, weil sich ein missbräuchlicher Umgang mit dem Text nicht durch Kommentare verhindern lasse. Fundamentalkritik, wie sie Adler oder etwa auch die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern Charlotte Knobloch äußerten, zeigt sich überzeugt, dass von „Mein Kampf“ noch immer Gefahr ausgeht.[xvi] Auch wenn es wenig wahrscheinlich erscheint, dass Neonazis mit dem dicken Zweibänder aus der Leonrodstraße (dem Sitz des Instituts für Zeitgeschichte) viel anzufangen wissen[xvii] – ganz von der Hand zu weisen sind solche Standpunkte nicht.

Mit Jahresende 2015 – siebzig Jahre nach Hitlers Selbstmord – war die urheberrechtliche Schutzfrist für das Werk ausgelaufen. Bis dorthin hatte der Freistaat Bayern als Rechtsnachfolger des Autors Neuauflagen verhindert. „Mein Kampf“ blieb dennoch in beträchtlichen Stückzahlen im Umlauf. Schließlich hatte der Eher-Verlag bis 1945 knapp 12,5 Millionen Exemplare abgesetzt. Weder das Buch zu besitzen noch der antiquarische Handel mit vor dem Ende des Dritten Reichs produzierten Ausgaben war in der Bundesrepublik und in Österreich verboten (wohl aber damit Propaganda zu treiben). Ausländische Verlage hatten ohnedies nie aufgehört den Text zu drucken und mit dem Internet tauchte der Text auch dort umgehend auf. Das Projekt des Münchener Instituts für Zeitgeschichte eine wissenschaftlich kommentierte Neuauflage nach dem Erlöschen des Urheberschutzes auf den Markt zu bringen, um allfälligen Geschäftemachern oder NS-Apologeten zuvorzukommen, zog dennoch schon in der Vorbereitungsphase enorme Aufmerksamkeit auf sich. Einen ersten Höhepunkt erreichten diese Diskussionen, als dem bayrischen Ministerpräsidenten im Zuge einer Israelreise (geschichts)politische Bedenken kamen und sich der Freistaat Bayern, der ab 2012 das umfangreiche Editionsvorhaben finanziell gefördert hatte, sich nach eineinhalb Jahren zurückzog und darüber hinaus die Möglichkeit in den Raum stellte, die Edition zu untersagen.

Das Unternehmen umwehte in der öffentlichen Wahrnehmung von Anfang an der Ruch des Anstößigen. Dies hing unterm Strich wohl weniger mit den Argumenten der Kritiker und Kritikerinnen zusammen und mehr mit der schlichten Tatsache des jahrzehntelangen Nachdruckverbots von „Mein Kampf“. Das dem Text dadurch anhaftende geheimnisvolle Tabu übertrug sich auf das Projekt und dementsprechend groß war die mit einer ordentlichen Prise Sensationslust gewürzte Neugier, mit der dessen Endprodukt erwartet wurde. Dann lag es vor und sofort setzte eine neue Welle der öffentlichen Diskussion ein.[xviii]

Kaum eine der zahlreichen Besprechungen kommt ohne Hinweis auf die Vielzahl der gelehrten „Beigaben“ aus. Allein die Erweiterung des Seitenumfangs spricht Bände: Der Originaltext hat rund 700 Seiten, die Edition bringt es – im A4-Format – auf knapp 2000. Von der ausführlichen Einleitung war bereits die Rede. Viel Platz nehmen die mehr als 3.500 Anmerkungen ein, die Hitler-Biograph Peter Longerich „eine gute Synthese der bisherigen Forschungen zu ‚Mein Kampf‘ und zu Hitlers Biografie bis zur Mitte der zwanziger Jahre“[xix] nennt, entnommen der Sekundärliteratur, die in den Fußnoten und einer 120-seitigen Bibliographie nachgewiesen wird. Die Anmerkungen, die z. T. kurz und knapp ausfallen, aber gar nicht selten ausführlichen Lexikonartikeln gleichen, geben Aufschluss über vielerlei: über angeführte Personen (allen voran über den Autor selbst), Ereignisse, Begrifflichkeiten, ideengeschichtliche Hintergründe, den Entstehungskontext sowie den zeitgenössischen Bezugsrahmen, Hitlers wohlkalkulierte Erzählstrategien u. v. m., so wie es den bewährten Grundsätzen wissenschaftlicher Quelleneditionen entspricht.

Ungewöhnlich ist jedoch, dass die Kommentare an vielen Stellen Ausblicke auf die nachfolgenden Geschehnisse enthalten, darauf, welche Ankündigungen im Dritten Reich tatsächlich verwirklicht wurden bzw. wo sie sich, was ebenfalls vorkam, ins Gegenteil verkehrten. Neben Registern ermöglicht eine sehr große Zahl von Querverweisen, welche die einzelnen Aussagen Hitlers, aber auch die Kommentare miteinander verbinden, eine dadurch mitunter etwas langwierige Navigation im Text. Einige Rezensenten erheben den Vorwurf einer leserfeindlichen Überkommentierung, geschuldet dem an sich ehrenwerten Anspruch der Herausgeber, Hitler zu widerlegen, zu enttarnen und in keinem Punkt das letzte Wort zu gönnen.[xx] Letztlich ziehen aber alle den Hut vor der ungeheuren Arbeit, die vom Forschungsteam geleistet wurde,[xxi] betonen den praktischen Nutzen der Edition als Kompendium und Nachschlagewerk, wenn sich auch nicht alle sicher sind, ob „Mein Kampf“ den Aufwand tatsächlich wert war – eine Frage die der Schriftsteller Rafael Seligmann bereits vor Jahren, ganz zu Beginn der Diskussionen, stellte:

„Tatsache ist: Aus dem Buch Mein Kampf ist nichts mehr zu lernen. Es enthält keine ungelüfteten Geheimnisse und es löst keine Rätsel. Aber es ist unendlich bösartig und es ist unendlich langweilig. Sind das Gründe für eine historisch-kritische Edition oder einen banalen Neudruck?“ [xxii]

Dem Institut für Zeitgeschichte ging es darum, dem „‚Sumpf‘ aus Lüge, Verzerrung, Unterstellung, Halbwahrheit und realen Fakten“[xxiii], den „Mein Kampf“ darstellt, aufklärerisch entgegenzutreten. Durch seine Historisierung und die nüchterne Richtigstellung der Aussagen inklusive Literaturhinweisen, um die Überprüfbarkeit zu gewährleisten, soll der Text entmystifiziert werden und ihm seine Wirkung genommen werden. Ist dies gelungen? Ein Stück weit bestimmt, allerdings ist es noch zu früh, über dieses jüngste Kapitel der Rezeptionsgeschichte von „Mein Kampf“ auch nur eine vorläufige Bilanz zu ziehen, beginnend mit der Frage, wer die Käufer und Käuferinnen der Edition sind und was sie mit ihr anfangen.

 

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[i] Einleitung, in: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, 2 Bde., hrsg. v. Christian Hartmann/Thomas Vordermayer/Othmar Plöckinger/Roman Tempel, Institut für Zeitgeschichte München – Berlin 2016, S. 8–84, 25.
[ii] Ebd., Bd. I, S. 459.
[iii] Ebd., Bd. 1, S. 18–20, 88; Bd. 2, S. 1749 (Skizze).
[iv] Ebd., Bd. 1, S. 15.
[v] Ebd., Bd. 1, S 25 f.
[vi] Ebd., Bd. 2, S. 1111, auch Bd. 1, 16
[vii] Ebd., Bd. 1, S. 26.
[viii] Ebd., Bd. 1, S. 44.
[ix] Ebd., Bd. 1, S. 53.
[x] Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers "Mein Kampf" 1922-1945, München 2006; ders., (Hrsg.), Quellen und Dokumente zur Geschichte von „Mein Kampf“ 1924–1945, Stuttgart 2015.
[xi] Wolfgang Benz, „Juden“: Siehe „Giftgas“, Die Zeit, 14. 1. 2016.
[xii] Götz Aly, Propagandaschrift von Adolf Hitler: Die neue „Mein Kampf“-Edition erstickt im Detail, Berliner Zeitung, 11. 1. 2016.
[xiii] Ebd.
[xiv] Benz, „Juden“: Siehe „Giftgas“.
[xv] Jeremy Adler, Das absolut Böse, Süddeutsche Zeitung, 7. 1. 2016; auch „Dieses Buch beinhaltet noch eine Gefahr“. Interview mit Jeremy Adler, Deutschlandfunk, 8. Januar 2016 (http://www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/edition-mein-kampf/dokumentation-mein-kampf-in-der-oeffentlichen-diskussion/).
[xvi] Should Hitler's "Mein Kampf" be republished? - Ein Streitgespräch zwischen Charlotte Knobloch und Sascha Feuchert, Eurozine, 10. 10. 2014 (http://www.eurozine.com/articles/2014-10-10-knobloch-en.html); Andreas Nachama, Es ist wieder da. Nach 70 Jahren wird »Mein Kampf« neu aufgelegt. Womit nun zu rechnen ist, Jüdische Allgemeine, 7. 1. 2016.
[xvii] Benz, „Juden“: Siehe „Giftgas“.
[xviii] Siehe hierzu die umfangreiche, aufgrund von Copyright-Beschränkungen dennoch unvollständige Dokumentation von Presseveröffentlichungen, Interviews, Rezensionen etc. auf der Website des Instituts für Zeitgeschichte: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, o. D., [http://www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/edition-mein-kampf/], abgerufen am 12. 5. 2016.
[xix] Peter Longerich, „Mein Kampf“ – endgültig entmystifiziert? Die wissenschaftliche Edition eines folgenreichen Machwerks, Neue Zürcher Zeitung, 16. 2. 2016.
[xx] Besonders prägnant auch in diesem Punkt Aly, Propagandaschrift von Adolf Hitler; nüchterner etwa Norbert Frei im Interview mit Joachim Käppner, „Hitler-Biografien haben wir genug“, Süddeutsche Zeitung, 11. 1. 2016.
[xxi] Beispielhaft Gert Ueding, Versachlichung des Gegenteils, Der Freitag, 13. 1. 2016; Wolfram Pyta, Für massenwirksam hielt er nur das gesprochene Wort, FAZ Feuilleton, 29. 1. 2016.
[xxii] Rafael Seligmann, Soll „Mein Kampf“ in einer kommentierten Ausgabe erscheinen?, Jüdische Allgemeine, 26. 6. 2008.
[xxiii] Hartmann u. a., Mein Kampf, Bd. 1, S. 62.

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