Die Welt, 30.10.15
Der Adel der Seelen
Unbefangenheit und Weltläufigkeit: Ein Plädoyer für Marie von Ebner-Eschenbach
Von Rainer Moritz
Terézia Moras 2013 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter Roman "Das Ungeheuer" erzählt von einem Mann, Darius Kopp, dessen Leben gänzlich aus den Fugen gerät: Er ist arbeits- und fast mittellos, und nachdem sich seine Frau Flora im Wald erhängt hat, verschanzt er sich monatelang in seiner Wohnung und erwacht erst zu neuem Leben, als er sich aufmacht, Floras Wunsch zu erfüllen und ihre Asche zu verstreuen. Kopps abenteuerliche Fahrt nach Osteuropa wird unterbrochen durch Floras Notizen, die deutlich machen, wie sie an einer schweren Depression allmählich zugrunde ging. Niemand konnte ihr helfen – und schon gar nicht aufbauende Lebensweisheiten, die ihren Weg kreuzten. Als sie Marie von Ebner-Eschenbachs Betrachtung "Heitere Resignation – es gibt nichts Schöneres" liest, reagiert sie mit Hohn und Spott: "Marie von Ebner-Eschenbach ist eine selten dumme Plantschkuh."
Das schroffe Urteil, das Terézia Moras Flora fällt, ist gewiss nicht repräsentativ und zeigt dennoch, dass die Werke der Österreicherin von Ebner-Eschenbach seit Langem Gefahr laufen, in eine Betulichkeitsschublade gesteckt zu werden und nur mehr Historiker oder Altösterreicher zu interessieren. Natürlich gehört die 1830 im mährischen Schloss Zdislawitz als Freiin Dubský geborene und 1916 in Wien verstorbene Ebner zu den Schriftstellern, die in keiner Literaturgeschichte fehlen, wenn es darum geht, die Prosa des Bürgerlichen Realismus und dessen soziale Grundierung zu beleuchten. Ihre Werke und Tagebücher liegen seit Längerem in aufwendigen, unerschwinglichen Editionen vor – Ergebnis einer germanistischen Kärrnerarbeit, die nicht dazu geführt hat, dass ihren Erzählungen zahlreiche neue Leser zugewachsen sind. Selbst in Österreich ist es keine Selbstverständlichkeit mehr, dass die anrührende Hundegeschichte "Krambambuli" Pflichtlesestoff für Schüler ist.
Während es ihren Zeitgenossen wie Adalbert Stifter, Gottfried Keller oder Theodor Storm mühelos gelingt, neue Deutungen herauszufordern, scheint es sich zu verfestigen, dass Marie von Ebner-Eschenbach als engagierte Autorin eher ins zweite Glied gehört. Kein Wunder, dass Lobreden auf sie oft zwiespältig ausfielen – etwa aus dem Munde des Marburger Germanisten Johannes Klein, der sie Ende der 1950er-Jahre als "realistische Psychologin" pries, die nicht der "gefährlichen Zerlegung des Innenlebens und damit der völligen Zerstörung einer zusammenhaltenden Form" erliege.
Eine derartige Deutung, die sich darauf stützen konnte, dass die hochbetagte, als erste Frau mit der Wiener Ehrendoktorwürde ausgezeichnete Ebner-Eschenbach wenig Sympathie für Naturalismus und Moderne hegte, verdeckt, was ihre Prosa an Reiz bereithält – wenn man erst einmal die auf ihr liegenden Staubschichten abgeklopft hat. Die vier Bände umfassende, von Evelyne Polt-Heinzl, Daniela Strigl und Ulrike Tanzer herausgegebene "Leseausgabe" bietet eine vorzügliche Gelegenheit, das Werk der Autorin aus ihrem germanistischen Editionssarg zu befreien und sich unvoreingenommen an die (Wieder-)Lektüre zu machen. Das Prinzip der Residenz-Ausgabe, die mit dem Band "Erzählungen/Aphorismen" soeben abgeschlossen wurde, beruht jeweils darauf, kanonisierte Texte mit solchen zu verbinden, deren Kenntnis bislang eher Spezialisten vorbehalten war. Auf die Dramen – eine Gattung, der Marie von Ebner-Eschenbach in ihren jüngeren Jahren eine intensive, selten erwiderte Liebe entgegenbrachte – wurde wohlweislich verzichtet.
Um den Texten nahezukommen, gilt es zuerst, sie von dem "klebrigen Firnis" zu befreien, der ihrer "Gloriole einer weisen und gütigen Erzieherin" (Strigl) geschuldet ist. Am besten gelingt das vielleicht, wenn man sich die 1858 veröffentlichten satirischen Briefe "Aus Franzensbad" (von denen ihre Verfasserin später nichts mehr wissen wollte) oder die schmale, zuerst 1898 in der renommierten "Deutschen Rundschau" publizierte Erzählung "Der Vorzugsschüler" vornimmt. Letztere ist ein verblüffend modern anmutender Text, der auf berühmt gebliebene Schul- und Internatsromane von Hermann Hesse, Robert Musil oder Friedrich Torberg ("Der Schüler Gerber hat absolviert") vorausweist.
Ohne sich in Sentimentalitäten zu ergehen, verlässt Ebner-Eschenbach ihr angestammtes adliges Milieu und schildert das strenge Regime im Beamtenhaushalt Pfanner. Dem hierarchiegläubigen Patriarchen geht es allein darum, seinen Sohn Georg zum Musterschüler zu machen. Ohne auf dessen Interessen zu achten und dessen nicht herausragende Begabung zu berücksichtigen, peitscht der Vater seinen Sohn durch den Schulalltag – provoziert durch Georgs Gegenspieler Pepi, der wenig Aufwand betreiben muss, um eine gute Note einzuheimsen.
Das stille Bündnis, das Georg mit seiner hilflosen Mutter Agnes schließt, nützt nichts: Die Aufstiegsträume des Kleinbürgers Pfanner treiben Georg in den Selbstmord. Bezeichnenderweise belässt es Ebner-Eschenbachs nicht dabei, die Grausamkeit eines rigiden Ordnungssystems zu beschreiben. Am Ende der Novelle geht die "zu einer dienenden Maschine" herabgewürdigte Agnes auf ihren verzweifelten Mann zu, sieht "Greisenhaftes" in seinen "entstellten Zügen" und versucht ihn mit einem "Du hast ja nur sein Bestes gewollt" zu trösten.
Erziehung und Moral – das sind Leitthemen nicht nur in dieser späten Erzählung. Immer wieder fragt Marie von Ebner-Eschenbach danach, was das "erzieherische Moment" zu bewirken vermag und was eingefahrene, sinnlos gewordene Verhaltensweisen anrichten. Der Roman "Božena" (1876) zeigt das besonders eindrücklich. Die Tschechin Božena – eine der markantesten Frauengestalten in der Literatur des 19. Jahrhunderts – dient als Magd im Haushalt des reichen Weinhändlers Heißenstein. Während der Adel in weiten Teilen abgewirtschaftet hat und vergeblich auf alte Privilegien pocht, lässt sich Božena von Geld und Besitz nicht beeindrucken und bewahrt ihren "ungebändigten Hochmut der Plebejerin". Unbeirrt kümmert sie sich um Heißensteins Tochter Rosa, die den vermeintlich falschen Mann liebt und vom Vater verstoßen wird. Božena kehrt erst nach Rosas Tod mit deren Tochter zu Heißenstein zurück, wo inzwischen dessen zweite Frau Nannette, eine "alte graue Maus", das Regiment führt. Nannettes nicht minder unattraktive Tochter Regula hofft darauf, per Heirat in den Adelsstand aufzusteigen – ein Plan, der kläglich scheitert.
Obwohl der Roman mit den Worten "die gute Božena" schließt, ist die Magd keine reine Lichtgestalt. Die kurze Affäre mit dem Jäger Bernhard verzeiht sie sich nicht, und so stellt der Roman letztlich in verschiedenen Facetten dar, wie und wann die Prinzipien der Moralität greifen. Nannettes zynische Mutmaßung, dass es "für niedere Menschenstände auch niedrigere Klassen der Moralität" gebe, ist Beleg nicht nur für ihren Niedergang. Auch der Roman "Das Gemeindekind", Ebners vielleicht bekannteste Arbeit, führt am Beispiel des von der Gesellschaft geächteten Pavel vor, wie diejenigen – der Adel, die Klosterfrauen –, die Moral lauthals predigen, in der Praxis versagen. Hilfe gewähren sie dem hin und her geschobenen Jungen nicht. Erst nach und nach gelingt es Pavel, sich den Respekt der Dorfgemeinschaft zu erarbeiten. Was Treue ist, demonstriert er, als er seine aus dem Zuchthaus entlassene Mutter bei sich aufnimmt.
Im "Gemeindekind" fallen, aus dem Mund des Lehrers Habrecht, auch jene oft zitierten Worte, die den hoch entwickelten sozialen Sinn der Autorin Ebner-Eschenbach spiegeln: "In früheren Zeiten konnte einer ruhig vor seinem vollen Teller sitzen und sich's schmecken lassen, ohne sich darum zu kümmern, dass der Teller seines Nachbars leer war. Das geht jetzt nicht mehr, außer bei den völlig geistig Blinden. Allen übrigen wird der leere Teller des Nachbars den Appetit verderben – dem Braven aus Rechtsgefühl, dem Feigen aus Angst." Dass ihr eigener Stand, der nach 1848 zunehmend geschwächte Adel, sich diese Maxime nicht angemessen zu Herzen nahm und gesellschaftliche Veränderungen ignorierte, davon handeln viele ihrer Erzählungen.
Trotz der Ernsthaftigkeit, mit der die Ebner wie in "Božena" oder "Unsühnbar", dem tragischen Roman eines Fehltritts, Figurenschicksale an übergreifende moralische und ökonomische Themen bindet, mangelt es ihrer Prosa nicht an geschliffenem Witz und syntaktisch kühnen Zuspitzungen. Wenn sich Nannette zum Beispiel darüber freut, dass Rosa das Elternhaus flieht und somit ihre Chancen auf das Erbe schmälert, kommentiert sie diesen "Abschnitt in der Zeitrechnung" so: "Sie sagte: 'Das war vor oder nach unserm Familienunglück", wie die Mohammedaner sagen 'vor oder nach der Hedschra'."
Auch Marie von Ebner-Eschenbachs aphoristische Neigung, den Gang ihrer Texte durch eingestreute Lebensweisheiten zu verlangsamen und den Leser zu Reflexionen anzustacheln, führt selten zu störenden Erzählerkommentaren. Dem Dialog zwischen der intriganten Regula und dem an ihr partout nicht interessierten Grafen Rondsperg geht so die schlüssige Sentenz "Vollkommene Unbefangenheit vermag in vielen Fällen auch die erfahrenste Weltläufigkeit zu ersetzen" voran, die das Kommende mit einem Gedankenspiel unterfüttert. Flora, Terézia Moras depressive Heldin, hätte damit zwar vermutlich wenig anfangen können, doch ihrem "Plantschkuh"-Verdikt sollte man sich nicht voreilig anschließen. Mit dieser Leseausgabe ist eine vielschichtige Erzählerin wiederzuentdecken. Viele ihrer Texte weisen nichts von der statuarischen Schwere auf, die zu vermuten wäre, wenn man sich allein auf die überlieferten Bildnisse und Fotografien verließe, die Marie von Ebner-Eschenbach leider fast immer als ältere, vermeintlich über den Dingen stehende Dame zeigen. Ihre Prosa spricht eine andere Sprache.
Maria von Ebner-Eschenbach: Leseausgabe. 4 Bde. Hg. von Evelyne Polt-Heinzl, Daniela Strigl und Ulrike Tanzer. Residenz, St. Pölten. 1400 S., 75 €.
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