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12. Februar 1934: Sozialdemokratie und Bürgerkrieg

1. Dokument
Erklärung der Linken am sozialdemokratischen Parteitag 1933 (Auszug)

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Parteitagsrede von Otto Bauer am 14. 10. 1933 (Auszug)

3. Dokument
Mussolini an Dollfuß, 1. Juli 1933

4. Dokument
Dollfuß an Mussolini, 22. Juli 1933

5. Dokument
Bundeskanzler Dr. Dollfuß zu unterbreitende Erwägungen [anläßlich der Zusammenkunft mit Mussolini in Riccione am 19. und 20. 8. 1933]


Dokument 1

Erklärung der Linken am sozialdemokratischen Parteitag 1933 (Auszug)

Die Politik der Parteiführung seit dem März dieses Jahres ist eine Politik des Abwartens, eine Taktik, die sich alle Termine, alle Kampfsituationen vom Gegner vorschreiben läßt. Diese Taktik ist falsch. Die Regierung hat in den letzten Monaten ihre Taktik selbst den politisch Blinden zu erkennen gegeben. Nicht einen stürmenden, sondern einen schleichenden Faschismus haben wir abzuwehren. [...]

Die Taktik, die sagt: Heute nicht, morgen nicht, aber wenn die Regierung das und das tun wird, werden wir den Generalstreik proklamieren, ist falsch. Erstens wird die Regierung nicht das und das tun und zweitens ist der Generalstreik nicht ein Allheilmittel; er ist die letzte Steigerung vieler wachsender Klassenkampfaktionen, Streikbewegungen, Arbeitslosenkundgebungen usw. Eine Partei, die den Kampf will, muß jede Teilaktion weitertreiben, die Front von Woche zu Woche verbreitern, immer größere Massen mobilisieren, die Ruhe und Ordnung mit immer heftigeren Stößen erschüttern und so die Entscheidung herbeiführen. Das ist nicht geschehen. Der Bergarbeiterstreik in der Steiermark, von den Nazis angezettelt, hat uns die Möglichkeit gegeben, die Klassenfront mit allen Bergarbeitern herzustellen, den Streik auf alle Bergwerksgebiete auszudehnen, die Hakenkreuzler zu entlarven und die Führung zu übernehmen. Die Parteiführung hat diese Möglichkeit nicht ausgenützt, sozialdemokratische Mandatare haben vermittelnd eingegriffen, anstatt die Bewegung weiterzutreiben. Ähnlich war es in Kematen; die Arbeiter von Kematen haben allen Genossen ein Beispiel gegeben, doch wie es scheint haben auch dort höhere Funktionäre vermittelnd eingegriffen und der Streik wurde abgebrochen, ohne zu einem Erfolg geführt zu haben. Aber solange diese alten Methoden sich nicht grundsätzlich ändern, ist die Generalstreikparole nicht ernstzunehmen, ist alle Aktivität nur eine Scheinaktivität. Wir dürfen nicht länger warten, wir müssen zum Angriff übergehen, wenn die Arbeiterschaft nicht an der Sozialdemokratie verzweifeln und in tödliche Indifferenz versinken soll.

Wir müssen zum Angriff übergehen mit einem klaren Forderungsprogramm, mit einem Ultimatum an die Regierung. Unsere Minimalforderungen haben zu lauten: Aufhebung aller Notverordnungen, Wiederherstellung aller Arbeiterrechte. Unterstützung für alle Arbeitslosen. Auflösung und Entwaffnung aller faschistischen Formationen. Wenn die Regierung unsere Forderungen nicht erfüllt, muß der Sturz der Regierung und die Wahl einer Regierung der Arbeiter und Bauern unser unmittelbares Kampfziel sein.

Um diese Politik des revolutionären Widerstandes gegen den Faschismus mit der nötigen Festigkeit durchführen zu können, muß die Partei sich nicht nur im Prinzip, sondern auch in der Organisation den neuen Kampfnotwendigkeiten anpassen.

Wir schlagen also vor, der Kerntruppe der Bewegung, den Arbeitern und Arbeitslosen organisatorisch besondere Rechte einzuräumen und zu diesem Zweck Arbeiterräte in die Parteiorganisationen einzubauen. Diese Arbeiterräte sind von den Betrieben, den Arbeitslosen und den Ordnerformationen zu wählen. Diesen Arbeiterräten ist die unmittelbare Kontrolle über die Parteiführung zu übertragen; ihre Beschlüsse haben der Partei die politische Linie und die taktischen Maßnahmen vorzuzeichnen. Um den Arbeitslosen die nötige Mitbestimmung zu sichern, müssen unverzüglich in allen Bezirken und bei allen Gewerkschaften Arbeitslosenkomitees gewählt werden; diese Arbeitslosenkomitees entsenden ihre Delegierten nicht nur in den Arbeiterrat, sondern auch in alle Körperschaften der Partei und Gewerkschaften: Nur wenn die Führung der Partei von unten, an den Massen der Arbeiterschaft emporwächst und den Massen unmittelbar verantwortlich bleibt, ist die Bürgschaft für die höchste Kampfkraft der Arbeiterklasse gegeben. Für uns ist die notwendige Umgestaltung der Partei keine Personalfrage, sondern eine Frage der prinzipiellen Neuorientierung mit allen ihren organisatorischen Konsequenzen. [...]

Wir sind überzeugt, im Namen der proletarischen Kerntruppe unserer Partei zu sprechen. Hört auf die Stimme dieser Kerntruppe, mißachtet nicht ihre Forderungen. Wir sind eine Minderheit vor dem Parteitag, wir sind eine Mehrheit in dem besten und aktivsten Teil der Arbeiterschaft. Noch ist in Österreich nichts verloren, noch ist der Kampf zu gewinnen, wenn wir alle revolutionären Energien der Partei mobilisieren. Es liegt uns nichts daran, gegen die Partei recht zu behalten. Es liegt uns alles daran, mit der Partei zu siegen.

Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (Wien), Altes Parteiarchiv, Mappe 66, Außerordentlicher Parteitag 1933.


Dokument 2

Parteitagsrede von Otto Bauer am 14. 10. 1933 (Auszug)

Gibt es noch eine Möglichkeit einer Entwirrung der Verfassungskrise, in der sich Österreich befindet, gibt es noch eine Möglichkeit einer friedlichen Entwirrung auf verfassungsmäßigem Weg? [...]

Man redet von diktatorischen Vollmachten für den Bundespräsidenten oder für die Regierung, von der dauernden Aufhebung der Freiheitsrechte, von der Beseitigung der Demokratie, während man am Anfang nur über die Geschäftsordnungsreform und den Länder- und Ständerat gesprochen hat. Wer sich diese Entwicklung vergegenwärtigt, wie die Regierung selbst die Verhandlungen immer wieder hinausschob, und wer sich vergegenwärtigt, wie die Ziele der Reaktion immer höher gesteckt wurden, der wird nicht gerade optimistisch sein bei der Beurteilung der Frage, ob eine friedliche und verfassungsmäßige Entwicklung noch möglich ist [...].

Die Bauernschaft beginnt zu fühlen, daß Diktatur nichts anderes bedeutet, als die Wiederkehr der Herrschaft der großen Herren, der Aristokraten und Bürokraten in Österreich. [...] Und wenn es überhaupt noch eine Möglichkeit geben sollte, zu einer friedlichen und verfassungsmäßigen Entwirrung zu kommen, so würde diese Möglichkeit ausschließlich auf einer Verständigung zwischen der Arbeiterpartei und der Bauernschaft beruhen. (Lebhafter Beifall)

Ob das noch möglich ist, weiß ich nicht. Die Diktatur hat ihre eigenen Gesetze. Von dem Tag, wo das Parlament verschwunden und die Demokratie ausgeschaltet ist, werden alle gesellschaftlichen Kräfte nacheinander ohnmächtig und nur die Diktatur, die über die Gewaltmittel verfügt, hat noch zu reden. Ich weiß also nicht, ob sich die Bauernorganisationen im bürgerlichen Lager heute überhaupt noch durchsetzen können.

Gibt es eine Möglichkeit der Verständigung, wenn sie es noch könnte?

[...] Man soll uns nicht mit Illusionen über ein Pluralrecht kommen: Es gibt keine Diskussion für uns über das allgemeine und gleiche Wahlrecht. [...]

Sehen Sie, Genossen, ich höre es nicht ungern, wenn in Konferenzen und Versammlungen junge und alte Genossen nach Kampf rufen, wenn sie dem Parteivorstand und der Parteivertretung Vorwürfe machen, daß sie nicht schon längst das Signal zum Kampf gegeben haben, wenn sie fordern, daß der Kampf endlich beginnen sollte. Denn wieviel Mangel an Erkenntnis darin auch oft steckt, was der Kampf wirklich bedeutet, so ist dieser Ruf nach dem Kampf doch immerhin ein Symptom der Kampffähigkeit, der Kampflust, des Kampfwillens der Arbeiterklasse. [...]

Was ist denn dieser Kampf, nach dem wir rufen? [...]

Diese Frage des Kampfes ist nicht eine Frage des Mythos, sondern eine Frage der Taktik und Strategie der Arbeiterbewegung und nicht etwa in fernen Zeiten, sondern das alles kann in wenigen Wochen und Monaten blutige Aktualität und Realität sein. Weichen wir nicht den Problemen aus, indem wir aus strategischen Problemen mythologische machen! (Zwischenrufe: Sehr richtig!)

Wenn wir von jenem Endkampf reden, so bedeutet das zunächst, wie wir alle wissen, Generalstreik. [...]

Wir wissen und wir können uns annäherungsweise vorstellen, welche Form ein Generalstreik gegen einen faschistischen Gegner hat, der alle Mittel - vor allem das Mittel der Pistole auf die Brust der Streikenden in den lebensnotwendigen Betrieben - sowie das Mittel des Standrechts und des Galgens gegen diejenigen, die zu streiken versuchen, anwenden würde. [...]

Der Generalstreik führt unweigerlich zur gewaltsamen Auseinandersetzung [...]

Ein solcher Kampf um Tod und Leben, bei dem es nicht nur um das Leben von tausenden Menschen, sondern um die Existenz der österreichischen Arbeiterbewegung überhaupt für viele Jahre geht, kann nur dann gewagt werden, wenn große Ereignisse die Leidenschaft des Volkes, die Wut des Volkes weit über die Reihen der politisch interessierten Minderheit hinaus derart aufwühlen (lebhafter Beifall), daß der Zorn der Millionen eben stärker ist als die Bajonette von 20.000 oder 30.000 Mann, die man uns entgegenstellen kann.

[...] Da ist eine Regierung, hinter der [...] vielleicht nicht einmal ein Viertel des Volkes steht, in Wirklichkeit demnach eine Regierung, die sich auf nichts stützt als auf die nackte Gewalt. [...] Das Militär ist gegen uns, das ist zunächst sicher; ob es auch gegen die Nazis ist, weiß ich nicht. Die Regierung verfügt über die Polizei, die Gendarmerie, nicht zu Hundert Prozent, aber zum großen Teil.

In so einer Situation, in der der Gegner alles tun zu können glaubt, in der er glaubt, diese ganze österreichische Partei, diese alte kampfgewohnte Arbeiterschaft einfach um alles bringen zu können, ihr morgen auch das gleiche Wahlrecht mit einem Federstrich nehmen zu können, bloß weil er über ein paar hundert Maschinengewehre verfügt, in so einer Zeit hat der Weg zum Faschismus gar keine Grenzen mehr, wenn sie nicht in der Erkenntnis liegt: an einem bestimmten Punkt ist die Grenze gegeben, und wer sie überschreitet, muß dann damit rechnen, daß die österreichische Arbeiterschaft ohne alle anderen Rücksichten und Erwägungen kämpfen wird.

[...] Wir sind die ganze Zeit durch den Gedanken gehemmt geworden, daß wir nicht einem, sondern zwei Gegnern gegenüberstehen. [...]

Das hat den Gegner irregeführt, die Herren glauben, daß wir den Kampf nicht führen werden. Wenn auch wir das glaubten, wäre Österreich verloren, dann ginge Österreich den Weg zum Faschismus unaufhaltsam weiter. Wenn es zum Kampf kommt, dann könnte der Kampf auch, wie immer er ausgeht, den herrschenden Klassen verdammt kostspielig werden. Wenn ich früher gesagt habe, daß es gewiß auch eine Möglichkeit der friedlichen Entwirrung durch eine Verständigung mit der Bauernschaft gibt, so bin ich überzeugt, daß diese friedlichen Elemente in der Bauernschaft und im Bürgertum durch nichts so gestärkt werden könnten, als durch die Erkenntnis, daß man gewisse Grenzen nicht überschreiten darf, wenn man nicht eine Katastrophe herbeiführen will.

Welches aber sind die Grenzen?

Der erste Fall wäre die Erfüllung der alten Heimwehrforderung nach Aufhebung der Rechte Wiens und Einsetzung eines Regierungskommissärs im Rathaus. [...] Wir haben einen zweiten Fall aufgestellt, der nicht weniger aktuell ist: Dieser Fall ist der Angriff auf die Gewerkschaften. Ich glaube nicht, daß Herr Dollfuß die Absicht hat, an einem Tag sämtliche österreichische Gewerkschaften aufzulösen oder gleichzuschalten. [...] Sie haben einen Teilangriff gemacht, und ich will auch da wieder nicht ungerecht sein und sagen, daß sie sich die richtige Stelle dazu ausgesucht haben. Die Genossen kennen die Vorgänge bei den Bundesbahnen. [...]

Die Auflösung der Partei - wir werden uns doch nicht eine so gewaltige, so große, so ruhmreiche Partei einfach auflösen lassen: das würde der Moment sein, da mit dem Kampfe auf der ganzen Front eingesetzt werden müßte. Oder wenn die Herren eine faschistische Verfassung, die das gleiche Wahlrecht aufheben will, die Souveränität des Volkswillens aufhebt und von oben her oktroyieren sollte, so wäre dies der Fall, in dem die Arbeiterschaft sich zur Wehr setzen muß. [...]

Gewiß, wir kennen die Schwere eines solchen Entscheidungskampfes, [...] aber es gibt Fälle, wo an nichts mehr gedacht werden darf, wo gekämpft werden muß [...] Die österreichische Arbeiterschaft kann Selbstbeherrschung üben, weil sie nicht wünscht, daß diese Kämpfe in diesem Land damit enden, daß die braunen Hemden ihr zum Trutz die Diktatur aufrichten. [...] Es können Provokationen verschiedenster Art den Kampf auslösen. Das kann natürlich niemand voraussagen. Wir wollten nach beiden Seiten, der Arbeiterschaft und der Regierung gegenüber, sagen: Grenzen gibt es; hütet euch, sie zu überschreiten: Ich glaube nicht, daß wir taktisch heute einen anderen Beschluß fassen können [...].

Ich weiß, es gibt Genossen, die andere Vorstellungen haben. Die meinen: ja, da überläßt man doch dem Dollfuß die Regierung, die Initiative; wenn sie diesen vier Dingen nur ausweichen, dann wird kein Kampf entbrennen und man gibt ihnen dadurch gewissermaßen einen Freibrief für anderes. Ich weiß, es gibt Genossen, die meinen, [...] man müßte Forderungen stellen; wenn das oder jenes nicht geschieht, dann werden wir an dem oder dem Tag um 12 Uhr Mittag in den Streik gehen. [...] Aber ich wünsche gar nicht, den Herren die Mitteilung zu machen, die für sie von außerordentlichem Wert wäre, für Maßregeln, die sie dann treffen würden. [...]

Nicht leichtfertig über den Kampf reden!

[...] Wenn der Gegner wirklich aus diesem Österreich einen faschistischen Staat machen will, wenn er diese österreichische Sozialdemokratie, die soviel für dieses Land seit Jahrzehnten und, ich darf wohl sagen, soviel auch in der Welt bedeutet, wirklich zerstören und vernichten wollte: Dann keine Sentimentalitäten, keine Weichheit mehr. Dann in den Kampf gehen, aber mit der Erkenntnis, was dieser Kampf bedeutet. Dann muß man wissen, daß das ein anderer Kampf ist als alle Kämpfe vorher, daß es kein Pardon mehr gibt und keine Rücksicht, daß es keine andere Entscheidung gibt, als zu siegen oder unterzugehen und für lange Zeit zu verschwinden! (Stürmischer Beifall).

Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (Wien), Altes Parteiarchiv, Mappe 66, Außerordentlicher Parteitag 1933.


Dokument 3

Mussolini an Dollfuß

Persönlich

Rom, 1. Juli 1933

[...] Ich habe Eure Exzellenz bereits wissen lassen, daß die italienische Hilfe, in was immer für einer Eventualität, sich nicht mindern werde, und ich habe soweit wie möglich den Wünschen Rechnung zu tragen getrachtet, welche mir von Eurer Exzellenz jeweilig ausgedrückt wurden.

[...] Ich bin auch froh zu wissen, daß die Heimwehren, auf die Eure Exzellenz, wie ich es immer geglaubt habe, hauptsächlich zählen sollte, ihrer Aufgabe gut entsprechen und sich vollkommen in die Politik, die Eure Exzellenz entwickeln, eingefügt haben.

Das Interesse, mit welchem ich die Lage in Österreich verfolge, gestattet mir, Ihnen einige meiner Ideen über die zukünftige Entwicklung der Campagne auseinanderzusetzen, und dies auch in Beziehung auf die Hilfe, welche unser Land Österreich gewährt.

Ich bin mir vollkommen bewußt, daß Eure Exzellenz gegen die verbrecherischen Attentate, die in letzter Zeit in Österreich verübt und den Nationalsozialisten angelastet worden sind, in der energischten Weise reagieren und die notwendigen Maßnahmen ergreifen müssen, selbst wenn es, falls nötig - und ich würde wünschen, daß man es vermeiden könnte -, auch zum Belagerungszustand kommen sollte.

Ich bin indes der Ansicht, daß gerade weil Eure Exzellenz gezwungen sind, diese strenge polizeiliche Aktion durchzuführen, sich die Notwendigkeit in diesem Augenblick mehr denn je aufdrängt, ein Programm von effektiven und wesentlichen internen Reformen in entschieden faschistischem Sinne durchzuführen. Dies erscheint mir zweckmäßig, einerseits um der Behauptung vorzubeugen, Österreich mache lediglich die Unterdrückungspolitik gegen eine Bewegung, die sich wohl oder übel mit einer nationalen Flagge umhüllt, andererseits um die Jugend - auf welche die nationale Front unbedingt zählen muß - mit dem Glanz einer Idee heranzuziehen, die imstande wäre, das Versprechen einer Zukunft für Österreich darzustellen.

[...] Ich verschließe mich nicht den Gründen der Opportunität, welche Eure Exzellenz veranlaßt haben, bis heute gegen die Sozialdemokratische Partei nicht jene entschlossene Haltung einzunehmen, die in Ihrem Programm für den internen Aufbau Österreichs enthalten ist. Trotzdem glaube ich, daß die Besorgnisse parlamentarischer Natur heute in die zweite Linie rücken müssen. Auch bezüglich der geplanten Verfassungsreform denke ich, daß jene Partei angesichts der größeren Gefahr des Nazismus und im Interesse der Möglichkeit einer raschen Wiederherstellung eines normalen politischen Lebens in Österreich genötigt sein wird, wie auch immer in der von Eurer Exzellenz vorgezeichneten Linie zu marschieren. Wenn anstatt dessen auch weiterhin der Sozialdemokratischen Partei gegenüber mit Nachsicht vorgegangen wird, so erscheint mir die viel größere und konkretere Gefahr zu entstehen, daß damit den Nazi die Waffe des Antimarxismus in die Hand gegeben und ihnen gestatten wird, sich in einem Moment als Retter der Lage aufzuspielen. Daß diese Waffe, die gefürchtetste, in ihren Händen sich abstumpfe und der Nazismus daher aus Österreich ganz und gar verschwinde, hängt von Eurer Exzellenz ab. Ich bin überzeugt davon, daß, sobald Eure Exzellenz an alle gesunden nationalen Kräfte Österreichs appellierend, der Sozialdemokratischen Partei in ihrer Felsenfestung Wien einen Schlag versetzen und ihre Säuberungsaktion auf alle Zentren ausdehnen würde, die im Gegensatz zum Autoritätsprinzip des Staates zersetzende Tendenzen verfolgen, dann auch viele, die heute in den Reihen der Nazi tätig sind, in den Kreis der nationalen Front herübergezogen werden würden. [...]

(gez.) Mussolini

Geheimer Briefwechsel, Mussolini-Dollfuß, bearbeitet von Karl Hans Sailer, Wien 1949.


Dokument 4

Dollfuß an Mussolini

22. Juli 1933

Euer Exzellenz

[...] Was die von Eurer Exzellenz betonte Notwendigkeit der baldigen Einführung innerer Reformen im Sinne einer berufsständischen und autoritären Verfassung betrifft, so teile ich durchaus die Auffassung Eurer Exzellenz, daß die auf die Erzielung einer festen staatlichen Autorität gerichtete Tätigkeit der österreichischen Bundesregierung auch nicht für einen Augenblick einen Stillstand erleiden darf. Wie Eurer Exzellenz aus unseren Gesprächen bekannt ist, beschäftige ich mich seit langem konstruktiv mit diesem Gedanken. Ich bin daher seit dem mit der Parlamentskrise vom März l. J. eingetretenen Anbruch der gegenwärtigen Phase der österreichischen Innenpolitik unablässig bemüht, den Boden für die Aufrichtung des meiner Überzeugung nach meinem Lande am besten zusagenden straffen Autoritätsregimes vorzubereiten. Es ist klar, daß zunächst viel Schutt, der sich in den Jahren seit dem Bestande der Republik angehäuft hat, weggeräumt werden muß. [...]

Die erfreuliche Popularisierung dieser grundlegenden Ideen scheint mir ein untrügliches Zeichen dafür zu sein, daß der Marxismus in Österreich so weit zurückgedrängt ist, wie man es sich noch vor einem halben Jahr überhaupt nicht zu erhoffen gewagt hätte. Ohne die aggressive Tätigkeit der Nationalsozialisten gegen die Selbständigkeit Österreichs wäre der Erfolg freilich heute schon ein noch größerer. Die Regierung hält unerschütterlich an ihrem dahingehenden Ziel fest, die marxistische Mentalität, marxistische Formen und Organisationen zu überwinden und diese durch einen über den Klassen stehenden Staatspatriotismus und durch berufsständischen Aufbau unter weitgehender Ingredienz einer mit starker Autorität ausgestatteter Regierung zu ersetzen. In dieser Beziehung sind wir auch fest entschlossen, sobald es die Verhältnisse zulassen, den Marxisten ihre Machtpositionen, die sie noch in Händen haben, zu nehmen. Gegenwärtig sind wir darauf bedacht, ihnen die finanziellen Mittel, die sie sich durch ihren übermächtigen Einfluß in der Gemeinde Wien verschafft haben, recht einschneidend zu verringern.

Auf der anderen Seite richten wir unser besonderes Augenmerk darauf, durch eine intensive vaterländische Propaganda einen österreichischen Patriotismus, der in der Nachkriegszeit nicht bestanden hat und bis vor wenigen Monaten kaum für möglich gehalten worden ist, zu erwecken. Hier darf ich auf die Tätigkeit der auch von Eurer Exzellenz im sehr geschätzten Schreiben berührten "Vaterländischen Front" hinweisen, über deren mir wichtig erscheinende Organisation ich mich Eure Exzellenz in großen Zügen zu informieren erlaube. Die "Vaterländische Front" wird auf dem Führerprinzip aufgebaut, Führer der Front bin ich selbst. Die "Vaterländischen Front" bezweckt den überparteilichen Zusammenschluß aller heimattreuen Österreicher zur friedlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung eines freien, selbständigen österreichischen Staates. Die Aufnahme in die "Front" ist daher selbstverständlich auch an das Verbot der Zugehörigkeit zu einer Klassen- und Kulturkampf verfechtenden Organisation sowie an die Verpflichtung geknüpft, alles beizutragen, um Meinungsverschiedenheiten zwischen den Angehörigen der "Front" zu vermeiden und gegebenenfalls überbrücken zu helfen. Diese letzte Bedingung sowie der überparteiliche Charakter der "Front" schließen jede Parteipolitik innerhalb der "Front" aus, ebenso wie auch jeder Angehörige der "Front" nicht als Angehöriger einer Partei, sondern als Patriot seinen Beitritt zu vollziehen und sich in der "Front" zu betätigen hat. Der Ausschluß von Verfechtern des Klassen- und Kulturkampfes schließt naturgemäß auch die Aufnahme von Sozialdemokraten und Kommunisten aus.

Eine höchst anerkennenswerte Unterstützung bei der Erweckung auf Festigung heimattreuer Gesinnung in der Bevölkerung finde ich bei den Heimwehren und ihren Führern. Mein Verhältnis zu diesen ist, wie Eurer Exzellenz bereits aus meinen mündlichen Darlegung bekannt, ein ausgezeichnetes, und ich freue mich, sagen zu können, daß meine Absichten bei den Exponenten dieser Bewegung vollem Verständnis und loyaler Unterstützung begegnen. Besonders anerkennenswert sind ihre feste Haltung und ihre energische Aktivität gegenüber dem Nationalsozialismus. [...]

Was diesen letzteren betrifft, so sind die Hoffnungen der Nationalsozialisten, wie Eurer Exzellenz sehr wohl bekannt ist, seit einem halben Jahre der österr. Regierung immer wieder eine mit 3-4 Wochen begrenzte Lebensdauer gegeben haben, heute wohl als gescheitert zu betrachten. Es ist selbstverständlich, daß die Bekämpfung dieser Bewegung weitergeht, und daß ein Zusammenarbeiten mit einer solchen Bewegung, die sich anarchistischer Mittel bedient, nicht in Frage kommen kann. Bei diesem Anlasse drängt es mich, Eurer Exzellenz für die rückhaltlose Hilfsbereitschaft, die Eure Exzellenz mir in dieser Frage bisher bewiesen haben, herzlichst zu danken.

Euer Exzellenz ganz ergebener D.

Geheimer Briefwechsel, Mussolini-Dollfuß, bearbeitet von Karl Hans Sailer, Wien 1949.


Dokument 5

Bundeskanzler Dr. Dollfuß zu unterbreitende Erwägungen
[anläßlich der Zusammenkunft mit Mussolini in Riccione am 19. und 20. 8. 1933].

1. Diese dritte Reise nach Italien - plötzlicher und aufsehenerregender als die vorangehenden - darf die Dinge nicht auf dem heutigen statischen Punkte belassen, sondern muß den Anfang einer neuen Entwicklung (wörtlich: neuen Laufes, Kurses) in der inneren und äußeren Politik Österreichs kennzeichnen. Andernfalls wird die Reise zwecklos und daher schädlich gewesen sein.

2. Nach Wien zurückgekehrt, muß Dollfuß eine große politische Rede für die ersten Tage September ankündigen, daß heißt am Vorabend des angekündigten Putsches. Dieser Rede muß eine Reihe von Handlungen vorangehen, der Art, daß sie die deprimierte Moral der Österreicher aufrütteln und erheben kann, und zwar:

a) sofortige Stärkung der Regierungszusammensetzung durch Eintritt neuer Elemente (Steidle, Starhemberg), die der gegenwärtigen Regierung den Charakter einer Regierung aus Überresten des alten Regimes nehmen sollen;

b) Fusion aller Kräfte und aller Fronten in eine einzige nationale Front mit dem Schlagwort: Unabhängigkeit Österreichs und Erneuerung Österreichs;

c) betonter diktatorialer Charakter der Regierung;

d) Regierungskommissär für die Gemeinde Wien;

e) Propaganda großen Stils.

Für die Rede:
Hinsichtlich der inneren Politik:

a) das Projekt der österreichischen Verfassungsreform in der Rede ankündigen und im Laufe des September herausbringen; die Reform soll auf faschistischer Basis vom politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkt sein;

b) durch den Bundespräsidenten die Reform gutheißen lassen und im Jahre 1934 zu einer Volksbefragung plebiszitären Charakters schreiten, mit der Formel: Unabhängigkeit nach außen und Erneuerung im Innern;

c) erklären, daß jedem Versuch der Gewaltanwendung entgegengetreten und ein solcher unterdrückt werden wird.

Hinsichtlich der äußeren Politik:

a) Erklärung der Freundschaft gegenüber allen Nachbarn und daher auch gegenüber Deutschland und Inanspruchnahme der historischen und unersetzlichen Funktionen eines unabhängigen Österreich;

b) Anerkennung der besonderen Beziehungen mit Ungarn und Italien;

c) Möglichkeit und Nützlichkeit eines Zusammenarbeitens mit der Kleinen Entente auf wirtschaftlichem Gebiet;

d) Ankündigung der Möglichkeit einer Zusammenkunft zu dritt (Italien, Österreich, Ungarn), um auf allen Gebieten die Beziehungen zwischen den drei Staaten zu vertiefen.

Geheimer Briefwechsel, Mussolini-Dollfuß, bearbeitet von Karl Hans Sailer, Wien (1949).