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Die Affäre Waldheim

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Peter Michael Lingens, Unzulässige Emotionen am Ende eines unzulässigen Wahlkampfes

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Der Bericht der internationalen Historikerkommission

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Rede des Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim am Vorabend des 50. Jahrestages des "Anschlusses" Österreichs an Hitlerdeutschland im Österreichischen Fernsehen.


Dokument 1

Peter Michael Lingens, Unzulässige Emotionen am Ende eines unzulässigen Wahlkampfes

DAS RECHT ZU KOTZEN

Man müßte auf dem Stimmzettel eine neue Rubrik mit dem Titel "Keiner von beiden" einführen. Wenn die Mehrheit der Wähler dort ihr Kreuzl macht, sollte die Wahl annulliert und mit neuen Kandidaten wiederholt werden müssen. Ich glaube, daß diese Variante eine gute Chance hätte.

Da es sie leider nicht gibt, wird Kurt Waldheim am kommenden Sonntag zweifellos einen neuerlichen Triumph feiern: Alle Leute, die im ersten Wahlgang für ihn gestimmt haben, werden wieder für ihn stimmen. Die Vorstellung der SPÖ, daß diejenigen darunter, die "nur gegen die SPÖ protestieren wollten", diesmal Steyrer wählen würden, ist naiv. Erstens sind die Gründe zum Protest nicht geringer geworden, und zweitens widerspricht es allen Erfahrungen der Psychologie; daß jemand, der bei einer Persönlichkeitswahl schon einmal "Waldheim" angekreuzt hat, nun "Steyrer" ankreuzen sollte.

Die Scrinzi-Wähler werden, wenn überhaupt, ausschließlich Waldheim wählen. Und die Wähler von Freda Meissner-Blau werden in ihrer Mehrheit gar nicht zur Wahl gehen oder weiß votieren. Zwar gibt es einige unter ihnen, die sich so sehr gegen Kurt Waldheim engagiert haben, daß sie Kurt Steyrer als "kleineres Übel" empfehlen. Aber ihnen stehen die sehr zahlreichen Grün-Anhänger gegenüber, die mitten aus dem bürgerlichen Lager kommen und Waldheim für das kleinere Übel halten.

Bleibt die Hoffnung der SPÖ, sie könnte sämtliche Nichtwähler zugunsten Kurt Steyrers mobilisieren: Was abermals einem Wunder gleichkäme: Denn jene Nichtwähler, die einfach politisch desinteressiert sind, werden desinteressiert bleiben, jene, die aus Protest nicht zur Wahl gegangen sind, werden keinen Grund sehen, von ihrem Protest abzurücken; und schließlich dürften sich unter den Nichtwählern auch eine ganze Menge ÖVP-Sympathisanten finden, die Waldheim nicht wählen wollten, nun aber ganz sicher auch nicht Steyrer wählen werden.

Daß Steyrer ein Underdog-Effekt zugute kommen könnte, wie er etwa in England öfter beobachtet wird, ist gleichfalls auszuschließen: Wo es einen Schwächeren gibt, schlagen sich die Österreicher grundsätzlich zum Stärkeren.

Damit ist, von der Papierform her, das Rennen für Kurt Waldheim gelaufen. Das einzige, was einen neuerlichen triumphalen Wahlsieg Waldheims verhindern könnte, ist aller Leute Überzeugung von einem neuerlichen triumphalen Waldheim Wahlsieg: Wenn das Wetter schön ist, könnten es manche seiner Anhänger gar nicht mehr für notwendig halten, ihr Scherflein dazu beizutragen.

Dann wird es ein knapperer Wahlsieg - aber ein Sieg jedenfalls.

Soweit der offizielle Leitartikel: Brav, unparteiisch, emotionslos, genau so, wie sich profil-Eigentümer und profil-Leser einen ordentlichen Leitartikel vorstellen. Aber dann und wann muß es auch dem Chefredakteur gestattet sein, aus dem Bauch statt aus dem Kopf zu schreiben: In jedem ordentlichen Bahnhofsrestaurant darf man kotzen, vorausgesetzt man entrichtet die vorgeschriebenen 200 Schilling Reinigungsgebühr.

Auch ich muß - ein-, zweimal in zehn Jahren - ins Blatt kotzen dürfen.

Kurt Waldheim kotzt mich an. Dieser "große Österreicher", der der jämmerlichste Generalsekretär gewesen ist, den die Vereinten Nationen in einer Reihe jämmerlicher Generalsekretäre jemals besessen haben. Dessen Reputation im Ausland lang vor der sogenannten "Kampagne" ungefähr so gut war wie die des Volksopernballetts. Der, wie die "Salzburger Nachrichten" so treffend bemerkten, einen Gummischlauch statt eines Rückgrats eingezogen hat. Nur, daß selbst dieser Schlauch im Zweifel in die falsche Richtung taumelt: Gefügig wie keiner vor ihm gegenüber den Russen, feindlich wie keiner vor ihm gegenüber Israel und den USA. Patschert und erfolglos wie keiner vor ihm, selbst wenn es um unbedeutendste Verhandlungen wie die Befreiung irgendwelcher Geiseln ging.

Die Schließung der Prager Botschaft und das charakteristische Bestreiten der Verantwortung dafür als Markenzeichen. Und zu alledem die jüngsten Gedächtnislücken, gepaart mit der ebenso selbstgerechten wie obszönen Überzeugung, er hätte "nur seine Pflicht getan", als er am Balkan Kriegsverbrechen registrierte.

Ein Bundespräsident zum Abgewöhnen. Kurt Steyrer kotzt mich an. Ja, er ist persönlich ein lieber, anständiger Mensch, freundlich wie übrigens Kurt Waldheim auch. Aber schon als Gesundheitsminister ein Totalversager. Ein Freund, der in entscheidender Position mit ihm zu tun hatte, schildert ihn mir als noch eine Klasse unfähiger als Ingrid Leodolter - und das will etwas heißen. Denn Kurt Steyrer habe grundsätzlich jeden Konflikt vermieden - und das geht nur, wenn man auch jede Entscheidung vermeidet.

Diesem Prinzip ist er im Wahlkampf treu geblieben: Nirgendwo auch nur der Versuch einer profilierteren und damit kontroversielleren Aussage. Nicht einmal jetzt, da sowieso schon alles verloren ist, der Mut zum Risiko. Statt dessen der durchaus ernst zu nehmende Versuch, Kurt Waldheim an Unglaubwürdigkeit (wenn auch in nicht so wichtigen Bereichen) noch zu übertreffen: Da werden Pensionen garantiert, die niemand angreift; da fordert der ehemalige "Arzt für Atomkraft" atemlos Umdenken nach Tschernobyl, und da fährt der sozialistische Präsidentschaftskandidat nun schon durch Wochen durch einen steirischen Industrieort nach dem anderen, um den Arbeitern all das zu versprechen, was die SPÖ ganz sicher nicht halten kann. (Es sei denn unter neuerlichem und diesmal endgültigem Verzicht auf die wirtschaftspolitische Vernunft.)

Das einzige, was man Kurt Steyrer zugute halten kann: Er biegt und beugt sich aus im SPÖ-Milieu erworbener Schwäche und nicht wie Kurt Waldheim aus Veranlagung.

Die ÖVP kotzt mich an: Was ein geeichter ÖVP-Anhänger ist, der wählte einen Kretin zum Bundespräsidenten, wenn es nur die erste Wahlniederlage der SPÖ bewirkt. Die kältesten Krieger erklären einem plötzlich, warum Kurt Waldheim gar nicht anders konnte, als sich den Russen anzubiedern. Die entschiedensten Nazigegner, die zeitlebens nicht einmal dem NS-Kraftfahrkorps beigetreten sind, erklären einem, warum man gar nicht anders konnte, als mit der SA auszureiten und eine Dissertation zu schreiben, in der man den Zweiten Weltkrieg als die "große Auseinandersetzung des Reiches mit der außereuropäischen Welt" beschreibt, aus der sich ein "großartiges Zusammenwirken aller Völker Europas unter der Führung des Reiches ergeben wird" (siehe Bericht auf Seite 56).

Leute, von denen ich bisher dachte, sie seien dem aufrechten Gang verpflichtet, preisen auf einmal den Vorzug des Gummischlauchs.

Und das sind noch die Anständigen, die wenigstens hinzufügen, der Antisemitismus, der in Waldheims Wahlveranstaltungen mitschwinge, sei ihnen unsympathisch.

Ein Antisemitismus, den die Spitzenfunktionäre dieser Partei zwei Monate lang nach Kräften geschürt haben. Selbst jetzt, da sie wissen, daß sowieso schon alles gewonnen ist, da es eh nur mehr um zehn Prozent oder fünf Prozent Abstand geht, können sie nicht darauf verzichten, bei jeder Gelegenheit die "gewissen Kreise" in den Mund zu nehmen, um dann scheinheilig zu erklären, daß sie die Gefühle nicht haben wollen, auf die sie setzen.

Jahrelang waren sie gegenüber einer desolaten Regierungspartei unfähig, auch nur den Schimmer einer Alternative zu formulieren. Aber jetzt, da es um eine reine Schlammschlacht geht, sind sie in ihrem Element. Da wird Alois Mock zum mitreißenden Redner, und Michael Graff spricht allen echten Österreichern mit seinen Worten mitten aus dem Herzen. Man muß Gott danken, daß sie im Augenblick nicht sofort wieder eine Mördergrube daraus machen können.

Die SPÖ kotzt mich an. Als Journalist ist es mir nicht gelungen zu beweisen, daß sie hinter den Angriffen auf Kurt Waldheim steht, und im Gegensatz zu ÖVP-Politikern posaune ich nicht aus, wofür ich keine Belege habe. Aber als Privatmann hege ich so wenig Zweifel an der Urheberschaft der SPÖ wie alle anderen Österreicher. Und jedenfalls hat diese Partei vier Monate lang so getan, als sei sie über Waldheims Vergangenheit entrüstet.

Die Partei, die die ehemaligen Nazis in Österreich überhaupt erst salonfähig gemacht hat, die NSDAP-Mitglieder, SS-Leute und Verdächtige eines Neo-Nazi-Prozesses in ihren Regierungen vereinte. Die Friedhelm Frischenschlager das Vertrauen aussprach, nachdem er einen Kriegsverbrecher wie einen Staatsgast empfing. Vor allem aber die Partei, die sich voll und ganz hinter Friedrich Peter gestellt hat: Friedrich Peter, neben dem Kurt Waldheim ein Heiliger ist, den man nicht in einem Atemzug mit ihm nennen dürfte.

Als ich dann neulich im Radio Heinz Fischer sich über Waldheim empören hörte - jenen Heinz Fischer, der in der Affäre Peter einen parlamentarischen Ausschuß gegen Simon Wiesenthal verlangte -, wurde ich zum erstenmal in meinem Leben braun: Ich konnte die Galle nicht mehr hinunterschlucken.

Nur der Ordnung halber und zum Abschluß: Auch meine Branche kotzt mich an. Was da als Waldheim-Berichterstattung angeboten wurde, war mit wenigen Ausnahmen so unpräzise, so undifferenziert, so parteiisch und einseitig, daß es einem die Schamröte ins Gesicht trieb, sobald man mit einem ausländischen Journalisten zusammentraf.

Daß die Kommentatoren der "New York Times" nicht viel besser sind, mag ein anderer als Trost empfinden.

Ich weiß, daß man einen solchen Leitartikel nicht schreiben soll. Man soll den künftigen Bundespräsidenten nicht abwerten, denn wir müssen mit ihm leben, und sein Amt bedarf des Respekts. Man soll die Parteien nicht abwerten, denn sie sind die wichtigsten Träger unserer Demokratie. Und man soll die Politik nicht abwerten, denn die Politikmüdigkeit ist sowieso schon gefährlich genug.

Aber ist das Politik?

Kann man einem das Kotzen verwehren, der seit mehr als vier Monaten mitten in der Kotze steht?

profil, 2. 6. 1986, Nr. 23, S. 14-15. 


Dokument 2

Der Bericht der internationalen Historikerkommission

Zusammenfassende Schlußbetrachtungen

1. Die Historikerkommission hat ihren Auftrag als wissenschaftliche Arbeit aufgefaßt.

Die Kommission hat ihren Auftrag wie folgt interpretiert:

"This independent Commission has been established to determine the facts concerning the wartime service of Waldheim and of his participation in National-Socialist organizations. The political content of his doctoral dissertation will also be examined. The Commission may interview witnesses and examine documentary evidence in national and private archives without restraint.
The Austrian Foreign Ministry, while defraying the expenses of the Commission, has no power to alter the final report of the Commission."

Nachdem das von Mitarbeitern von Waldheim herausgegebene Weißbuch inhaltlich über die Kriegszeit hinausgegangen ist, werden auch im Bericht der Kommission Hinweise enthalten sein, welche die Nachkriegsjahre betreffen.

Für die Kommission ging es darum, nach historischen Forschungsmethoden, gestützt auf alle ihr zugänglichen Quellen, insbesondere die noch erfaßbaren Akten, die geschichtlichen Tatbestände möglichst objektiv und umfassend festzuhalten und ohne vorgefaßte Meinung, aber auch ohne bestimmte Zielrichtung abzuklären, welche Rolle Waldheim auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen gespielt hat, auf denen er tätig war. Die Kommission betrachtet sich als rein wissenschaftlich feststellende Instanz. Sie hat keine richterliche Funktion. Ihre Aufgabe besteht ausschließlich darin, die Tatsachen und Zusammenhänge so darzustellen, wie sich diese für sie auf Grund der verfügbaren Unterlagen ergeben haben.

Es bleibt Sache der Besteller und Empfänger des Berichts, aus diesem die ihnen notwendig scheinenden Folgerungen zu ziehen.

2. Die Presse und andere interessierte Stellen haben eine Anzahl von Fragen zur Arbeit der Kommission aufgeworfen. Diese wurden von der Kommission ernsthaft erwogen, ihre Beurteilung lautet wie folgt:

a) Die Kommissionsmitglieder sind sich der Tatsache bewußt, daß ihre fünfmonatige Arbeitszeit kurz bemessen war. Allerdings konnte die Historikerkommission auf die einschlägigen Erfahrungen verschiedener Forscher und Organisationen zurückgreifen: In manchen Fällen gelang das allerdings nicht, da der Kommission der Zugang zu der "dokumentarischen Basis" einiger untersuchender Stellen bzw. Privatleute verweigert wurde. Dennoch war die Kommission der Ansicht, daß sie weitaus den größten Teil der verfügbaren Dokumente kennt und ausgewertet hat:

Obschon Historiker ihre Forschungsprojekte nicht gerne abschließen, muß jede Forschung einmal zum Abschluß kommen. Der Zeitpunkt für die Beendigung dieser Untersuchung dürfte annehmbar sein.

b) Für ihre Arbeit hat die Kommission von den österreichischen Stellen die nötige Unterstützung erhalten. Keine ihrer Bitten um Information oder Dokumente ist ihr abgeschlagen worden.

c) Der Kommission ist der Vorwurf gemacht worden, sie habe keine Untersuchungsspezialisten (Investigators) unter ihren Mitgliedern gehabt. Dabei wurde übersehen, daß die Kommissionsmitglieder erfahrene Historiker und damit Untersuchungsfachleute sind. Auch hatten alle Kommissionsmitglieder Kontakte zu Bibliothekaren, Archivisten und zu Kollegen, die wesentlich dazu beitrugen, die Vollständigkeit und Reichweite ihrer Forschung zu vergrößern.

d) Auch wurde behauptet, daß der Mangel an Zeugnispflicht, welche die Anwesenheit von Zeugen und die Vorlage von Dokumenten hätte erzwingen können, ein Nachteil war. Eine sich auf Österreich begrenzende Zeugnispflicht - mehr hätte die österreichische Regierung nicht zugestehen können - hätte der Kommission bei der Beschaffung von Dokumenten und der Vorladung von Zeugen aus anderen Ländern kaum helfen können. Was Österreich anbetrifft, so wurden der Kommission alle erwünschten Zeugenaussagen ermöglicht.

e) Da die Kommission kein Tribunal ist, erschien ihr nicht als ein Nachteil, daß nur zwei Kommissionsmitglieder eine juristische Ausbildung besitzen. Die Kommission wollte den Sachverhalt weder gerichtlich beurteilen noch verteidigen. Sie sah ihre Aufgabe darin, die historischen Zusammenhänge ihres Untersuchungsbereichs zu klären. Von Historikern wird erwartet, daß sie feststellen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Geschehnisse, die 43 bis 46 Jahre zurückliegen, eignen sich durchaus für eine zeitgeschichtliche Untersuchung. Historiker sind es gewöhnt, in Archiven zu arbeiten, um die Bedeutung der vorliegenden Dokumente im Rahmen des Zeitgeschehens zu bewerten: Wären schwerwiegende juristische Fragen aufgetaucht, hätten Völkerrechtsexperten beigezogen werden können.

3. Die einzelnen Abschnitte des Kommissionsberichtes behandeln Waldheims Tätigkeit in verschiedenen Stabsfunktionen in Jugoslawien und Griechenland. Lediglich während seines Einsatzes in der Sowjetunion bei der Vorausabteilung von A. Pannwitz besaß Waldheim als Schwadronchef Befehlsgewalt über deutsche Soldaten.

In den verschiedenen Stabsstellungen hat er Aufgaben wahrgenommen, die das Schicksal von Gefangenen oder Flüchtlingen betreffen konnten. Die Weitergabe von Vernehmungsprotokollen von Aussagen alliierter Kommandoangehöriger stand in ursächlichem Zusammenhang mit deren weiterem Schicksal, das durch Hitlers Kommandobefehl vom 18. Oktober 1942 generell entschieden worden war. Mitwirkung dieser Art kann als befehlsmäßiges Handeln qualifiziert werden in klarer Kenntnis der Tatsache, daß der Befehl Verbrechen bezweckte. Über den Handlungsspielraum eines O3 in diesem Zusammenhang ist an der gegebenen Stelle des Gutachtens Näheres ausgeführt.

Als O2 in Westbosnien befand sich Waldheim in unmittelbarer Nähe verbrecherischer Aktionen, insbesondere in Banja Luka, wo er Kenntnis von der Arbeitsweise des dortigen Ic gehabt haben muß: Die Befassung mit Transporten von Gefangenen und Flüchtlingen der Ib-Abteilung kann nicht bezweifelt werden, auch wenn nur wenig Unterlagen vorhanden sind. Ein konkreter Hinweis auf die Art der Einschaltung Waldheims in Transportfragen und Lagerprobleme ist bisher nicht bekanntgeworden. Die Kopie eines Schriftstückes mit dem Datum vom 22. 7. 1942, in dem Waldheim erwähnt wird, eignet sich aus den angeführten Gründen nicht als Grundlage für eine definitive Aussage der Kommission. Als O1 in Athen wußte Waldheim von der Praxis des Abtransports italienischer Gefangener/Internierter nach Deutschland im September 1943, also zu einer Zeit, als zwischen dem Deutschen Reich und dem Königreich Italien kein Kriegszustand herrschte: diese rechtswidrigen Vorgänge sowie zahlreiche Erschießungen sind in den hohen Stäben bekannt gewesen. Als O1 hatte Waldheim wohl nur geringe praktische Einwirkungsmöglichkeiten auf den Ablauf der Dinge. Ähnlich ist seine Rolle als O3 in Arsakli im Rahmen seiner Rolle als Feindlage-Sachbearbeiter zu charakterisieren. Insgesamt ergibt sich das Bild einer je nach Dienststellung unterschiedlichen Nähe zu kriegsrechtlich inkriminierten Maßnahmen und Befehlen.

4. Mit diesen Feststellungen wird die Frage nach Waldheims schuldhaftem Verhalten im Krieg nicht abschließend beantwortet.

Ganz allgemein kann bereits aus dem bloßen Wissen um Verletzungen der Menschenrechte am Ort des eigenen Einsatzes eine gewisse Schuld erwachsen, wenn der Betreffende aus Mangel an Kraft oder Mut - seine menschliche Pflicht verletzt, gegen das Unrecht einzuschreiten. Solche Maßnahmen, die in ihrer Unrechtmäßigkeit erkannt werden mußten und wohl auch erkannt wurden, waren insbesondere die große Anzahl übertriebener und unverhältnismäßiger "Sühnemaßnahmen", die Auslöschung oder Deportation großer Bevölkerungsteile, insbesondere der gnadenlose Abschub der gesamten jüdischen Volksgruppen sowie schließlich die "Sonderbehandlung", d. h. die Exekution alliierter Kommandotrupps wie auch die Einweisung von Frauen, Kindern und Greisen in Konzentrationslager.

Schwerwiegender als bei der untätigen Hinnahme solcher Verletzungen menschlichen Rechts war die Mitwirkung in jenen Fällen, in denen verschiedene Abstufungen von Mitbeteiligung festgestellt werden konnten; eine solche bestand z. B. in der konsultativen Unterstützung von Unterdrückungsmaßnahmen, etwa in der Form von Feindlageberichten, die im Zusammenhang mit "Säuberungsaktionen" standen.

5. Bei der Prüfung der Frage, wieweit bei Waldheim von einer Mitschuld am Kriegsunrecht gesprochen werden muß, ist von der im Bericht vielfach festgestellten Tatsache auszugehen, daß dieser in seinen Stabsfunktionen auf dem Balkan, trotz eines niedrigen Ranges, sicher weit mehr als nur ein zweitrangiger "Kanzleioffizier" war. Auch wenn er als Subalternoffizier in Stabsstellungen keine Exekutionsbefugnisse hatte, war er dank seiner Bildung und seinem Wissen sowie infolge der Einblicke, die er als Dolmetscher in die entscheidenden Führungsvorgänge erhielt, besonders aber aus seiner Tätigkeit im zentralen Nachrichtendienst seiner Heeresgruppe und seiner örtlichen Nähe zu den Geschehnissen hervorragend über das Kriegsgeschehen orientiert. Aus einer beträchtlichen Anzahl von Lageberichten und Kriegstagebuch-Eintragungen, die er entweder selbst verfaßt oder die über seinen Schreibtisch liefen, und insbesondere im Zusammenhang mit der Erarbeitung jener Lageberichte, die er mehrfach in den Chefbesprechungen auf Heeresgruppenebene vorgetragen hat, erhielt er einen tiefen und umfassenden Einblick in die Verhältnisse an den Fronten und namentlich auf dem Balkan. Auch wenn sein persönlicher Einfluß auf den Entscheidungsprozeß der obersten Führung (im Südosten) einerseits von seinen Widersachern etwas überbewertet worden ist und andererseits von seinen Verteidigern allzu sehr herabgemindert wurde, war Waldheim doch häufig in diesen Besprechungen zugegen, wirkte an diesen mit und war folglich einer der besonders gut orientierten Stabsangehörigen. Dabei waren seine allgemeinen Einblicke umfassend: sie bezogen sich nicht nur auf die taktischen, strategischen und administrativen Anordnungen, sondern schlossen in einigen Fällen auch die Handlungen und Maßnahmen ein, die im Widerspruch zum Kriegsrecht und den Grundsätzen der Menschlichkeit standen.

Die Kommission hat von keinem Fall Kenntnis erhalten, in welchem Waldheim gegen die Anordnung eines von ihm zweifellos erkannten Unrechts Einspruch erhoben, Protest geführt oder irgendwelche Gegenmaßnahmen getroffen hat, um die Verwirklichung des Unrechts zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Er hat im Gegenteil wiederholt im Zusammenhang rechtswidriger Vorgänge mitgewirkt und damit ihren Vollzug erleichtert.

6. Die Kommission war bemüht, dieses Verhalten Waldheims aus den Verhältnissen zu verstehen, unter denen er seinen Militärdienst zu leisten hatte. Waldheims Tätigkeit wurde in die großen Zusammenhänge des Krieges hineingestellt, die seine Haltung entscheidend mitbestimmt haben.

Dabei war eine Reihe maßgebender Faktoren zu berücksichtigen:

a) Bis in die jüngste Zeit hat sich Waldheim immer wieder darauf berufen, daß er während der Militärzeit als Soldat an das Gebot der uneingeschränkten militärischen Pflichterfüllung gebunden gewesen sei. Unabhängig vom Inhalt eines Befehls habe er in der Befehlsausführung ein verpflichtendes Prinzip gesehen, dem er sich habe unterziehen müssen.

Dieser Rechtfertigung vermochte die Kommission in den genannten Fällen nicht zu folgen. Die Rechtsprechung der Nachkriegsjahre über die Kriegszeit, insbesondere in den Nürnberger Folgeprozessen, hat mehrfach mit aller Entschiedenheit festgestellt, daß selbst im Krieg der militärische Befehl keine unbeschränkte Gültigkeit hat. Er besitzt seine Grenzen insbesondere dort, wo er im Widerspruch steht zu den Forderungen des Rechts und der Moral und den Geboten der Menschlichkeit. Die Ablehnung eines blinden "Kadavergehorsams" war verankert in § 47 des damaligen Militärstrafgesetzbuches, in welchem bestimmt wurde, daß sich auch ein auf Befehl handelnder Untergebener strafbar machte, wenn der betreffende Befehl erkennbar die Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens bezweckte. Dieses Prinzip der Strafbarkeit der Ausführung von Unrechtsbefehlen, das in Deutschland eine lange Tradition aufweist, hatte zwar in der Zeit der nationalsozialistischen Rechtsprechung kaum mehr seine volle Gültigkeit, als moralischer Grundsatz bestand es jedoch weiter.

Wer rechtswidrige Befehle ausführte oder ihren Vollzug förderte, verstieß auch zur Zeit des zweiten Weltkriegs gegen allgemein gültige Rechtsnormen und machte sich somit mitschuldig am Unrecht. Die Berufung auf einen "Befehlsnotstand" vermag die Befolgung von widerrechtlichen Befehlen nicht zu rechtfertigen. Die Kommission hat in ihren Untersuchungen eine Anzahl von Vorfällen festgestellt, in denen Offiziere die Verantwortung übernommen hatten, rechtswidrige Befehle zu umgehen oder ihnen sogar zuwiderzuhandeln, ohne daß ihnen daraus erhebliche Nachteile erwachsen wären. Die Behauptung, "Widerstand gegen die Befehlsgewalt wäre von vornherein Selbstmord gewesen", kann aufgrund dieser Erfahrungen in einer derart kategorischen Form nicht anerkannt werden - obgleich eingeräumt werden muß, daß niemand eine Gewähr dafür besaß, der Rache des Systems zu entgehen.

b) Waldheim ist zugute zu halten, daß ihm für einen Widerstand gegen das Unrecht nur äußerst bescheidene Möglichkeiten offenstanden. Solche Aktionen hatten, je nach der Stufe, auf der sie unternommen wurden, sehr unterschiedliches Gewicht. Für einen jungen Stabsangehörigen, der auf Heeresgruppenebene keine eigene Befehlsgewalt besaß, waren die praktischen Möglichkeiten des Gegenhandelns sehr gering und hätten mit aller Wahrscheinlichkeit kaum zu einem greifbaren Ergebnis geführt. Sie hätten sich wohl auf einen formellen Protest oder auf die praktische Ablehnung seiner Mitarbeit beschränken müssen, was zwar als mutige Tat erschienen wäre, aber kaum zu einem praktischen Erfolg geführt hätte. Ein derartiges Handeln von Waldheim ist nicht bekannt geworden. Auch das der Kommission längst bekannte und in der Presse zitierte Dokument vom 25. 5. 1944, in dem Waldheim angeblich gegen übertriebene Sühnemaßnahmen protestiert haben soll (es handle sich um ein monatliches "Feindnachrichtenblatt Griechenland"), enthält keinen Protest gegen die Anwendung der Sühnemaßnahmen, sondern lediglich pragmatische Hinweise auf die "Dosierung" dieser Maßnahmen und keine "Kritik an Balkangreueln", wie es in einigen Presseberichten lautete. Ein "Feindnachrichtenblatt" war ohnehin kein Ort für "Proteste". Im übrigen ist die Kritik an exzessiven kontraproduktiven Sühnemaßnahmen schon befehlsmäßig ausgesprochen gewesen (Befehl vom 22. 12. 43) und auch von General Speidel anläßlich des Kalavrita-Massakers im Dezember 1943 ausführlich ausgesprochen worden. Das Dokument beweist übrigens ein weiteres Mal, daß Waldheim über Sühnemaßnahmen im Bilde war.

c) Auch in der Berufung auf Unvollständigkeit und Unklarheit im kodifizierten Kriegsrecht kann keine Entschuldigung im Falle von Mitwirkung bei offensichtlichem Unrecht liegen. Die damals maßgebende kriegsvölkerrechtliche Hauptvorschrift für das Verhalten im Landkrieg, die Haager Landkriegsordnung von 1907, war sich ihrer Unvollständigkeit bewußt und schrieb deshalb in ihrer Eingangsformel (Martens'sche Klausel) vor, daß im Krieg überall dort, wo der Konvention keine konkrete Vorschrift entnommen werden konnte, nach den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, den Gesetzen der Menschlichkeit und den Forderungen des öffentlichen Gewissens gehandelt werden müsse.

Beispielsweise fehlte im Haager Recht ein ausdrückliches Verbot der Geiselnahme; daraus durfte aber keineswegs das Recht abgeleitet werden, in der Frage der Geiselnahme (oder auch sonstiger Repressalien) unverhältnismäßige und exzessive Maßnahmen anzuwenden, zum Beispiel in der Festlegung übertrieben grausamer "Quoten" bei "Sühnemaßnahmen". Aus denselben Überlegungen durfte auch der Krieg gegen die Partisanen nicht schrankenlos geführt werden, mit der Begründung, daß diese nach dem damaligen Recht nicht den kriegsrechtlichen Schutz als Kombattanten genossen. Diese Feststellungen gelten trotz der von nationalsozialistischen Verfassungsjuristen und Staatsrechtlern vertretenen Auffassung, daß Hitler Inhaber der obersten Rechtsetzungsbefugnis war. Hitler konnte anerkannte Regeln des Kriegsvölkerrechts nicht außer Kraft setzen.

d) Bei der Beurteilung der Haltung der verantwortlichen Führungsstellen muß auch der besondere Charakter des mit unmenschlicher Härte und Grausamkeit geführten Krieges auf dem Balkan berücksichtigt werden, zumal es sich dabei um einen Volkskrieg gegen die fremden Invasoren und deren Kollaborateure handelte. Zu bedenken ist jedoch, daß die deutschen Okkupanten den besonderen Charakter dieses Krieges mitverursacht hatten, wozu auch die Ausnützung der bestehenden ethnischen und politischen Gegensätze auf dem Balkan gehörte. Die Ic/AO-Gruppen der verschiedenen Stäbe waren hier besonders intensiv tätig.

7. Die Kommission sieht ihren Auftrag im Zusammenhang mit Waldheims Darlegungen zu seiner militärischen Vergangenheit. Sie folgt in ihrem Bericht nicht den vielen bekanntgewordenen kritischen Stellungnahmen, sondern beschränkt sich darauf, vom eingesehenen Material auszugehen.

Waldheims Darstellung seiner militärischen Vergangenheit steht in vielen Punkten nicht im Einklang mit den Ergebnissen der Kommissionsarbeit. Er war bemüht, seine militärische Vergangenheit in Vergessenheit geraten zu lassen, und sobald das nicht mehr möglich war, zu verharmlosen. Dieses Vergessen ist nach Auffassung der Kommission so grundsätzlich, daß sie keine klärenden Hinweise für ihre Arbeit von Waldheim erhalten konnte.(1)

Wien, am 8. Februar 1988, 12.00 Uhr

James L. Collins Jr. m.p. H. R. Kurz m.p.
  Jean Vanwelkenhuyzen m.p.
  Gerald Fleming m.p.
Hagen Fleischer m.p. J. L. Wallach m.p.
  M. Messerschmidt m.p.

profil (profil-dokumente), 15. 2. 1988, Nr. 7, S. 42-44.

(1) Dies geht aus dem Protokoll der Besprechung der Kommission mit dem Bundespräsidenten hervor (Anlage) [nicht abgedruckt]. 


Dokument 3

Rede des Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim am Vorabend des 50. Jahrestages des "Anschlusses" Österreichs an Hitlerdeutschland im Österreichischen Fernsehen.

Wir gedenken der Ereignisse, die uns vor Jahren in die wohl düsterste Epoche unserer jüngeren Geschichte führten. Vor allem junge Menschen fragen mich immer wieder: Was ist damals wirklich geschehen? Was waren die Ursachen dieser Ereignisse? Welche Lehren sind daraus für Gegenwart und Zukunft zu ziehen? Wir Älteren, als Zeitzeugen, müssen Rede und Antwort stehen, um die Vertrauenskrise, die quer durch alle Generationen geht, zu überwinden.

Lassen Sie mich zunächst sagen, wie ich selbst jenen 11. März 1938 erlebt habe. Ich war damals 19 Jahre alt. Ich saß mit meinen Eltern und Geschwistern in unserer Wohnung, und wir hörten die Worte des damaligen Bundeskanzlers aus dem Radio: "Wir weichen der Gewalt - Gott schütze Österreich!" Es war der Untergang unserer österreichischen Heimat. Meiner Mutter rannen die Tränen über die Wangen. Wir spürten zutiefst die auf uns zukommende Tragödie. Schon am nächsten Tag wurde mein Vater - ein aufrechter österreichischer Patriot - von der Gestapo abgeführt, eingesperrt und vom Dienst entlassen. So wie meiner Familie ging es auch unzähligen anderen.

Gleichzeitig gab es Hunderttausende von Österreichern, die den Anschluß begrüßten, Hitler und den Einmarsch bejubelten und Hoffnungen daran knüpften, die sich bald als trügerisch herausstellen sollten. Es war eine Massenpsychose, wie sie nur totalitäre Regimes zustande bringen. Heute wissen wir, daß man bereits den ersten Anfängen der Verhetzung und Intoleranz wehren muß. Heute wissen wir, wohin das Schüren von Fanatismus, Haß und Gewalt führt. Heute wissen wir, daß mit dem 11. März 1938 eine Lawine des Leidens losgetreten wurde.

Es war eine Lawine des Leidens, die politisch Andersdenkende und - in einem grauenhaften Rassenwahn - unsere jüdischen Mitbürger unter sich begrub. Der Holocaust ist eine der größten Tragödien der Weltgeschichte. Millionen jüdischer Menschen wurden in den KZ's vernichtet. Diese Verbrechen sind durch nichts zu erklären und durch nichts zu entschuldigen. Ich verneige mich in tiefem Respekt vor diesen Opfern, die uns stets Mahnung und Auftrag sein müssen.

Die Lawine des Leidens hat aber auch zahllose Männer und Frauen des Widerstandes erfaßt, die ihr Leben für die Freiheit Österreichs lassen mußten.

Vergessen sind auch nicht die vielen Zivilopfer der damaligen Zeit und jene Soldaten, die aus den Schrecken des Krieges nicht mehr heimgekehrt sind. So gab es am Ende kaum eine Familie, die nicht in Schmerz und Trauer den Tod eines der Ihren beklagte. Meine Anteilnahme gilt den vielen Witwen und Waisen.

Ungeteilte Bewunderung verdienen die österreichischen Frauen, die als erste 1945 mit viel Patriotismus und Mut den Wiederaufbau begonnen haben.

Der Blick in den Spiegel unserer Geschichte zeigt uns nicht nur ein einziges Antlitz, denn das Bild eines Volkes ist vielgesichtig. Wir dürfen nicht vergessen, daß viele der ärgsten Schergen des Nationalsozialismus Österreicher waren. Es gab Österreicher, die Opfer, und andere, die Täter waren. Erwecken wir nicht den Eindruck, als hätten wir damit nichts zu tun. Selbstverständlich gibt es keine Kollektivschuld, trotzdem möchte ich mich als Staatsoberhaupt der Republik Österreich für jene Verbrechen entschuldigen, die von Österreichern im Zeichen des Nationalsozialismus begangen wurden.

Als Staat war Österreich das erste Opfer Hitlers. Daran ist nicht zu rütteln. Obwohl es sich wie kein zweites Land durch Jahre hindurch dem politischen und wirtschaftlichen Druck des Dritten Reiches widersetzt hatte, ist es untergegangen. Allerdings hatte uns die internationale Staatengemeinschaft keine Hilfe gegen die Aggression gewährt.

Österreich war dann für sieben Jahre zwar von der Landkarte, nicht aber in den Herzen seiner Bürger ausgelöscht. Im Angesicht von Krieg und Tod, Leiden und Schmerzen reifte die Sehnsucht nach einem neuen, einem friedlichen, einem menschlichen - einem besseren Österreich!

Was der Haß einst entzweite, wollte zueinander finden, was verhängnisvolles Irren leichtfertig aufgab und verspielte, wurde nun in seinem wahren Wert gesehen: der Glaube an ein gemeinsames Österreich, das Hoffen auf eine gemeinsame Zukunft, die Chance für einen gemeinsamen Neubeginn.

Österreich hat diese Chance genutzt, im Bewußtsein seiner Fehler und seiner Stärken, gereift, erfahren und geprüft. Heute wissen wir, wie verhängnisvoll sich die Zerstörung der Demokratie und der Bürgerkrieg von 1934 ausgewirkt hatten. Österreich hat jedoch aus seiner Geschichte gelernt und in den vergangenen vier Jahrzehnten der Welt bewiesen, daß es Frieden und Freiheit, Menschlichkeit und Toleranz unverbrüchlich achtet.

Aber auch die Welt ist sich bewußt geworden, daß ein neutrales und stabiles Österreich in einem geopolitisch so sensiblen Raum im Interesse der Staatengemeinschaft liegt. Denn eines ist sicher: Mit dem Untergang Österreichs wurden der Zweite Weltkrieg und die Zerstörung Europas eingeleitet.

Unser Land ist offen gegenüber Kritik. Als Staatsoberhaupt unserer Republik ersuche ich daher die Kritiker um Fairneß und Objektivität. Ich ersuche sie, Österreich nicht nur im Lichte der Schrecknisse der Vergangenheit, sondern auch im Lichte seiner Bewährung in der Gegenwart zu sehen.

Ich bitte Sie, von Pauschalurteilen Abstand zu nehmen, unqualifizierte Vorwürfe zu unterlassen und Österreich so zu betrachten, wie es sich in den späten achtziger Jahren darstellt: Gefestigt und gesprächsbereit, weltoffen und hilfsbereit, selbstbewußt und der Zukunft zugewandt.

Als Ihr gewählter Bundespräsident appelliere ich aber auch an Sie, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, gegen die Schatten der Vergangenheit anzukämpfen. Der Sinn dieser Tage liegt in der Besinnung, nicht im Streit. Der Sinn dieser Tage liegt im Verstehen, nicht im Weghören. Der Sinn dieser Tage kann nur eines bedeuten: Versöhnung.

Es gibt nur einen Weg für Österreich: Das ist der Weg in die Zukunft. Ein Rückblick ohne Ausblick wäre der falsche Weg, wäre entweder eine schale Geste oder der Versuch, vor den Herausforderungen der Gegenwart zu flüchten. Die Tage des Gedenkens sind auch Tage des Nachdenkens über das Österreich von heute. Die Tage des Nachdenkens sind somit die Chance für einen neuen Anfang, für eine Neuordnung des öffentlichen Lebens, für eine Besinnung auf jene politischen Tugenden, die unsere Republik fundieren. Die verbreitete Verdrossenheit und das wachsende Unbehagen zahlreicher Bürger müssen von Parteien und Politikern ernst genommen werden. Die unleugbaren Erfolge und Verdienste beim Aufbau eines geordneten demokratischen Gemeinwesens dürfen nicht als Ausrede für manche Trägheit und Reformscheu verwendet werden.

Das Vertrauen der Bürger ist das kostbarste Kapital einer Demokratie. Es ist ein Kapital, das ständig gehegt und erneuert werden will. Nicht mit leeren Worten, sondern mit überzeugenden Taten, nicht mit oberflächlichen Appellen, sondern mit ernstgemeinten Reformen.

Der unschöne Reigen von Skandalen und Affären, mit denen wir in den letzten Jahren konfrontiert wurden, unterstreicht die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des öffentlichen Lebens, macht die Verbesserung des moralischen Standards für alle, die im öffentlichen Interesse zu handeln und zu arbeiten haben, unabdingbar. Ich werde in den kommenden Monaten die Autorität meines Amtes nützen, um in Gesprächen mit Vertretern aller politischen Institutionen Österreichs die Konturen und Perspektiven einer solchen Reform auszuloten. Die moralische Erneuerung unserer Republik ist ein Unterfangen, das nur dann zum erwünschten Erfolg führen kann, wenn es von allen Verantwortlichen gemeinsam gewollt und getragen wird.

Ich hoffe dabei vor allem auf das Engagement und die Mitarbeit der jüngeren Generationen. Es ist gerade unsere Jugend, die manchen Unzulänglichkeiten des öffentlichen Lebens mit besonderer Kritik begegnet. Es ist die Jugend Österreichs, die jenen Idealismus und jenen Reformschwung einbringen könnte, der uns alle mitreißt und zum Handeln bringt.

Es ist die Jugend Österreichs, die einmal für diese Republik die Verantwortung übernehmen wird. Übergeben wir ihr ein Erbe, das sie nicht zu Boden drücken wird. Hinterlassen wir ihr keine Bürden, die sie nicht bewältigen kann. Errichten wir keine Barrieren, die ihr den Weg in die Zukunft verstellen. Übernehmen wir die Verantwortung für unsere Fehler in einer Form, die geeignet ist, künftig Fehler zu vermeiden. Lieben wir unser Land ohne falsche Scham und überheblichen Stolz. Tun wir alles, damit Österreich weiterhin in den Herzen seiner Jugend Platz findet:

Als ein Land, das mit sich selbst ins reine gekommen ist.

Als ein Land, das aus der Geschichte gelernt hat.

Als ein Land, das trotz mancher Fehler Zuneigung verdient.

Als unser gemeinsames "vielgeprüftes, vielgeliebtes" Österreich!

Zit. n. Othmar Karas (Hrsg.), Die Lehre. Österreich: Schicksalslinien einer europäischen Demokratie, Wien 1988, S. 7-17.