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Approval Voting
(Ein Plädoyer für ein Instrument der konsensorientierten Entscheidungsfindung)

Autor:Lumma Liborius
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2012-10-09

Inhalt

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1) Einleitung

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In nahezu allen mir bekannten Gremien werden Entscheidungen, bei denen mehrere Alternativen zur Auswahl stehen, nach folgendem Verfahren getroffen: In einem ersten Wahlgang haben alle Stimmberechtigten jeweils eine Stimme, diese geben sie für ihre präferierte Option ab. Hat keine Option die absolute Mehrheit erreicht, kommt es zu einer Entscheidung zwischen den beiden stimmenstärksten Optionen des ersten Wahlgangs. Nun findet sich eine Mehrheit, die Entscheidung ist getroffen.

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Diese Form der Abstimmung gilt gemeinhin als demokratisch und gerecht, und sie wird zumeist unhinterfragt angewendet. (Auch Österreich, Frankreich und viele weitere Staaten wählen auf diese Weise ihr Staatsoberhaupt.)

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Ich möchte im Folgenden darlegen, warum ich dieses Verfahren für einen – jedenfalls in bestimmten Konstellationen – ungeeigneten Weg der Entscheidungsfindung halte. Dies gilt besonders in Gruppen, die auf fruchtbares Zusammenwirken möglichst vieler – wenn nicht aller – Mitglieder angewiesen sind oder die auf einer gemeinsamen weltanschaulichen Basis oder gemeinsamen Interessen gründen.

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2) Ein Rechenbeispiel

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Ein einfaches Beispiel zur Illustration: Eine Gruppe besteht aus 51 Personen. In einer wichtigen Sachfrage gibt es erhebliche Meinungsunterschiede zwischen den „Schwarzen“ und den „Weißen“, zu denen sich jeweils 20 Personen rechnen lassen. Daneben gibt es 11 „Graue“, die nicht auf schwarz oder weiß festgelegt sind, sondern eine mittlere Position vertreten. Die Gruppe muss einen neuen Vorsitzenden wählen. Es kandidieren ein schwarzer Kandidat, ein weißer und ein grauer.

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Fall 1: Das übliche Verfahren mit Stichwahl der beiden Erstplatzierten:

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Das Ergebnis der Wahl fällt wie folgt aus: Schwarzer Kandidat 20 Stimmen, weißer Kandidat 20 Stimmen, grauer Kandidat 11 Stimmen. Es kommt zur Kampfabstimmung zwischen den beiden Erstplatzierten. Die Grauen müssen sich nun neu entscheiden, da ihr Kandidat nicht mehr zur Wahl steht: 6 von ihnen tendieren eher zu schwarz, 5 zu weiß. Das neue Ergebnis: Schwarz 26 Stimmen, Weiß 25. Der schwarze Kandidat hat gewonnen, mit knappstmöglicher Mehrheit.

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Fall 2: Wegfall des schwarzen Kandidaten:

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Kurz vor der Wahl – zu einem Zeitpunkt, da keine Nachnominierungen mehr zulässig sind – erkrankt der schwarze Kandidat und muss auf die Kandidatur verzichten. Es stehen somit nur noch der graue und der weiße Kandidat zur Wahl. Die schwarzen Wähler wählen bei dieser Alternative den grauen Kandidaten. Das Ergebnis lautet: Grau 31 Stimmen, Weiß 20. Der graue Kandidat gewinnt also sehr deutlich, nähert sich sogar der Zweidrittelmehrheit.

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Fall 3: Wegfall des weißen Kandidaten:

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Die umgekehrte Situation zu Fall 2: Der weiße Kandidat fällt aus. Die weißen Wähler wählen den grauen Kandidaten. Das Ergebnis: Grau 31 Stimmen, Schwarz 20.

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Angesichts dieser Resultate stellt sich die Frage, ob nicht gerade der graue Kandidat unter allen dreien der geeignetste wäre, den Vorsitz der Gruppe zu übernehmen. Im direkten Vergleich mit jedem der anderen Kandidaten verfügt er über eine – noch dazu deutliche – Mehrheit, während bei einer Stichwahl zwischen den beiden anderen Kandidaten nur eine äußerst knappe Mehrheit erreicht wird, noch dazu von einem Vertreter einer Extremposition.

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Das Verfahren der Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten ist also ungeeignet, eine möglichst konsensfähige, das heißt eine von einer breiten Mehrheit getragene Lösung zu begünstigen.

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3) Das „Approval Voting“ als alternative Methode

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Im Gegensatz zum Verfahren der Stichwahl bietet das „Approval Voting“, das im Deutschen auch „Wahl durch Zustimmung“ genannt wird, eine Möglichkeit, mittels eines einzigen Wahlgangs diejenige Lösung hervorzubringen, die am ehesten konsensfähig ist. Beim Approval Voting gilt: Alle Wähler können nicht nur eine, sondern beliebig viele Optionen wählen – nämlich all jene, mit denen sie einverstanden sind.

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In obigem Beispiel könnte das folgende Auswirkung haben: Alle 20 schwarzen Wähler geben dem schwarzen Kandidaten eine Stimme. 11 von ihnen geben zugleich dem grauen Kandidaten eine Stimme, weil sie ihn zwar nicht favorisieren, ihn aber doch gut akzeptieren könnten und ihn für den Vorsitz für geeignet halten. 9 weitere geben dem grauen Kandidaten keine Stimme, wählen also nur schwarz. Keiner der schwarzen Wähler gibt dem weißen Kandidaten seine Stimme.

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Die 20 weißen Wähler geben dem weißen Kandidaten ihre Stimme; 12 von ihnen geben zugleich dem grauen Kandidaten ihre Stimme.

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Die 11 grauen Wähler geben dem grauen Kandidaten ihre Stimme, 5 von ihnen geben außerdem dem schwarzen Kandidaten eine Stimme, 3 geben dem weißen Kandidaten eine Stimme, 2 graue Wähler geben sowohl dem schwarzen als auch dem weißen Kandidaten eine Stimme (sie wählen also alle drei Kandidaten!), 1 grauer Wähler wählt ausschließlich den grauen Kandidaten.

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Das Ergebnis lautet nun:

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Schwarz         27 Stimmen

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Grau               34 Stimmen

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Weiß               25 Stimmen

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Durch das Approval Voting ist deutlich geworden, welcher der Kandidaten der konsensfähigste ist, nämlich der graue Kandidat; in diesem Fall erhält er exakt zwei Drittel der Stimmen. Der schwarze Kandidat erreicht eine absolute Mehrheit, der weiße verfehlt sie um eine Stimme; beide liegen aber weit hinter dem grauen Kandidaten zurück, der damit gewählt ist.

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4) Praktische Durchführung

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Das Approval Voting erfordert nur einen einzigen Wahlgang. Wird geheim abgestimmt, so werden auf dem Stimmzettel alle wählbaren Optionen aufgelistet. Jeder Wähler kann so viele Optionen ankreuzen, wie er möchte.

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Ein Approval Voting kann auch offen durchgeführt werden. Jede Option wird einzeln aufgerufen und unter der Fragestellung „Sind Sie mit dieser Option einverstanden?“ von allen mit Ja oder Nein beantwortet. Jeder Wähler darf so oft Ja oder Nein stimmen, wie er möchte.

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5) Anwendungsfelder des Approval Voting

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Das Approval Voting ist als Verfahren nicht geeignet, wenn eine „Richtungsentscheidung“ zwischen (meist zwei) scharf voneinander abgegrenzten Alternativen erreicht werden soll. Die Demokratien der USA und des Vereinigten Königreichs mit ihren De-facto-Zweiparteiensystemen funktionieren seit vielen Jahrzehnten nach diesem Prinzip; das sei auch nicht in Frage gestellt.

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In anderen Konstellationen ist aber eine konsensorientierte Entscheidung wünschenswert, z.B.

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  • bei der Wahl eines Betriebsratsvorsitzenden (oder allgemeiner gesagt: wenn jemand die Interessen möglichst aller Wähler zu vertreten hat),
  • bei der Beschlussfassung über ein Parteiprogramm oder über die Verfassung eines Staates (wenn verschiedene Tendenzen unter einen Hut gebracht werden sollen),
  • bei der Wahl eines Forschungsthemas durch eine Forschergruppe (wenn ein Projekt entwickelt werden soll, an dem möglichst alle mitwirken können),
  • bei der Wahl eines Schiedsrichters in einem Streit (wenn der Erfolg von der Zustimmung aller Beteiligten abhängt),
  • bei der Wahl eines Dekans durch eine Universitätsfakultät (wenn ein Team seinen eigenen Repräsentanten nach außen und/oder seinen Vorgesetzten bestimmt),
  • bei der Findung eines Termins (wenn möglichst alle anwesend sein sollen),
  • oder – ein kirchliches Beispiel – bei der Wahl eines Bischofs durch eine Synode (wenn jemand unter dem Anspruch steht, allen gegenüber – und nicht nur seiner eigenen Anhängerschaft – einen geistlichen Dienst auszuüben).
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6) Anwendungsbeispiel I: UN-Generalsekretär

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Zu den wenigen politisch bedeutsamen Ämtern, die derzeit durch Approval Voting vergeben werden, gehört das Amt des Generalsekretärs der Vereinten Nationen. Die UN sind eine Gemeinschaft souveräner Staaten; zugleich ist der Generalsekretär wichtigster Vermittler in Kriegs- und Krisensituationen. Ein möglichst breiter Konsens ist für die Besetzung dieses Amtes unerlässlich. Der derzeit amtierende UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon kam 2006 durch Approval Voting im UN-Sicherheitsrat ins Amt, wobei die 15 Mitglieder nicht nur Ja oder Nein stimmen, sondern auch auf die Stimmabgabe verzichten konnten. Ban erhielt 14 Ja-Stimmen, 0 Nein-Stimmen, 1 nicht abgegebene Stimme; der nächstplatzierte Shashi Tharoor erhielt 10 Ja-Stimmen, 3 Nein, 2 nicht abgegebene Stimmen; alle übrigen erreichten weniger als die absolute Mehrheit der möglichen Ja-Stimmen. Ban wurde somit vom Sicherheitsrat vorgeschlagen und dann von der UN-Vollversammlung gewählt.

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7) Ein Exkurs in die katholische Welt: Papstwahl und Approval Voting

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Die Wahl des Bischofs von Rom durch das Konklave ist kein Approval Voting, sie hat aber gewisse Intuitionen aufgegriffen, die auch für das Approval Voting leitend sind. Die Papstwahlordnung wurde vor Jahrhunderten festgelegt, um von vornherein eine spätere Spaltung der Kirche, die Nichtanerkennung des gewählten Papstes bzw. die Nominierung eines Gegenpapstes durch eine starke Opposition möglichst zu verhindern. Im Konklave hat jeder Wähler – anders als beim Approval Voting – nur eine einzige Stimme, es ist aber für die erfolgreiche Wahl eine Zweidrittelmehrheit vorgeschrieben. (Die Grenze von zwei Dritteln ist willkürlich festgelegt, sie scheint aber bis heute als zählbares Mindestmaß für „breiten Konsens“ anerkannt zu sein.) Besteht nur eine knappe absolute Mehrheit, so kann sich diese Mehrheit nicht darauf verlassen, ihren Kandidaten letztlich in einer Stichwahl durchsetzen zu können – da es keine Stichwahl gibt: Es wird so lange gewählt, bis eine Zweidrittelmehrheit erreicht ist. Durch die kargen äußeren Rahmenbedingungen des Konklaves, das in völliger Abgeschiedenheit von der Außenwelt und in recht spartanischen Verhältnissen durchgeführt wird und mehrere Wochen dauern kann, sollen sowohl Einflüsse von außen verhindert als auch die Kardinale notfalls durch körperliche Zermürbung zu größtmöglicher Kompromissbereitschaft und Konsensfähigkeit gezwungen werden – in gewisser Weise also vielleicht doch etwas wie ein Approval Voting „durch die Hintertür“ bei einem der wichtigsten religiösen Ämter der Welt.

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Dass Papst Johannes Paul II. in seiner Apostolischen Konstutition Universi Dominici Gregis 1996 eine neue Wahlordnung erließ, die es nach dem 33. Wahlgang ermöglichte, einen Papst auch mit absoluter Mehrheit zu wählen (also deutlich weniger als zwei Drittel; s. Artikel 75), nahm der Papstwahl ihre entscheidende Pointe: Eine knappe Mehrheit konnte nun durch Aussitzen der 33 Wahlgänge ihren Willen spätestens in einer Stichwahl durchsetzen – de facto war damit das Konsensideal abgeschafft. Es war nur folgerichtig, dass Papst Benedikt XVI. diese Statutenänderung in seinem Motu proprio De aliquibus mutationibus in normis de electione Romani Pontificis 2007 wieder revidierte. Der Nachfolger von Benedikt XVI. wird also im Konklave wieder zwingend eine Zustimmung von zwei Dritteln der teilnehmenden Kardinäle erreichen müssen.

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8) Anwendungsbeispiel II: Ein Erfahrungsbericht

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Mir selbst ist es bisher nur ein einziges Mal gelungen, ein Approval Voting durchzusetzen. Es handelte sich um eine Fachtagung mit ca. 40 Teilnehmern, die ihr Tagungsthema für das nächste Treffen festzulegen hatte. Es wurde eine Reihe von 10–12 Themenvorschlägen gesammelt, nun war abzustimmen. Doch nach welchem Verfahren? Sollte jeder eine einzelne Stimme erhalten? Oder zwei Stimmen? Oder drei? Warum genau diese Zahl? Sollte die relative Mehrheit im ersten Wahlgang genügen? Oder braucht es eine Stichwahl zwischen den beiden erstplatzierten Vorschlägen? Oder den ersten dreien? Was ist mit Themenvorschlägen, die einander recht ähnlich sind und die sich darum gegenseitig die Stimmen wegnehmen?

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In dieser Situation schlug ich ein Approval Voting vor, das dann durch offene Abstimmung durchgeführt wurde. In meiner Erinnerung erreichte eines der vorgeschlagenen Themen 28 Stimmen, ein weiteres 27, eines lag bei etwa 20 Stimmen, alle anderen deutlich darunter. Mit diesem einen Wahlgang war das konsensfähigste der Themen gefunden, nämlich das mit 28 Stimmen.

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(Leider endet die Geschichte hier noch nicht: Die Versammlung setzte jetzt nämlich noch eine Stichwahl zwischen den beiden erstplatzierten Vorschlägen an – das aber wäre nur sinnvoll gewesen, wenn die beiden exakt dieselbe Stimmenzahl erhalten hätten.)

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9) Fazit

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Ich fasse meine Darlegung in drei Thesen zusammen:

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These 1:

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Die Festlegung einer bestimmten Stimmenzahl pro Wähler (meistens „jeder hat genau eine Stimme“) ist in vielen Konstellationen nur scheindemokratisch. Sie lässt außer Acht, dass manche Wähler mit mehreren Alternativen in gleicher oder ähnlicher Weise sympathisieren oder von sich aus von vornherein an einer konsensorientierten Lösung interessiert sind.

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These 2:

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Das Prinzip der „Stichwahl zwischen den beiden Erstplatzierten“ ist ebenfalls in vielen Konstellationen nur scheindemokratisch. Es lässt außer Acht, dass womöglich andere Alternativen in höherem Maße mehrheitsfähig sein könnten.

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These 3:

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Das Approval Voting bringt immer in nur einem einzigen Wahlgang die konsensfähigste Lösung hervor.

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Ich behaupte nicht, dass das Approval Voting immer die geeignetste Wahlmethode darstellt. Aber als eine Möglichkeit zur konsensorientierten Entscheidungsfindung gehört das Approval Voting fest im kollektiven Bewusstsein einer demokratischen Kultur und in den Geschäftsordnungen aller Gruppen verankert, die auf eine fruchtbare Zusammenarbeit möglichst vieler – wenn nicht aller – Mitglieder angewiesen sind.

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10) Weblinks zur Vertiefung

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Zur den Stärken und Schwächen verschiedener Wahlsysteme – darunter auch die in meinem Beispiel zwischen schwarzem, weißem und grauen Kandidat implizierte „Condorcet-Methode“ –, zu komplexeren Varianten des Approval Voting (z.B. das „Instant Runoff Voting“, das in einigen Ländern bei Wahlen Anwendung findet), zu möglichen Auswirkungen „taktischen Wählens“ und zur Kritik am Approval Voting empfehle ich zum Einstieg folgende Weblinks:

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http://www.wissenschaft-online.de/statisch/praesident.php

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http://bcn.boulder.co.us/government/approvalvote/altvote.html (bes. Abschnitt 6)

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http://www.fairvote.org/why-approval-voting-is-unworkable-in-contested-elections

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http://www.wahlrecht.de

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http://www.accuratedemocracy.com

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