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Fragmentierung sozialer Realität als Herausforderung für eine verantwortliche Gesellschaftsgestaltung

Autor:Guggenberger Wilhelm
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2008-11-06

Inhalt

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Die Frage der Fragmentierung menschlichen Lebens und ihrer Erfahrung kann und muss natürlich individualpsychologisch thematisiert werden. Mein Zugang wendet sich jedoch gesellschaftsstrukturellen Phänomenen zu, die uns insbesondere mit der Brüchigkeit und Hinfälligkeit unserer Bemühungen um eine verantwortliche Gestaltung des Sozialen konfrontieren.

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Ich werde in vier Schritten vorgehen. Zunächst möchte ich kurz auf die Ambivalenz oder Dialektik der menschheitlichen Macht in der Moderne eingehen, um daran anschließend Elemente der sich daraus ergebenden Fragmentaritätserfahrungen aufzuzeigen. In einem dritten Schritt werde ich thematisieren, dass diese Fragmentarität - paradoxer Weise - nicht nur erschreckt, sondern auch fasziniert und entlastet. Und schließlich gilt es anzudenken, welche Aufgaben sich daraus für Ethik bzw. für Moraltheologie ergeben.

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1) Ambivalenz und Zerrissenheit des zeitgenössischen Menschen

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Da man dem zweiten Vatikanum wohl kaum vorwerfen kann, es sein von pessimistischer Apokalyptik angekränkelt, möchte ich an dieser Stelle Gaudium et Spes als Kronzeugen für das anführen, worum es mir geht, wenn ich von der Ambivalenz und Zerrissenheit des zeitgenössischen Menschen spreche.1 Im Vorwort der Pastoralkonstitution heißt es: "Gewiss ist die Menschheit in unseren Tagen voller Bewunderung für die eigenen Erfindungen und die eigene Macht; trotzdem wird sie oft ängstlich bedrückt durch die Frage nach der heutigen Entwicklung der Welt, nach Stellung und Aufgabe des Menschen im Universum, nach dem Sinn seines individuellen und kollektiven Schaffens, schließlich nach dem letzten Ziel der Dinge und Menschen." (GS 3) Daraufhin werden eine ganze Reihe von Aporien angeführt, an denen sich diese Besorgnis entzündet. Sie sind Ausdruck einer Wachstumskrise, die sich daraus ergibt, dass das von Menschen schöpferisch Gestaltete auf sie zurückwirkt und dabei immer wieder ihrer Lenkung entgleitet, sodass die Welt in der wir leben einen "dramatischen Charakter" angenommen hat. Diese Dramatik bringt dort auf den Punkt, wo es heißt: "Unter diesen Umständen zeigt sich die moderne Welt zugleich stark und schwach, in der Lage, das Beste oder das Schlimmste zu tun; für sie ist der Weg offen zur Freiheit oder Knechtschaft, Fortschritt oder Rückschritt, Brüderlichkeit oder Hass. Zudem wird nun der Mensch sich dessen bewusst, dass es seine eigene Aufgabe ist, jene Kräfte, die er selbst geweckt hat und die ihn zermalmen oder ihm dienen können, richtig zu lenken. Wonach er fragt, ist darum er selbst." (GS 9)

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Diese ausgesprochen drastische Textpassage erinnert an Dtn 30,19: "Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen." Die Thematik scheint somit eine uralte und wie die Frage des Menschen nach sich selbst eine schlechterdings universale zu sein. Sie erwächst aus der grundlegenden Zwiespältigkeit des Menschen (vgl. GS 10). Er erfährt sich zugleich beschränkt durch seine vielfältige geschöpfliche Begrenztheit, und unbegrenzt in seinem Verlangen, das allerdings selbst Teil seiner Geschöpflichkeit ist, ja sogar Ausdruckseiner Gottebenbildlichkeit. Was diese Thematik in unserer Gegenwartswelt aber doch auf ganz neue Weise zuspitzt, sie in eine Situation der Verschärfung führt, wie Raymund Schwager es genannt hätte, ist das Ausmaß der gegenwärtig menschlich verfügbaren Macht.

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Noch nie konnte die Menschheit so viel, noch nie war sie so unabhängig von ihren natürlichen Vorgegebenheiten, bis hin zu den eigenen Erbanlagen und der Molekularstruktur der Materie. Dass man Macht auch missbrauchen kann ist eine Binsenweisheit. Aber darum geht es mir hier nicht vorrangig. Das erstaunliche ist doch, dass mit der Macht auch die Ohnmacht wächst, dem Zuwachs an Können scheint ein Zuwachs an Unvermögen zu entsprechen. Und das heißt auch: mit dem Verantwortungsanspruch, den Macht mit sich bringt, wächst die Erfahrung eigentlich immer weniger verantworten zu können. Mir scheint, dass gerade daraus ein Gutteil der gegenwärtigen Dramatik unserer Weltlage resultiert.

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Hans Jonas hat versucht diese merkwürdige Situation dadurch auszudrücken, dass er von unterschiedlichen Stufen oder Graden der Macht sprach. Die erst Stufe der Macht entspricht der menschlichen Herrschaft über die Natur, deren Gefährlichkeit ausgerechnet in der Größe ihres Erfolgs begründet ist.2 Diese Macht - so Jonas weiter - ist selbstmächtig geworden. Angesichts dessen dürfe die Menschheit nun nicht quietiv auf Macht verzichten, sondern müsse vielmehr versuchen, Macht über die Macht zu erringen, also einen dritten Grad, eine dritte Stufe der Macht. Die Initiative dazu müsse von der Gesellschaft ausgehen, denn private Einsicht oder Verantwortung sei dieser Aufgabe nicht gewachsen.

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Als ein Erfahrungsfeld solch selbstmächtig gewordener Macht möchte ich auf die Ökonomie verweisen. Ich stelle damit freilich zugleich die Behauptung auf, dass nicht nur Technik eine menschenerzeugte Herrschaftsweise über Natur darstellt, die unserer Verfügung entgleiten kann - daran wird man wohl zuerst denken -, sondern dass diese sich auch in Sozialstrukturen niederschlagen kann.

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Was im Bereich der Ökonomie mit Hilfe neuer Technologie, aber auch durch veränderte Organisationsstrukturen der Wirtschaft selbst an Entwicklung und Fortschritt erreicht wurde, ist überwältigend. Wir wissen heute allerdings auch um die insbesondere ökologischen Probleme, die aus dieser Erfolgsgeschichte resultieren und die wiederum soziale Spannungen und Konflikte nach sich ziehen können. Interessanterweise gibt es aber auch kaum einen anderen Lebensbereich in dem so häufig von Sachzwängen3 die Rede ist, wie in der Ökonomie, von Gegebenheiten also, die sich kaum oder gar nicht von uns gestalten lassen.

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Das ökonomische Gesamtsystem prosperiert im Wesentlichen seit sechs Jahrzehnten. Innerhalb dieses Systems nimmt die Ohnmachtserfahrung der handelnden Subjekte aber zu. Das drückt sich etwa in dem aus, was man als soziale Falle oder auch als Gefangenendilemma bezeichnet. Die konkreten Entscheidungen einzelner sind eingebunden in eine Wettbewerbsstruktur, die ein Ausscheren aus bestimmten Verhaltensmustern nur zum Preis massivster ökonomischer Nachteile zuließe, wenn nicht zum Preis des ökonomischen Untergangs.

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Gerade für Personen, die nicht nur für sich selbst entscheiden, sondern für eine Familie, ein ganzes Unternehmen, einen Konzern oder gar eine gesamte Volkswirtschaft entsteht damit nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein moralischer Druck, weiterhin mehr von dem selben zu liefern, selbst wenn dessen zumindest potenzielle Gefährlichkeit längst bekannt ist. Ein solch moralischer Druck schlägt sich etwa in Entscheidungen nationaler Wirtschaftspolitik nieder, die mehr oder weniger zähneknirschend mit dem Argument der Standortsicherung gerechtfertigt werden, aber auch in unternehmenspolitischen Entscheidungen. Als Josef Ackermann 2005 die Kündigung von 6000 Mitarbeitern der Deutschen Bank angesichts von Rekordbilanzergebnissen ankündigte, rechtfertigte auch er das als notwendigen Schritt zur langfristigen Überlebenssicherung des Unternehmens auf internationalen Märkten; das heißt als Entscheidung, die ihm in seiner Verantwortung für das Unternehmen aufgenötigt werde. Ob dies nun im konkreten Anlassfall eine vorgeschobenes Argument war oder nicht, die Tendenz zur Verengung von Handlungsspielräumen auch bei den wirtschaftlich oder wirtschaftspolitisch Mächtigen, ist nicht von der Hand zu weisen.

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Anfang Dezember 2007 wurde eine Umfrage veröffentlicht wonach 57 % der deutschen Manager aufgrund ihres beruflichen Verhaltens mehrmals pro Jahr von schlechtem Gewissen geplagt werden. Der Umfrageautor: „Wegen des wachsenden Drucks, ständig und kurzfristig Erfolge vermelden zu müssen, glauben Top-Manager zunehmend, ohne Verrat an den eigenen moralischen Maßstäben nicht überleben zu können."4 Eine solche Aussagen deutet das ethische Dilemma an, in dem wir steckten, wenn sie auch nicht seine gesamte Tragweite zum Ausdruck bringt. Die ethische Herausforderung der gegenwärtigen Ökonomie ist einerseits eine soziale, andererseits eine ökologische. Die soziale Herausforderung betrifft vor allem Fragen der Gerechtigkeit - lokal und global. Die ökologische Herausforderung stellt sich schwerpunktmäßig angesichts der Zukunft der Menschheit und ihres gattungsmäßigen Überlebens. In beiden Feldern ergeben sich Spannungen zwischen sittlichem Anspruch und den Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, die gemeinhin als Grundlage effizienten Wirtschaftens gesehen werden. Ethische Forderungen gegen diese Strukturen und Gesetzmäßigkeiten zu erheben erscheint einerseits als weltfremder Idealismus und damit als wirkungslos, andererseits sogar als ethisch bedenklich. Denn eine Störung des Wirtschaftssystems könnte enormes Elend gerade für die Schwachen der Weltgesellschaft bedeuten. Das System ist offenbar so mächtig, so eigenmächtig, dass es uns moralisch erpressen kann.

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In dieser Situation kann man nun zum Schluss kommen, dass es erste Pflicht von Wirtschaftsethik ist, das ungestörte Weiterlaufen des bisherigen Erfolgsmodells zu unterstützen. Diesen Schluss zieht etwa Karl Homann in seinem Ethikansatz, weshalb er das Aufgabenfeld der Wirtschaftsethik auch auf jene Normen eingeschränkt wissen will, die unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft (keinesfalls gegen sie) zur Geltung gebracht werden können.5 Aber heißt das letztlich nicht, dass das schlechte Gewissen (an dem die Manager leiden) einfach dadurch beruhigt wird, dass die moralischen Maßstäbe den Sachzwängen angepasst werden? Ist eine Gestaltung der Ökonomie dann überhaupt noch möglich? Oder tritt sie uns als unveränderliche Vorgabe entgegen, innerhalb derer wir einige Spielräume geschickt nützen können - Wellenreitern gleich - aber auch nicht mehr? Oder in nochmals anderer Formulierung mit Jonas gefragt: Ist eine Macht über die Macht des Marktes überhaupt noch denkbar, unter sachlicher, aber auch unter ethischer Rücksicht?

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2) Dehumanisierung der Lebenswelt

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Die selbstmächtige Macht (auch jene der Ökonomie) ist unter verschiedener Rücksicht bedrohlich. Zwei Aspekte habe ich schon angesprochen: das Thema der Ungerechtigkeit bzw. der Ausgrenzung von Menschen aus dem Kollektiv der Nutznießer dieser Macht und das Thema der Zerstörung unseres ökologischen Lebensraums. Doch die selbstmächtige Macht birgt noch ein weiteres Bedrohungselement in sich, das angesichts der unleugbaren Bedeutung der beiden erstgenannten gern übersehen wird. Ich spreche von einer Dehumanisierung der Gesellschaft, die durchaus auch als Fragmentierung unseres Lebens beschrieben werden kann.

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Diese Fragmentierung findet auf zwei Ebenen statt. Einerseits meint sie die Atomisierung der Individuen in der Gesellschaft. Charles Taylor bezeichnet das als die Tendenz insbesondere der neuzeitlichen Entwicklung zu einem great disembedding.6 Andererseits wird die menschliche Person selbst fragmentiert, indem sie in einer stark funktional ausdifferenzierten Gesellschaft unterschiedlichen Rollenanforderungen zu entsprechen hat, die nicht selten in Spannung zueinander, wenn nicht gar in Widerspruch miteinander geraten.

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Hier haben wir es mit einer paradoxen Entwicklung zu tun. Denn einerseits stellt das great disembedding das Individuum ins Zentrum, befreit es aus sozialen Bindungen und vom Erwartungsdruck des Kollektivs. Andererseits löst die Rollenpluralisierung der ausdifferenzierten Gesellschaft den Individuumsbegriff geradezu paradigmatisch auf. Die Person ist dann in der Diktion Luhmanns nicht mehr als eine Erwartungskollage7. Die an den Menschen herangetragenen Erwartungen hinsichtlich seines Beitrages zum Funktionieren des Systems sind kaum weniger bestimmend, als die des einbettenden und zugleich einengenden Kollektivs. Allerdings werden sie vielfach als anonyme Ansprüche wahrgenommen. Anonym, weil kein forderndes Subjekt wahrgenommen wird; anonym aber auch, weil die Ansprüche nicht an die Person in ihrer Gesamtheit adressiert sind, sondern an eine bestimmte Rolle gerichtet, die nicht die umfassende Identität des Menschen ausmacht. Ansprüche an Personen erscheinen in diesem Setting mitunter geradezu als unanständig.

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Dehumanisierend wirkt diese Fragmentierung dadurch, dass eine extreme Entbettung durchaus die Sozialnatur des Menschen verletzen kann, während eine forcierte Rollendifferenzierung seine personale Integrität auflöst. Der ökonomische Rollenträger kann dann eben nicht zugleich ein Mensch mit moralischen Maßstäben sein. Sofern diese Spannung sich in einem schlechten Gewissen ausdrückt, lebt Integrität offenbar noch. Allerdings besteht bei Fortgesetzter Unvereinbarkeit beider Rollen doch die Gefahr, dass Integrität gleichsam als unhaltbarer Luxus früher oder später aufgegeben wird.

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Verantwortliches Handeln wird dadurch aber auf unmittelbare Problemstellungen im Rahmen einer funktionsspezifischen Aufgabe beschränkt, darauf jeweils nächste Schritte zu setzen, ohne dass ein zu gehender Gesamtweg überhaupt thematisiert würde. Im Erfahrungsfeld Wirtschaft wird der Markt damit zum Subjekt der Gestaltung, der Sachzwang zur Norm. Personale Entscheidungsträger sind nur noch mit operativen oder strategischen Entscheidungen befasst, nicht mehr mit normativen.

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3) Paradoxien der Fragementarität

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Ich möchte nun in meinem dritten Schritt etwas näher auf das Verhältnis zwischen sozialer Entbettung und Aufspaltung der Person eingehen. Ich habe das parallele Auftreten dieser Phänomene als paradox bezeichnet. Diese Paradoxie ist genau genommen eine dreifache. Zunächst ist das Entbettungsphänomen an sich sehr zwiespältig, indem es einerseits Element einer zunehmenden Wertschätzung der individuellen Person ist, also ein großes Ausmaß an Freiheitsräumen schafft, andererseits aber auch zu massiven Entfremdungserfahrungen beiträgt. Die personinterne Differenzierung wird ebenfalls einerseits als entfremdende, nämlich selbstentfremdende Fragmentierung wahrgenommen, andererseits aber progressiv vorangetrieben und scheint durchaus eine gewissen Faszination auf uns auszuüben. Aus diesen beiden Paradoxien mag die dritte hervorgehen, die darin besteht, dass Entbettung und rollenspezifische Verflechtung in Gesellschaftssysteme mit ihrer Sachzwanglogik einerseits in Widerspruch zueinander zu stehen scheinen, andererseits aber eben doch ein sehr enger, ja sogar ein Bedingungszusammenhang zwischen ihnen bestehen dürfte.

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Dazu im Einzelnen:

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Was ich im Anschluss an Taylor Entbettung nenne hat geistesgeschichtlich zweifellos mit dem biblischen Ethos zu tun. Darauf verweist Taylor selbst etwa unter Rückgriff auf Ivan Illich.8 Ich möchte als entbettungsfördernde Elemente nur den Dialog zwischen personalem Gott und individuellem Menschen nennen und die Universalität, die im Schöpfungsgedanken grundgelegt ist. Entbettung ist damit auch die Folge eines Ethos, das aus dem Ethnos, aus der Bindung an Volk, Familie und jede Form einer ausgrenzenden Gruppe gelöst wird.9

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Wesentlich im gesamten Prozess des disembedding ist der Gedanke der personalen Freiheit. Mit der Befreiung, gerade im Zuge der Aufklärung, die wohl in einem komplexen Zusammenhang mit den biblischen Impulsen steht, werden Ketten zerbrochen. Aber ein Zerreißen von Ketten kann durchaus auch als ein Vorgang gesehen werden, in dem Zusammenhänge zerbrechen und der damit die Gefahr der Isolierung des Einzelmenschen beinhaltet.

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Der Wegfall von Tabus, Konventionen, strengen Hierarchien bedeutet darüber hinaus aber freilich nicht nur das Risiko des isolierenden Auseinandertriftens der Individuen, sondern auch ein Risiko für ihr Zusammenleben. Denn diese Bindungen bestehen ja weder zufällig, noch sind sie der Bosheit einzelner Akteure entsprungen. Sie sind vielmehr - wenn auch mehr oder weniger untaugliche - Versuche, Aggressionspotentiale und zwischenmenschliche Konflikte in den Griff zu bekommen. Entbettung bedeutet daher auch, in überaus radikaler und ungeschützter Weise mit diesen Konflikten konfrontiert zu werden. Das ist kein Argument gegen Freiheit, aber doch ein Argument gegen ihre Verharmlosung.

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Die Versachlichung der Gesellschaft zum evolutionären Prozess und die Einbindung der Menschen in diesen Prozess mittels mehr oder weniger austauschbarer Rollen, läuft der Befreiungs- und Emanzipationsbewegung der Entbettung völlig entgegen. Dennoch gibt es erstaunlich wenig Widerstand gegen sie; vielfach im Gegenteil eine sogar ethische (!) Positionierung für sie. Dafür werden zwei Argumente genannt.

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Das eine Argument ist Effizienz: Funktional ausdifferenzierte Gesellschaften funktionieren besser als andere. Ich verweise hier nur auf das Thema der Spezialisierung und Professionalisierung oder auf das Konzept einer moralfreien Wirtschaft, einer moralfreien Wissenschaft etc.. Die Akteure sollen von Moral entlastet werden. Moral ist nicht ihr Geschäft; sie wird an anderer Stelle in der Gesellschaft als Spezialsystem und Spezialistensystem verortet.

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Vielleicht noch bedeutsamer weil subtiler und zugleich nachhaltiger in der Wirkung ist das Argument der Konfliktreduzierung. Ich verweise hier auf Niklas Luhmann, der selten normativ argumentiert. Wenn er es tut, sollte man daher um so aufmerksamer wahrnehmen, was er sagt, denn hier könnte sich dann tatsächlich das präskriptive Fundament des Systemdenkens zeigen. Luhmann meint es sei die vordringliche Aufgabe von Ethik, vor Moral zu warnen.10 Nun ist Moral in seinem Verständnis jene gesellschaftliche Kommunikation, die gegenüber Personen Achtung oder Missachtung zum Ausdruck bringt. Das aber ist gefährlich, solche Kommunikation liegt immer nahe am Streit und damit auch nahe an gewaltsamen Formen der Konfliktaustragung. Die Fragmentierung der Person in eine Pluralität funktionaler Rollen, die möglichst isoliert voneinander ausagiert werden sollen - so lässt es sich sehr kurz gefasst ausdrücken - birgt vor diesem Hintergrund eine Friedensverheißung in sich. Damit wird verständlich warum es beides zugleich gibt: eine Empörung über das System, das uns als Menschen so zersplittert und eine Flucht in eben dieses System.

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Vor dem Hintergrund dessen löst sich wohl auch meine drittgenannte Paradoxie zumindest ansatzweise auf. Je mehr Freiheit, je mehr Entbettung aus strikten Regulierungen des Zusammenlebens, umso mehr Risiko. Damit steigt auch die Bereitschaft sich in neue Abhängigkeiten zu begeben, zumal diese in ihrer Anonymität weitaus weniger despotisch zu sein scheinen als diverse Formen der Herrschaft von Menschen über Menschen.

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4) Aufgaben der Ethik/Moraltheologie angesichts solcher Gegebenheiten

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Sofern meine Analyse zutreffend ist, kann Ethik tatsächlich nicht damit ansetzen, sittliche Einzelnormen zu propagiert. Das wäre eben pure Appellitis, wie Luhmann es abfällig nennt. Die grundlegende Aufgabe einer gesellschaftlich orientierten, zeitgemäßen Ethik lässt sich unter solchen Gegebenheiten wohl viel eher im Imperativ fassen: Zuerst muss der Mensch sich selbst wiedergegeben werden! Mit Dietrich Bonhoeffer könnte man auch sagen, dass wir möglicherweise in eine Situationen geraten sind, in der der Mensch erst wieder Mensch werden muss, eher er ethisch ansprechbar ist.11 Uns als christlichen Ethikern sagt Bonhoeffer darüber hinaus, dass wir die Wegbereitung für Christus nicht ernst nehmen, wenn wir uns dieser Aufgabe, die man in spezifischer Weise als fundamentalethische Herausforderung bezeichnen könnte, nicht stellen.

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Wie aber können wir uns dieser Herausforderung stellen? Drei Aufgabenfelder christlicher Ethik scheinen mir angesichts der Fragmentierungen unseres Lebens wesentlich:

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1) Kontinuierliche Beunruhigung: Nur die im System vollständig funktionalisierte Religion lässt sich auf ein Opium oder besser Valium (H.-J. Höhn) der Gesellschaft reduzieren. Zu beunruhigen ist im Hinblick auf die immer prekäre Situation menschlicher Freiheit, aber insbesondere auch im Hinblick auf die Problematik vorherrschender Problemlösungsstrategien, die uns unserer Subjekthaftigkeit entkleiden.

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Augenblicklich scheint das keine allzu schwierige Aufgabe zu sein, zeigen sich die Zerstörungspotentiale des Sachzwangs und der Systemautopoiesis doch unübersehbar (Klimawandel, Krise des internationalen Finanzsystems etc.). Die Apokalypse zu denken wird zunehmend unausweichlich. Darin liegt allerdings auch die Gefahr, dass es ethischem Engagement 'nur noch' um Überlebenssicherung geht, und die Frage des menschenwürdigen, auch des subjekthaften Überlebens neuerlich ins Hintertreffen gerät. Unter dem Stichwort Überlebenssicherung kann die Bemächtigung der Macht zur reinen Potenzierung der selbstmächtigen Macht entarten. Die Frage nach dem guten Leben sollte von der Frage der Selbsterhaltung aber nicht völlig verdrängt werden.12 Die Beunruhigung bleibt deshalb Aufgaben, auch und gerade dann wenn sich Lösungswege für drängende Probleme zeigen. Sie bleibt Aufgabe im Sinne des Hinweises auf die Verlockungen der Versachlichung, Verdinglichung, Abstraktion der Dramatik des Zwischenmenschlichen. Das gilt keineswegs nur für ökonomische Fragestellungen, sondern gerade auch im Bereich von Medizin und Biotechnologie.

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2) Hoffnung geben Angesichts des Schwindels der Freiheit: Kierkegaard spricht von diesem Schwindel im "Begriff Angst" und er meint, dass der Sündenfall darin besteht, in einer solchen Situation bei sich selber, bei der eigenen Endlichkeit Halt zu suchen. Das kann den fortlaufenden Versuch der Perfektionierung von Systemen bedeuten aber auch den Versuch mit Hilfe eines heroischen Leistungsethos aus diesen Systemen auszubrechen. Letztlich versuchten wir uns in beiden Fällen von uns selbst, von unserer eigenen menschlichen Realität zu befreien. Als christliche Ethiker haben wir aber eine Ethik anzubieten, die nicht unter dem Vorzeichen des Sollens steht, sondern unter dem Vorzeichen der Gabe, des Geschenks der Gnade. Eine Moraltheologie, die nicht zuinnerst Gnadentheologie ist, hat somit also wohl ihr christliches Proprium bereits verloren.

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3) Förderung und Stützung all jener Schritte, die Entscheidungs- und Handlungsräume im System wiedergewinnen, auch wenn diese nur klein sind:

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Dabei geht es darum, das Bessere zu suchen, ohne das Gute in absehbarer Frist erreichen zu können. Wir stehen immer wieder vor dem Problem, dass die Korrektur des Systems seine Verbesserung bedeutet, womit wir es auch auf Dauer stellen. Damit haben wir wohl zu leben. Die Fragmentarität der Existenz tritt der Ethik nicht nur entgegen, sie ist vielmehr die Bedingung unter der sie betrieben wird und geht somit als Element in sie selber ein. Eine christliche Ethik, sofern sie Inkarnation ernst nimmt, kann damit wohl noch besser umgehen als ihre säkularen Pendants (zumindest gilt das für säkulare Ethik, die an kategorischen Imperativen festhält, was von ihr ja wohl zu erwarten ist). Jeder Sollenshorizont macht das Fragment als solches erst erkennbar. Dass christliche Ethik jedoch nicht nur das Sollen kennt, sondern nach Bonhoeffer gerade das Sein, die Wirklichkeit des Guten in der Person Jesu Christi, befreit nicht vom Fragment, macht seine Last aber wohl erträglicher.

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Wo lässt sich nun eine solche Förderung der Handlungskompetenz im Sinne des relativ Besseren im gewählten Beispiel des ökonomischen Systems konkretisieren? Einige wenige Beispiele sollen angedeutet werden.

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  • Förderung kritischer Konsuminteressen. Das öffnet inmitten des Systems einen Raum, in dem Konsumenten sich nicht nur als Rollenträger gemäß der Logik einer möglichst friktionsfrei funktionierenden Wachstumswirtschaft erfahren.
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  • Förderung betroffenheitsbasierter Stakeholderansätze in der Ökonomie. Damit kommen auch jene Interessen zum Tragen, die gemäß der Systemlogik und ihrer Sachzwänge einfach inexistent sind, weil sie sich nicht im angemessenen Medium der Zahlungsfähigkeit äußern können.
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  • Förderung aller jener Schritte, die ein Wirtschaftsbürgertum (P. Ulrich) fördern. Hier kann man die Rollendifferenzierung vielleicht einmal positiv nützen. Denn es geht dabei um die Nutzung und Weitung von Freiräumen, die es den Wirtschaftsakteuren erlauben, zumindest punktuell aus ihren Rollen auszusteigen und sich miteinander darüber zu verständigen, unter welchen Bedingungen die soziale Falle gesprengt und der Käfig des Gefangenendilemmas verlassen werden könnte. Die Strukturen und Regeln, die für eine solche Exitstrategie erforderliche sind, können nicht von irgendjemandem (z.B. einer allmächtigen Politik) erwartet werden; sie können nur aus zivilgesellschaftlichen Prozessen entstehen. Aus diesen Prozessen freilich dürfen die ökonomischen Entscheidungsträger und Interessengruppen nicht ausgeschlossen werden. Dass Menschen unter einem veil of ignorance entscheiden, halte ich für illusorisch, vielleicht könnte man aber doch eine Kultur pflegen, in der das Spielfeld, auf dem man eine bestimmte Position einzunehmen hat, immer wieder einmal verlassen wird, um sozusagen von außen auf die Sache schauen können. Daraus könnten sich dann Möglichkeiten ergeben, jenseits von Rollenerwartungen Mitverantwortung um für das Ganze zu übernehmen, um so auch selbst ein Bisschen mehr ganz sein zu können. Oder mit Ortega y Gasset formuliert: "Man muss wachsam sein und aus dem eigenen Berufskreis heraustreten, die Landschaft des Lebens beobachten, die immer ein ganzes ist"13
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Literaturverzeichnis

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  • Bolz, Norbert (2008): Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen. München: Fink.
  • Bonhoeffer, Dietrich (1998): Ethik. Herausgegeben von Ilse Tödt, Eberhard Bethge u.a. 1. Aufl. der Taschenbuchausg. Gütersloh: Kaiser.
  • Gasset, Ortega y (1956): Betrachtungen über die Technik (1933). In: Ders. Gesammelte Werke. Band 4. Stuttgart.
  • Homann, Karl; Blome-Drees, Franz (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Göttingen: Vandenhoeck.
  • Illich, Ivan; Cayley, David (2006): In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley. München: Beck.
  • Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Koller, Edeltraud (2008): Gutes Leben durch die Wirtschaft. Eine theologisch-ethische Kritik der Dominanz der Ökonomie ; dargestellt am Einfluss der Rede vom "ökonomischen Sachzwang" auf die menschliche Orientierung und Sinnerfahrung. 1. Aufl. München: Hampp (Wirtschafts- und Unternehmensethik, 19).
  • Luhmann, Niklas (1994): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Luhmann, Niklas (1991): Paradigm lost. Über die ethische Reflexion der Moral. Rede von N. Luhmann anlässlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Taylor, Charles (2005): Modern social imaginaries. 3. print. Durham: Duke Univ. Press (Public planet books).
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Anmerkungen:

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1 In der Darstellung der Problematik modernen Lebens stimmt das Konzil weitgehend mit Horkeimers und Adornos Dialektik der Aufklärung überein.

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2 Vgl. Jonas 1984, S. 251.

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3 Eine umfassende Studie zur Frage des Einflusses der Rede von Sachzwängen auf unsere Lebensrealität hat Edeltraud Koller vorgelegt in: Koller 2008.

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4 So der Geschäftsführer von LAB&Company Klaus Aden, das die Befragung durchführte. http://www.labcompany.net/(Zugriff 6. Dezember)

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5 Vgl. Homann, Blome-Drees 1992, S. 14.

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6 Vgl. Taylor 2005, S. 54f.

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7 Vgl. Luhmann 1994, S. 178.

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8 Vgl. Taylor 2005, S. 65f.

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9 Vgl. Illich 2006, S. 71.

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10 So z.B. in: Luhmann1991, S. 40.

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11 Vgl. Bonhoeffer 1998, S. 159. Das ist natürlich überspitzt formuliert, vielleicht geht es auch nur darum, eine solche Situation nicht eintreten oder um sich greifen zu lassen. Die Zielrichtung einer not-wendigen Ethik bleibt dennoch unverändert.

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12 Vgl. Bolz 2008, S. 19.

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13 Gasset1956, S. 47.

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