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Am Puls des Lebens
(Warum christlicher Glaube und die Theologie auf das Erzählen nicht verzichten können)

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, Mai 2005, 30-33
Datum:2005-06-06

Inhalt

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Glauben durch Erzählen

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„Vergiss nicht die Ereignisse, die du mit eigenen Augen gesehen, und die Worte, die du gehört hast. Lass sie dein ganzes Leben lang nicht aus dem Sinn! Präge sie deinen Kindern und Kindeskindern ein!“ (Dtn 4,9)

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Für die Menschen des Alten Testaments ist Glauben ein zugleich zeitübergreifendes und interpersonales Geschehen. Glauben verwirklicht sich im Erinnern und im Miteinanderreden. Beides verbindet der Vollzug des Erzählens. Was wird erzählt und soll erzählt werden? Selbst Erfahrenes – „was du mit eigenen Augen gesehen“ – und aus früheren Zeiten Tradiertes – „die Worte, die du gehört hast“. Maßgeblich ist dabei der Blickwinkel, in dem diese Ereignisse wahrgenommen und gedeutet werden: als Taten Gottes, die seine Befreiungskraft, seinen Bundeswillen, seine Barmherzigkeit sichtbar machen.

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„Was wir hörten und erfuhren, was uns die Väter erzählten, das wollen wir unseren Kindern nicht verbergen, sondern dem kommenden Geschlecht erzählen: die ruhmreichen Taten und die Stärke des Herrn, die Wunder die er getan hat“ (Ps 78,3f)

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Eine Kultur des Glaubens wird geformt von einer Praxis des Erzählens. Zuhörend und weitererzählend übt sich der biblischen Mensch in einer Perspektive „von oben“, die auch in komplexen Ereigniszusammenhängen die Handschrift Gottes findet. Ein Netz von Geschichten und Geschichtsinterpretation wird hörend-erzählend aufgegriffen und weitergewoben. Anfangsereignisse – der Exodus aus Ägypten und der Einzug in das gelobte Land – verschmelzen mit aktuellen Erfahrungen. Das ist ein ursprünglicheres Geschehen als das religionsdidaktische Bemühen, Ereignisse der Tradition mit je heutigen Erfahrungen nachträglich zusammenzubringen. Wahrnehmungen werden zu Geschichten, und Geschichten prägen die Wahrnehmung.

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Die Flexibilität einer Erzählkultur

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Es ist diese Kultur des Erzählens, die das alttestamentliche Israel über das zeitlos-mythische Denken hinaus in heilsgeschichtliche Denk- und Wahrnehmungsformen trieb. Fortlaufend wurden neue Erfahrungen eingebunden, und das ließ die tradierten Ursprungserfahrungen nicht unberührt. Die Vergegenwärtigung von Gottes großen Anfangstaten nährte die Erwartung, dass Gott sich auch hier und jetzt als mächtig erweisen werde. Oft erwuchs für die Glaubenden daraus eine Zuversicht, mit der sie schwere Situationen glanzvoll bestehen konnten, – Stoff für neue Erzählungen von Gottes Geschichtsmacht. Aber es gab auch Misserfolge und Niederlagen, und diese stellten die Anfangsgeschichten von Gottes siegreichem Handeln in Frage. Die große epochale Herausforderung war das babylonische Exil. Für Völker, die in mythischer Religion wurzelten, bedeutete ein solcher Bruch die Bankrotterklärung der eigenen Götter. Sie lösten sich in die Kulturen und Religionen der Siegermächte auf. Ganz anders Israel. Der tradierte Glaube der Väter zerbrach nicht an der Scheiternserfahrung des Exils. Im Gegenteil: Er reifte zum Monotheismus und zum souveränen Schöpferglauben des ersten Schöpfungsberichts. Über das Gottesbekenntnis der überkommenen Anfangserzählungen hinaus wurde Gott nun als Macht benannt, die auch in der Fremde, fern der Heimat und aller göttlicher Insignien wie Tempel und Opferinstitution machtvoll und bergend gegenwärtig ist. Neue Anfangserzählungen entstanden, die dieses Urvertrauen des ewig-treuen und allmächtig-rettenden Gottes ausdrückten. Als Bollwerk gegen allen zeitgenössischen und späteren Dualismus bezeugen die Schöpfungsgeschichten, dass es keine Instanz gibt, die nicht alles Gott verdankt und mithin keinen Ort, an dem Gott „nichts mehr für dich tun kann“.

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Wie konnte der Glaube Israels die systematischen Entwurzelungsversuche der Exilierung – in den späteren Jahrhunderten der Diaspora nicht weniger als zur Zeit Babylons – überstehen? Oft wurde auf die Eigenart jüdischer Religion verwiesen, dass sie ganz auf das Wort gegründet ist. Das trifft gewiss zu, aber es ist zu ergänzen, dass dieses Wort erzähltes Wort war. Nur eine Kultur des Erzählens konnte den tradierten Glauben so beweglich halten, dass er jene Transformationen überstand, die nötig waren, um aus einer epochalen Bedrohung eine glückliche Bewährung zu machen. Auch das zentrale Wort des Tora-Gesetzes ist wesentlich erzähltes Wort. Der Anfang des Dekalogs ruft prägnant die Exodusgeschichte in Erinnerung. Und das Buch Deuteronomium, das ganz um die Übergabe des Bundesgesetzes kreist, fordert das Gottesvolk mit größtem Nachdruck auf, nicht nur die Gebote sondern vor allem die sie begründende Bundesgeschichte erzählend zu tradieren.

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„Wenn dich morgen dein Sohn fragt: Warum achtet ihr auf die Satzungen, die Gesetze und Rechtsvorschriften, auf die der Herr, unser Gott, euch verpflichtet hat?, dann sollst du deinem Sohn antworten: Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten, und der Herr hat uns mit starker Hand aus Ägypten geführt.“ (Dtn 6,20f)

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Erzählungen im Konflikt

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Wenn das Besondere des biblischen Gottesglaubens die Erzählung von Ereignissen aus der Perspektive von Gottes Handeln ist: Wie konnte diese Perspektive gewonnen werden? Wie war es möglich, zwischen authentischer Darstellung von Gottes Taten und den Projektionen eigener kollektiver Phantasien zu unterscheiden? Diese Fragen sind auch drängend für heutiges Gott-Erzählen – nicht zuletzt angesichts fundamentalistischer Kurzschlüsse. Der Hinweis auf Gottes Offenbarung und die Inspiration der Schrift hilft hier nur begrenzt weiter. Es muss dazugesagt werden, dass dieses offenbarende und inspirierende Wirken Gottes nicht einfach für privilegierte Menschen vom Himmel fiel, sondern die Frucht eines langen, dramatischen Ringens war. Immer wieder kam es zum Konflikt zwischen gegensätzlichen Interpretationen in der Frage, wie neue Ereignisse die Anfangsgeschichten fortschreiben. Die Bibel ist voll von kritischen Gegengeschichten, die den dominierenden Erzählungen in ärgerniserregender Weise widersprechen. Bekämpft wurden nicht nur diese Gegengeschichten, sondern bis aufs Blut deren Erzähler. Die Prophetenbücher erzählen davon, und von Konversionen, die auch die dominierenden Erzählungen korrigierten.

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„Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,5)

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Der Konflikt der Erzählungen, in der Frage, wer sich in Wahrheit auf Gott berufen kann, spitzt sich neutestamentlich im Streit zwischen Jesus und den zeitgenössischen jüdischen Autoritäten zu. Ist die Jesusgeschichte eine Geschichte „von einem, der Gott gleich war, aber nicht daran festhielt ...“ (Phil 2,6f) oder die Geschichte eines Menschen, der sich selbst zu Gott machte und deshalb den Tod verdient (Joh 10,33)?

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Die Wahrheit hängt von Nuancen ab, die nur in Erzählungen genügend deutliche werden

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Beide Male ist die Rede vom „Sein-wie-Gott“. Jesu Ankläger attestierten ihm ein selbstherrliches Wie-Gott-Sein-Wollen – die Wurzelsünde gemäß der Sündenfallgeschichte. Jesu Anhänger fanden bei ihm ein authentisches Wie-Gott-Sein, in Erfüllung der schöpfungsgeschichtlichen Gottebenbildlichkeit eine vollkommene Transparenz auf den göttlichen Vater hin, so dass durch ihn und nur durch ihn Gott unverstellt gegenwärtig wird. Der Unterschied zwischen selbstherrlichem und selbstlos-verweisendem Wie-Gott-Sein ist nur theoretisch klar und eindeutig. Das konkrete Leben mit seinen handelnden Menschen und komplexen Ereignisfolgen ist voll des Zwielichtes zwischen selbstherrlichem Wie-Gott-Sein-Wollen und authentischem Auf-Gott-Verweisen, zwischen Gottesmittlern und Gotteshindernis, zwischen Gott und Götze, entsprechend zwischen Tugend und Sünde, Heil und Unheil. Es gibt kein Mittel – weder Gesetze noch Institutionen noch Autoritäten, weder Rezepte noch Theorien, – um diese Unterscheidungen grundsätzlich richtig zu treffen. Sie müssen je neu am Puls der Ereignisse gefunden werden. Und sie richtig zu treffen ist eine Kunst, die auf konkreten Erfahrungen mit solchen Unterscheidungen gründet. Davon kann nur erzählt werden.

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Genau darum geht es in der Bibel. Sie erzählt von verschiedensten Ereignissen – nichts Menschliches ist ihr fremd –, dies aber nicht wertfrei sondern mit Zuordnungen, wo, wie und durch wen Gott handelt. Alles kreist um die Unterscheidung, wer und was sich in Wahrheit auf Gott berufen kann.

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Der Inbegriff biblisch-christlicher Offenbarung ist nicht eine Summe von Geboten oder von Dogmen, auch nicht von Lehrsätzen oder Theorien. All das kann pervertiert werden vom Gott-Mittler zum Gott-Hindernis. Im Zentrum biblisch-christlicher Offenbarung steht eine Person. Alles andere – Gebote und Dogmen, Lehrsätze und Theorien – muss immer neu an dieser Person gemessen werden. Und diese Person wird uns zugänglich durch Erzählungen: durch die biblischen Referenzerzählungen und durch späteres Nacherzählen, das unter dem Eindruck neuer Ereignisse neue Perspektiven eröffnet, von denen her die biblischen Referenztexte neue Wegweisung geben.

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Erzählen in der Theologie

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Deshalb ist das Erzählen unverzichtbar nicht nur für das gelebte Glauben, sondern auch für die Theologie. Auch diese muss am Puls des Lebens bleiben und sich deshalb immer neu an Erzählungen – vor allem an den biblischen Referenzerzählungen – abarbeiten. So gewinnt sie Unterscheidungskriterien für authentisches Erzählen, in einer adäquaten Verarbeitung neuer Erfahrungen. Theologie muss diese Kriterien aber auch erproben, indem sie Heilsgeschichte neu erzählt. Erzählungen sind deshalb nicht nur Rohmaterial für Theologie (Dietrich Ritschl); Theologie darf und muss selber erzählen.

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In der Theologiegeschichte gab es Epochen, in denen diese Einsicht verdunkelt war. Das traf zu für die offizielle katholische Theologie noch vor 50 Jahren, mit ihrem spekulativen Systemdenken der Neuscholastik. In den 70er Jahren rief J.B. Metz zu einem Paradigmenwechsel auf, der dem Erzählen – vor allem von kritischen Gegengeschichten in der gefährlichen Erinnerung an das Leid von Opfern der Geschichte – auch für die systematische Theologie wieder Raum geben sollte. Der Ruf löste eine Flut von Publikationen zur „narrativen Theologie“ aus, die aber bereits nach einigen Jahren und bis heute abebbte. Das heißt nun nicht, dass narrative Theologie nur eine überholte Mode ist. Der Rückgang des Interesses liegt vielmehr daran, dass der Adressat, dem der kritische Ruf galt, geschichtlich bereits auf der Strecke geblieben war. Das gilt nicht nur für die katholische Neuscholastik, sondern generell für ein rationalistisches und positivistisches Wissenschaftsverständnis der Moderne, das im objektiven Argument unter Ausschluss geschichtlich und perspektivisch gebundenen Erzählens die Garantie für Wahrheit zu finden meinte.

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Eine Inflation des Erzählens in der heutigen Welt

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Geradezu ironisch musste Lyotards Kennzeichnung der großen gesellschaftsbestimmenden Plausibilitätssysteme (z.B. die Idee der Aufklärung oder das Ideal einer objektiven Wissenschaft) als „große Erzählungen“ wirken. Lyotards Rede vom Ende der großen Erzählungen wollte damit nicht das Ende des Erzählens insgesamt proklamieren, sondern umgekehrt deutlich machen, dass das Erzählen mit seinen argumentativen Unschärfen und Brüchen grundsätzlich unüberholbar ist. Neu sei vielmehr, dass die großen Erzählungen, die so umfassend waren, dass sie nicht mehr als Erzählungen mit ihrer Relativität, sondern als reine Wahrheit erschienen, einer Vielzahl nicht oder wenig verbundener kleiner Erzählungen weichen würden. Damit hat Lyotard – bereits Anfang der 80er Jahre – ein Charakteristikum unserer heutigen Postmoderne erfasst. Wir haben es mit einer unüberschaubaren Flut von Sinn- und Identitätsangeboten zu tun, die durchwegs erzählerisch vermittelt sind. Das gilt auch wenn allenthalben Bilder das Wort ersetzen: Auch Bilder erzählen Geschichten – im boomenden Erzählkino, in der streng selektierten Kriegsdokumentation, in der manipulativ Geschichten erzählenden Reklame. Entdeckt und verwertet wird die identitätsstiftende Kraft von Erzählungen, – für die individuelle Selbstvermarktung ebenso wie für die corporate identity von Firmen, Institutionen und ganzen Gesellschaften. Vor hundert Jahren begann die Psychoanalyse mit der Arbeit an den identitätsbildenden Stories ihrer Klienten. Inzwischen wuchs ein unüberschaubarer Psycho- und Managementmarkt der sich mit immer raffinierteren Mitteln der Manipulation von Geschichten bedient, – von Autosuggestion und positivem Denken zum NLP, in Rapidtherapien wie dem Hellingerschen Familienstellen oder mit Storytelling als Managementprinzip. Erzählung – Glaube – Identität: Diese Zusammenhänge, die für das biblische Verständnis maßgeblich waren, finden sich hier in säkularer Funktionalisierung wieder.

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Neue Herausforderungen für eine narrative Theologie und Glaubenspraxis

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Vor diesem postmodernen Hintergrund narrativen Wildwuchses haben christlicher Glaube und christliche Theologie, die am Erzählen orientiert sind, eine andere Funktion als die narrative Theologie vor 30 Jahren meinte. Die Berechtigung von Glaube und Religion muss nicht mehr erst aufgewiesen gemacht werden, denn allenthalben wird heute Glauben manipuliert und religiöse Sehnsucht kanalisiert. Die Bedeutung des Erzählens muss nicht mehr erst plausibel gemacht werden. Die Frage ist nun nicht mehr, ob erzählt werden soll und darf, sondern wie in einer verantworteten Weise erzählt werden kann. Der von christlicher Praxis und theologischer Reflexion in die heutige Welt einzubringende Mehrwert besteht nicht mehr im bloßen Faktum eines glaubens- und identitätsbildenden Erzählens, sondern in einer Kultur des Erzählens, die eine verantwortete Sinnorientierung und Identitätsbildung ermöglicht. Vor dreißig Jahren meinten narrative Theologen, in Kritik an spekulativen theologischen Systemen die Kraft des Erzählens gegen das Argumentieren stark machen zu müssen. Die heutige Welt hat diese Kraft des Erzählens entdeckt und ausgebeutet. Drängend bleibt aber die Frage, wie sich angesichts zahlloser sinn- und identitätsbildender Erzählfragmente Orientierung in Richtung auf eine unreduzierte Einheit und Ganzheit finden lässt. Das Christentum hat dafür kein Patentrezept, sondern ist selber zwischen unterschiedlichen Antworten auf diese Herausforderungen – für Einheit und Identität der Kirchen sowie für Gerechtigkeit und Friede in der globalisierten Welt – hin und hergerissen. Aber es gründet in einer lang bewährten Praxis erzählerischer Konfrontation, die für konkrete Herausforderungen tragfähige Antworten fand. Kann diese Streitkultur des Erzählens für die heutigen Herausforderungen neu fruchtbar gemacht werden?

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