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Urteilsfasten
(Tiroler Tageszeitung und die Diözese Innsbruck begleiten durch die Fastenzeit.)

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:Tiroler Tageszeitung 80 vom 5./6. April 2003, 16.
Datum:2003-04-08

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Er ist Vater, prozessiert aber mit seinen Kindern um das ihnen zustehende Geld. Und er ist ein wahrer Lebemann. Lust und Wolllust sind ihm keine Fremdwörter. Auch die Alkoholexzesse nicht. Das Leben ist halt zum Genuss da! Mindestens solange man noch einigermaßen jung und gesund und potent bleibt. Auch wenn er selber immer älter wird, werden seine Frauen immer jünger. Und die Zeiten der ausgelassener Feste und Orgien immer länger. Schließlich kann er sich das leisten. Als weltoffener Geist macht er sich gar Gedanken über Religion. Die Pfaffen hat er längst durchschaut. Und auch die Hölle. Alles Ammenmärchen. Ein Zeitgenosse also!

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Irgendwo hat er gehört, dass Menschen in der Hölle an den Hacken zum Braten aufgehängt werden. Für die Hacken braucht es zur Befestigung wohl eine Decke. Selbst als kritischer Geist wäre er bereit gar eine Hölle zu akzeptieren, aber eine ohne Decke. Wo soll so etwas in der Ewigkeit her kommen? Gibt es aber keine Decke, so gibt es auch keine Hacken. Keine Hacken, keine Hölle! So einfach ist die Milchmädchenrechnung. Keine Probleme also? Doch! Nichts setzt dem Vater so sehr zu, wie das verurteilende Blick seiner Mitmenschen. Deswegen klammert er sich an seinen jüngsten Sohn. Dieser kennt zwar seinen Lebenswandel, hat ihm aber niemals verurteilt. Und von allen verurteilt zu werden, das wäre die Hölle! Und zwar eine ohne Hacken.

3
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Nun sitze ich wieder mitten in der Nacht am Computer. "Stressfasten" funktioniert immer noch nicht! Der Beitrag zum Thema: "Urteilsfasten" muss schnellstens her. Am Nachmittag las ich mit Studierenden im Roman: "Die Brüder Karamasov" von Dostojewskij. Deswegen geht mir auch der alte Vater nicht aus dem Sinn. Und seine Angst vor den Urteilen der Menschen. Der Alte hat doch mehr mit mir gemeinsam als es mir vielleicht lieb wäre. Und auch mit den meisten Zeitgenossen. Seine Begierde und seine Unstetigkeit, seine gewaltsame Bemühung um Lebenslust und auch die Lust, Menschen zu demütigen. Vor allem aber seine Angst, vergessen zu werden. Und dem vernichtenden Urteil zum Opfer zu fallen!

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Jenseits aller Fragen nach der richtigen Lebensführung verbinden uns alle solche Gemeinsamkeiten. Und was hat das mit der Fastenzeit zu tun? Fastenkultur spielt auch in diesem Roman eine große Rolle. Die großen Faster, die nur unmenschliche Verzichtsübungen auf sich nehmen, werden dort ausnahmslos als unmenschlich - ja satanisch - entlarvt. Anstatt zur Erhöhung der Lebenskultur beizutragen, zerstören sie dieses Leben. Und zwar überall dort wo sie auftauchen. Dies gilt nicht von dem Menschen, dessen Fastenhaltung als authentisch dargestellt wird. Das ist ein alter Mönch. Er fastet zwar, gönnt sich aber auch den Genuss. Was ihn nämlich von den unmenschlichen Asketen unterscheidet, ist seine absolute Zurückhaltung im Urteilen über die Menschen. Er bricht niemals Stab über andere!

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Nachdem die Sache mit dem Stress bei mir nicht funktionierte, müßte ich nun mit dem "Urteilsfasten" probieren. Und warum? Die Trendsetter haben doch die Hölle abgeschafft. Und zwar um der Lebenslust willen. Gleichzeitig hat sich aber unsere Kultur zu einer Anschuldigungskultur sondergleichen verwandelt. Noch nie haben Menschen ihre Kommunikation so auf Urteilen, Verurteilen und Aburteilen reduziert. Damit auch das Leben einander zur Hölle gemacht! Eine Woche lang sich des Urteils über meine Mitmenschen zu enthalten! Das wäre doch ein Vorgeschmack des Himmels.

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