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Dem Netz entronnen? Roman Siebenrock und die Dramatische Theologie – Ein Beitrag zur Geschichte des Forschungsprogramms

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2022-07-13

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Im Vorwort seiner Habilitationsschrift: „Wer sich Gott naht, dem naht sich Gott. Studien zur Interpretation und Rezeption des Werkes Karl Rahners SJ in einer Zeit der ‚anima technica vacua‘“, die Roman Siebenrock im Jahre 2000 vorgelegt hat, vermerkt er, dass der zweite Teil seiner Arbeit, „der die Rezeption des Werkes (von Rahner) auf eigene Verantwortung sammelt, (…) sich in Problemstellung und Akzentuierung nicht unwesentlich“ dem Forschungsprogramm „Religion – Gewalt – Kommunikation – Weltordnung“ verdankt. Der heute (anlässlich seiner „Abschiedsvorlesung“ am 10. Juni 2022) im Zentrum der Diskussion stehende Kollege dankt allen Mitgliedern des Programms (stellvertretend für andere „Dramatiker“ nennt er ausdrücklich Raymund Schwager und mich). Die Mitglieder der Gruppe „mit ihrer unterschiedlichen theologischen Akzentuierung(en)“ haben ihm „den Weg ins Eigene (ge)wiesen. Dass in der pointierten Auseinandersetzung Freundschaft wachsen kann, (erlebt er) als kostbares Geschenk.“[1]  Das Forschungsprogramm RGKW im Allgemeinen und der Kreis „Dramatische Theologie“ im Besonderen verdanken ihrerseits viel dem Kollegen Roman, hat er doch durch seine Wortmeldungen und seine „Koordinationstätigkeit“ viel zur Profilierung des Ansatzes beigetragen. Niemals war er ein scheinbar neutraler „Zuschauer“. Von diesen hat es seit den ersten Stunden an nie gefehlt – sie schnupperten in die Gruppe, blieben einige Zeit, äußerten hin und wieder ihre Meinung, verließen sie dann ohne sichtbare Spuren hinterlassen zu haben. Mit der ihm so eigentümlichen Art ergriff Roman immer wieder die Rollen des Kritikers und Verweigerers, riskierte Konflikte, gar den Bruch, trug damit auch wesentlich zur Neupositionierungen und Präzisierungen und zum Profil des Ansatzes bei. Ohne Roman wäre der Kreis und damit auch der Ansatz nicht das geworden, was sie sind. Lieber Roman: Gratias agimus tibi!

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„Roman Siebenrock und die Dramatische Theologie“: Die Geschichte dieser spannungsgeladenen Beziehung beginnt zaghaft im Jahr 1985. Ein Theologe mit einem klaren Profil, der in München zwei Abschlussarbeiten (in Philosophie und Theologie) über Karl Rahner geschrieben hat, bewirbt sich in Innsbruck um die Stelle eines Forschungsassistenten am Karl-Rahner-Archiv. Der Leiter des Archivs, P. Walter Kern hat mich – den blutjungen Assistenten von P. Schwager, der diese Stelle bis dahin quasi kommissarisch verwaltete,– in seinen Entscheidungsprozess einbezogen;  so hat er mir das Bewerbungsschreiben von Roman gezeigt: es war dies ein klares Zeugnis glühender wissenschaftlicher Liebe zu Rahner. Freilich war er – der Münchner Student (der dorthin von Innsbruck aus gekommen ist) – auch von Wohlfahrt Pannenberg fasziniert – immer und immer wieder erzählte er davon, wie Frau Pannenberg am Ende des Semesters den Abend mit den Studenten im Hause Pannenberg abrupt mit einer falschen Information beendete („Wohlfahrt, ich glaube, die letzte S-Bahn fährt gleich“). Nicht nur Rahner strukturierte das Bewusstsein des jungen Theologen; Siebenrock hat zum Zeitpunkt der Übersiedlung nach Innsbruck bereits die Dissertation über John Henry Newman bei Peter Hünermann in Angriff genommen. Wie die meisten Mitglieder des Institutes für Dogmatik und Fundamentaltheologie geriet er – ab dem Moment, an dem er nicht nur/nicht mehr am Rahner-Archiv, sondern auch im Jahr 1987 als Assistent am Institut angestellt wurde – in das an diesem Institut ausgespannte „Netz des Jägers“, oder aber das „Netz des Fischers“. Und warum dies? Vom ersten Tag an, an dem Raymund Schwager Professor in Innsbruck geworden ist (1977), lockte er die Mitglieder der Fakultät mit seinem Lobgesagt auf René Girard (schweizerisch ausgesprochen mit einem langen I) in die von ihm ausgeworfenen Netze. Deren Maschen waren jedoch zunächst sehr weit geknüpft; kein Wunder, dass viele der Angelockten – wie ich es schon bemerkt habe – bald das Weite gesucht haben. Mittelfristig geblieben sind die regelrecht Neugierigen, die Faszinierten und auch ein paar Skeptiker. Mit Roman wurde jedoch ein fast „widerspenstiger Fisch“ vom Netz eingefangen. Ich habe lange überlegt, wie ich diesen meinen Beitrag anlegen soll, damit er dem Charakter dieser eigenartigen Beziehung gerecht wird. Nach langem hin und her entschied ich mich für die chronologische Rekonstruktion des Anfangsstadiums, denn: dort sind die konfliktuellen und konstruktiven Grundweichen greifbar. An ihnen wird auch der besondere Beitrag Romans zur Präzisierung und Profilierung des Kreises, dann des Ansatzes sichtbar.

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Die dokumentierte Geschichte des sog. „Freitagskreises“ (Vorgängerinitiative des RGKW, damit auch des Forschungsprogramms „Dramatische Theologie“) verzeichnet seinen Namen zum ersten Mal auf der Einladung vom 17. März 1989. Büchele, Neufeld, Schwager, Vass, Palaver, Niewiadomski, Ruschitzka und eben Siebenrock diskutierten an diesem Freitag Demokratie- und/oder Kommunikationskonzepte. Die eher allgemein ausgerichtete Diskussion dieser Freitagsrunden drehte sich immer wieder um die Erfahrung der Krise und um die Eigenart der „Theorie Girard“ (bürgten doch zuerst die Begriffe: „Religion und Gewalt“ für die thematische Ausrichtung der sich sukzessiv vergrößernden Gruppe; im Almanach der österreichischen Forschung aus dem Jahr 1980 stehen unter dem Titel: „Religion und Gewalt“ nur die Namen Schwager, Vass, Lies und Niewiadomski.[2] Gerade in der Zeit in der Roman zu dieser Runde kam, begann man auch nach dem Selbstverständnis des „Freitagskreises“ zu fragen. Die einzelnen Mitglieder sollten nach und nach ihre Überlegungen zur Diskussion vorlegen, mit denen man eine „gemeinsame Grundlage“ des Kreises im hermeneutischen Horizont der Begriffe „Religion – Gewalt – Kommunikation“ erarbeiten sollte. Am 2. Juni 1989 (also etwa zwei Monate nachdem Roman dazu kam) lieferte Schwager seinen programmatischen Beitrag zum Thema: „Neuer Zugang zur Wirklichkeit“ und  hielt dabei fest: diesen neuen Zugang bietet für die Theologie und dies fast in exklusiver Manier Girard, da „die Mimesis, die den großen gesellschaftlichen Systemen (Religion, Wissen, Moral, Wirtschaft, Politik etc.) vorausgeht, … auf quasi osmotische Art“ wirkt. Dabei zog er eine „Girard-kritische“ Folgerung: man muss (im Kreis?) nach einer Möglichkeit der „Überwindung der Mimesis“ suchen, „die die quasi-osmotische Ebene umgreift“. (Er selber hat ja bereits im Jahr 1984 bei einem Symposion in Provo einen Vortrag über „Mimesis und Freiheit“ gehalten, in dem er ein allzu mechanisches Verständnis der Mimesis zu durchbrechen suchte[3]).  Bereits zwei Wochen später, am 16. Juni 1989 meldete sich Roman mit seinem Kurzreferat zum Wort. Sein Thema: „Krise – Demokratie – Kirche“; das Handout[4] umfasste acht Seiten und endete (überraschenderweise?) mit zwei grundsätzlichen Anfragen „an das Modell Girards“, Anfragen, die den weiteren Prozess seiner Auseinandersetzung mit Schwager und den Kollegen begleiteten. Die sachliche Anfrage betrifft den Stellenwert des Bösen („Girard und das Böse“): wenn „laut Schwager“ die Leistung dieser „universalen Theorie“ im Erläutern des Negativen liegt, kann man dann noch von einer Universaltheorie reden? Wozu bedarf es überhaupt einer solchen Theorie? Bei dieser ersten Stellungnahme spitzte Siebenrock seine Kritik verbal auf eine kaum zu übertreffender Weise zu: „Wer alles erklärt, sagt nichts.“ Die methodisch ausgerichtete Frage betrifft den argumentativen Stellenwert der Literaturwissenschaft. Die Auslegung von Texten sagt gar nichts über deren Authentizität, die Roman als Wahrhaftigkeit und Unverfälschtheit des Textes begreift (die dabei gezogene Parallelisierung zu Science-Fiction-Storys sollte seinen kritischen Standpunkt verdeutlichen). Außerdem vermag die Literaturwissenschaft keine Wesensaussagen zu machen. (Auf dem Exemplar des Handouts von Schwager sind drei Begriffe notiert, die vermutlich auch seine Stellungnahme zur Kritik von Roman betreffs des Wertes einer Universaltheorie strukturierten: Kohärenz, Integration, Einfachheit). Ein halbes Jahr später, am 2. Februar 1990, referierte Siebenrock zum Thema: „Grenzen begrifflicher Theologie (nach J. H. Newman)“: Im letzten Abschnitt: „Bedeutung für unser Vorhaben“  – gemeint ist die Erarbeitung einer „gemeinsamen Grundlage“   – hält er fest: Nach Newman hätte ein wissenschaftliches Erklärungsmodell einen Nützlichkeitswert; er erhebt keinen Wahrheitsanspruch. Dies bedeutet, dass die Wirklichkeit nicht in einem Modell aufgeht. „Wir müssten also fragen, welche relevanten Punkte ein Modell unterschlägt, welcher es gar nicht ansichtig werden kann (Stärken und Schwächen).“  Die Entscheidung für eine bestimmtes wissenschaftliches Paradigma fällt „in vorlaufenden Strukturen (‚first principles‘).“ Die Diskussion um das Auslegungsmodell Girards muss die vorgängigen Motivationen, Entscheidungen und Absichten erheben. Innerhalb der logischen Struktur ist eine Widerlegung nicht möglich („Solange wir logisch reden, sind wird unwiderlegbar“: so Newman in seiner „Zustimmungslehre“. (Schwager hat in seinem Manuskript das ganze Fragment dick unterstrichen.)[5] Hat Roman deswegen schon damals (also 1990) sich die Dissertation von Schwager[6] angeschaut (da ich bin mir nicht sicher), um auf die Spur „vorgängiger Motivationen, Entscheidungen und Absichten“ Schwagers zu kommen, die seine Begeisterung für Girard erklären würden.  In einem internen, für den Kreis und nicht zur Veröffentlichung bestimmten – leider nicht datierten – Papier, dass er mit dem Titel versieht „Quaestiones zur ‚Dramatischen Erlösungslehre‘“, und das er nach dem Erscheinen des Symposiumsbandes[7]  – demnach also frühestens im Jahr 1992 verfasst hat, stellt er jedenfalls fest: „Vielleicht ist die systematische Grundorientierung Schwagers an Geschichte und Lebensvollzug bereits hier (in der Dissertation) grundgelegt.“ (Ich komme noch auf das Thema zurück.) Kehren wir aber zurück zum Jahr 1990.

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Da Schwager inzwischen intensiv an seinem „Jesus im Heilsdrama“[8] arbeitete, wird die Diskussion über die „gemeinsamen Grundlagen“ zurückgestellt; ab dem 4. Mai 1990 stehen die Thesen zu diesem grundlegenden Werk bei den folgenden Sitzungen zur Diskussion. Das Werk erscheint auch in diesem Jahr, ein Jahr später findet in Innsbruck ein breit angelegtes Symposium zur Dramatischen Erlösungslehre statt. Auf Anregung Schwagers wurden die Thesen an alle katholischen und evangelischen Theologen des deutschen Sprachraumes, die sich mit der Erlösungslehre beschäftigen, verschickt. Sie alle wurden zum Symposium eigeladen als Referenten, aber auch als Mitdiskutierende. Das Symposium fand vom 25. bis 28. September 1991 in Innsbruck statt (die nur halbes Jahr später erschienene Publikation verzeichnet alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer; überraschenderweise blieben die Professoren-Kollegen aus dem Institut dem Symposium fern). Mit einer Rezension des Symposiumsbandes in der ThPQ im Jahr 1995 (432–435) haben wir die allererste publizierte Stellungnahme Romans zur „Dramatischen Erlösungslehre“ vor uns. Sie verdichtet seine bis dahin geäußerte Bedenken, arbeitet aber auch einige Punkte, die systematisch in den nachfolgenden Jahren in die Diskussionen eingebracht weden. Das Grundsatzurteil hält fest: „Sowohl in ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzung als auch in ihrer theologischen Denkform“ setzt der Entwurf dieser Erlösungslehre „einen bedeutsamen und hoffentlich zukunftsträchtigen Akzent in der aktuellen theologischen Diskussion“ (433). Schwager habe nämlich „der Theologie neues Land erschlossen“. Das Urteil bezieht sich zuerst auf die inhaltliche Grundorientierung an der „Gewaltfrage“. Es sei damit „ein Phänomen“ in die Mitte eines theologisch-systematischen Entwurfes gestellt „das konkret-geschichtlich und zugleich universal ist, das heißt alle Menschen und alle Kulturen zutiefst prägt. Darin ist weiters eine Anthropologie impliziert, die Individuum und Gesellschaft immer schon miteinander vermittelt; und zwar als von der subtilen Gewalt wesentlich geprägtes, äußerst gefährdetes Verhältnis, das sich nur durch Opfer temporär befrieden kann.“ Siebenrock bringt das revolutionär Neue auf den Punkt: „Dieser Grundansatz könnte mit dazu beitragen, auch öffentlich das christliche Selbstverständnis neu zu orientieren. Nicht mehr Fragen wie Weltflucht oder Leibfeindlichkeit (Sexualität) begründen das christliche Nein. Die christliche Negation und unabdingbare Verweigerung bezieht sich auf jene Logik der Welt, die im subtilen Gewaltmechanismus (‚Sündenbockmechanismus‘) entschlüsselt scheint. Nein zur Logik der faktischen Welt, weil ja zur Welt. Damit gelingt dem Entwurf eine prinzipielle Unterscheidung von Moral und Erlösung.“ All diejenigen, die nun glauben konnten, der im „Netz des Jägers“ beheimatete Nikodemus sei nun zu einem öffentlich bekennenden Jünger des Meisters geworden, irrten. Roman rieb sich an und verdaute nicht nur nicht die „fünfstufige Dramatik“ (in dem schon genannten internen Diskussionspapier: „Quaestiones“ kritisiert er die Trennung von Kreuz, Auferstehung und Pfingsten). Und die schon in der ersten Stellungnahme in der Freitagsrunde im Jahr 1989 geäußerte Skepsis zur Methode, meldete sich nun verstärkt zu Wort: kann „die Theologie eine mit literaturwissenschaftlicher Methode erarbeitete Kulturtheorie als Referenz einfachhin adaptieren“?  Unabsichtlich beweise doch der „Entwurf Girards“, „dass es der literaturwissenschaftlichen Methode nicht gelingen kann, den Ursprung des Phänomens der Religion zu erfassen.“  Noch grundsätzlicher gefragt: „Kann eine Kulturtheorie, die Wesensaussagen meidet, die aber immer wieder in Gefahr gerät, solche nahezulegen, Referenztheorie der Theologie sein?“ (Im erwähnten internen Diskussionspapier „Quaestiones“ schließt er sich der These Balthasars aus „Mein Werk. Durchblicke“(1990) an, dies nicht zuletzt auch deswegen, weil man da Aussagen finden kann, die so klingen, als wären sie von Rahner abgeschrieben. Ich zitiere nun Balthasar, weil dadurch das von Roman immer wieder geäußerte Unbehagen an Girards/Schwagers Zugang zur Religion sichtbar wird: „Der Mensch existiert als ein begrenztes Wesen in einer begrenzten Welt, doch seine Vernunft ist offen zum Unbegrenzten, auf das gesamte Sein; der Beweis dafür liegt in der Erkenntnis seiner Endlichkeit, seiner Begrenztheit: ich bin, ich könnte aber auch nicht sein. Vieles, was existiert, könnte nicht sein. … Dieses Auseinanderklaffen, diese ‚Realdistinktion‘ des hl. Thomas, ist der Quell alles religiösen und philosophischen Denkens der Menschheit.“  Und das an Rahner erinnernde Fragment: „Um die Selbstoffenbarung Gottes hören und verstehen zu können, muss der Mensch selbst ein Forschen nach Gott, eine ihm gestellte Frage sein.  … Der menschliche Verstand muss auf das Unendliche hin offen sein.“

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Und das explizit Dramatische? Roman war ja längst von der Denkform überzeugt, möchte deswegen auch dem „Netz“ nicht entrinnen. Sie (die dramatische Denkform) ist ja „von außerordentlicher Bedeutung“, denn: nur so kann „das Dramatische zwischen handelnden Freiheiten, zwischen dem Angebot Gottes im Evangelium Jesu Christi und uns Menschen“ thematisiert werden. Selbst die Qualifizierung „Universaltheologie“ schien ihm nicht mehr sauer aufzustoßen: „Wir haben nicht so viele universale Ansätze, die argumentativen Ansprüchen und ‚empirischer‘ Einlösbarkeit entsprechen wollen, die bereits in verschiedenen Disziplinen und weit über das wissenschaftliche (oder gar binnentheologische) Publikum hinaus diskutiert werden, und die sich ausdrücklich der Problematik unserer Zeit und der menschlichen Existenz stellen, als dass das vorliegende Programm mit leichter Hand abqualifiziert werden könnte.“

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Eines stand aber weiterhin fest: „manche Thesen der Girardisten“ können nicht überzeugen. (In der bereits mehrmals erwähnten „Stellungnahme“ mit dem Titel: „Quaestiones“ sprach Roman freimütig davon, dass „Schwager durch seine bedeutsame Entdeckung eines wirklich Neuen und zentral Wichtigen etwas geblendet ist; und der Faszination dieser Entdeckung nur allmählich entgeht“.  Diese fast apodiktisch geäußerte These wurde in der Rezension von Girards „Wenn all das beginnt“ (soweit ich sehe, die einzige Rezension eines Werkes von Girard, die Roman geschrieben hat), die im Jahr 1997 in „Christ in der Gegenwart“ erschien (34/1997, 278), etwas neutralisiert. Die Lektüre des Autors (gemeint ist Girard), der „die Geister scheidet“ („Von begeisterter Zustimmung bis zu erbitterter Ablehnung reichen die Meinungen“ über den Autor, den „gewagte Einseitigkeit“ kennzeichnet) bietet „einen unmittelbaren und umfassenden Einblick in die Werkstatt dieses interessanten, anregenden Denkers“. Roman schien nun – bei aller verbleibenden Skepsis – von der bemerkenswerten Fähigkeit Girards, unterschiedliche Bereiche der Geschichte und Gegenwart zu verbinden, ja „scheinbar unvereinbaren Eigenschaften“ zusammenzudenken, fasziniert (vermutlich nicht zuletzt deswegen, weil dies auch sein eigenes Programm ist). Zusammengedacht werden also „christlich-kirchliches Bekenntnis und radikale Kritik, Forderung der Aufklärung und die Wahrheit der Bibel, Glaubenszeugnis und denkende Zeitgenossenschaft.“ Mir ist allerdings aufgefallen, dass in dieser Besprechung zwar sein „Glaubenszeugnis“ genannt, nicht aber auf die breite Schilderung des Konversionserlebnisses hingewiesen wird.

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Wäre das aber (so meine nun nach mehr als 40 Jahren geäußerte kritische Anfrage an Roman) nicht auch die Spur der „vorlaufenden Strukturen“, jener „vorgängiger Motivationen, Entscheidungen und Absichten“, die Newman in seiner Zustimmungslehre als Gründe der Entscheidung für eine bestimmtes wissenschaftliches Paradigma fordert? Hätte damals die vertiefende Reflexion dieser durch Girard entwaffnend verfassten biographischen Analyse den Skeptiker Siebenrock in Sachen Leistungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der Literaturwissenschaft als Referenztheorie der Theologie zum Umdenken bringen können? Die entscheidenden Passagen für diejenigen, die den Text noch nicht kennen: „Im Herbst 1958 arbeitete ich (Girard) an meinem Buch über den Roman [...]. Ich dachte über die Analogien zwischen der religiösen Erfahrung und der des Romanschriftstellers nach, der sich als systematischer Lügner entdeckt, als ein Lügner zugunsten seines Ichs, das letztlich aus tausend Lügen besteht, die sich über eine lange Zeit hinweg angehäuft haben und die manchmal im Laufe eines ganzen Lebens zusammengetragen wurden. Ich habe schließlich begriffen, dass ich gerade dabei war, eine Erfahrung zu machen wie diejenige, die ich gerade beschreiben wollte. Der religiöse Symbolismus, der bei den Romanschriftstellern im Keim vorhanden ist, begann in meinem Fall ganz von allein zu wirken, und er entflammte sich spontan. Ich konnte mich hinsichtlich dessen, was mit mir geschah, keinen Illusionen mehr hingeben, was mich vollkommen aus der Fassung brachte, denn ich war stolz auf meinen Skeptizismus. Ich konnte mir nicht vorstellen, in die Kirche zu gehen, niederzuknien, etc. Ich war wie ein Windbeutel, erfüllt von dem, was in den alten Katechismen als Menschenfurcht bezeichnet wird. Auf intellektueller Ebene war ich bekehrt, aber ich war immer noch unfähig, mein Leben mit meinen Gedanken in Übereinstimmung zu bringen.“ (Wenn all das beginnt,  1997, 180) Ein Jahr später entdeckte Girard an seiner Stirn einen Pickel, der sich als eine Form von Hautkrebs entpuppte. Der junge Literaturprofessor stürzte in die Krise. Am Mittwoch in der Karwoche wurde er dann nach allen Untersuchungen für geheilt erklärt. „Nie zuvor hatte ich ein Fest erlebt, das mit dieser Befreiung zu vergleichen gewesen wäre. Ich sah mich schon tot, und auf einmal war ich auferstanden. Das Wundervollste an dieser ganzen Geschichte war für mich die Tatsache, dass meine intellektuelle und spirituelle Neuausrichtung, meine wahre Bekehrung, vor meiner großen Angst während der Fastenzeit geschehen war. Wenn sie danach eingetreten wären, hätte ich nie wirklich geglaubt. Da ich von Natur ein Skeptiker bin, wäre ich überzeugt geblieben, dass mein Glaube allein auf meine Angst zurückzuführen sei. Die Angst ihrerseits konnte nicht die Folge des Glaubens sein. [...] Ich bin überzeugt, dass Gott den Menschen viele Zeichen sendet, die für die Weisen und Gelehrten objektiv nicht existieren. Jene, für die sie nicht bestimmt sind, halten sie für Einbildung, aber jene, für die sie bestimmt sind, können sie nicht missverstehen, denn sie machen die Erfahrung von innen her.“ (183) Auf dem Hintergrund solcher Erfahrungen und der daran anschließenden Neuausrichtung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit wird sein – beim Jahreskongress der Modern Language Association in San Francisco im Jahr 1998 geäußertes – Bekenntnis verständlich: „Das Thema Literatur und Christentum steht für meine ganze intellektuelle und spirituelle Existenz. Ich habe mit den großen Romanen angefangen, bin dann zu Mythen und Tragödien übergegangen um dann Mitte der 70-er Jahre mit der biblischen Literatur fortzufahren.“ So weit die von Newman geforderte Spur der „vorlaufenden Strukturen“ bei Girard, die nach Newman die Wahl und auch die (subjektive) Glaubwürdigkeit eines Paradigmas zu erklären helfen.

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Bei Schwager verfolgte Roman diese Spur ausdrücklich, indem er (und dies als erster von uns allen) die Dissertation des jungen Jesuiten las. Diese Lektüre dürfte ihm (so meine Einschätzung) die grundsätzlichen Vorbehalte gegen die Theologie Schwagers ausgeräumt haben. Worum ging es dabei? (Wiederum ein Exkurs für diejenigen, die es noch nicht wissen). „Das dramatische Kirchenverständnis bei Ignatius von Loyola“ (so der Titel der publizierten Dissertation) bringt den spezifisch schwagerschen Begriff des Dramatischen, samt dessen „Definition“, die in den zahlreichen Publikationen und Dissertationen aus dem Bereich der Dramatischen Theologie dann zu finden ist. (Der Forschungskreis „Dramatische Theologie“ verdankt also Roman die Entdeckung dieser grundsätzlichen Begriffsbestimmung). Wie die meisten von uns wissen, hat Schwager den Begriff nicht vom von Balthasar, sondern aus der Arbeit des Linguisten Roland Barthes übernommen.  (In der schon mehrmals erwähnten Stellungnahme: „Quaestiones zur Dramatischen Erlösungslehre“ würdigt Siebenrock die Tatsache, dass sich Schwager von Balthasar „wohltuend“ unterscheidet, weil er „das dramatische Geschehen nicht in Gott selber hineinträgt, sondern in der Auseinandersetzung der Menschen und ihrer Gesellschaft mit dem Anspruch des Evangeliums ansiedelt. Niemals nimmt er den Standpunkt Hegels ein, den faktisch auch Balthasar beansprucht…, wenn er die Geschichte Gottes selber, vom Hügel des Weltstrategen aus betrachtet.“ Roland Barthes bezeichnete die Sprache der Exerzitien als „dramatisch“, weil sie in ihrem Diskurs nicht bloß rationale, sondern auch affektive und willensmäßige Elemente integriert. Schwager qualifizierte nun das ignatianische Verhältnis zur Kirche als „dramatisch”. Damit wollte er sagen, „dass die wahre Einheit mit der Kirche durch alle Vorurteile, affektive Enge und Sündhaftigkeit der einzelnen Gläubigen und der Vertreter der Kirche hindurch zu suchen ist.“ Die daraus folgende systematische These (hat übrigens heute mehr denn je ihre Gültigkeit) besagt, dass „die Einheit mit der Kirche sich in der Begegnung von Menschen vollzieht, zwischen denen alle Momente wie in einem Drama – Entwicklung, Auseinandersetzung, Spannung, Krise, Niederlage und letztliche Versöhnung – spielen können, ja sogar spielen ‚müssen‘. ... Diese Dramatik ist allerdings keine Tragik, sondern sie ist belebt von der sicheren Hoffnung auf eine letzte Versöhnung. Wo jedoch der Mut zu dieser Dramatik fehlt und die Versöhnung vorschnell gesucht wird, dort dürfte nicht mehr der allumfassende Geist am Wirken sein, sondern eher eine götzenhafte Verabsolutierung sichtbarer Strukturen sich abzeichnen.” (Es sei mir an Rande erlaubt zu sagen, dass Schwager, der ja die Diskussionsgruppen an der Fakultät als ekklesiale Gemeinschaften verstand, aus diesem Geist zu leiten versuchte – insofern wäre sein Verhältnis zu Roman und Romans zu Schwager, samt den anderen Kollegen ein paradigmatisches Beispiel des so verstandenen „Dramatischen“!)

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Roman suchte aber in der Dissertation nicht nach der Begriffsbestimmung des Dramatischen, sondern nach Spuren religiöser Erfahrung des Autors selbst. Deswegen galt auch seine Aufmerksamkeit dem Weg des „unbändigen Mystikers” und religiös sensiblen Individuums Ignatius. Die spirituell-theologische Schule des Ignatius verband ja Schwager mit Rahner, damit auch mit Siebenrock, dessen erste Liebe wohl Rahner galt. Dem „im Netz gefangenen“ „Theologen mit eigenen Profil“ – so das Urteil Schwagers über Siebenrock im Gutachten zur Definitivstellung an der Fakultät, als auch in seiner Begründung der Nominierung von Roman für den Förderungspreis des Landes Tirol 1998 (Schwager bekam den großen Preis des Landes, konnte auch zwei junge Wissenschaftler nominieren und nominierte Wolfgang Palaver und Roman Siebenrock) – ist der hermeneutische Horizont, vor dem er Schwager rezipieren und kreativ weiter entwickeln wollte, endlich klar: „Die systematische Grundorientierung Schwagers an Geschichte und Lebensvollzug (ist) bereits … (in der Dissertation) grundgelegt.“ Deswegen verfasst er im Jahr 1995 einen leidenschaftlichen Beitrag zum 60sten Geburtstag von Schwager mit einem bemerkenswerten Titel: „Theologie aus unmittelbarer Gotteserfahrung – oder von der gefährlichen Faszination der Sünde für die Theologie“.[9] Der erste Teil des Beitrags liest sich ähnlich, wie sich das „Bolero“ von Ravel anhört. In immer neuer Variation, unter der Berücksichtigung immer neuer „Instrumente“/hier: Argumente wird ein und dieselbe Melodie/hier das Thema moduliert: Der Begriff „Kritik“ an dem Entwurft ist zwar dominierend, doch im Hintergrund geht  es um etwas anderes: Siebenrock glaubt mit seinen Überlegungen „an eine(r) Quelle“ des theologischen Werkes von Schwager zu rühren, „die in den wissenschafts-theologischen Arbeiten kaum hervortritt, aber in entscheidenden Fragen seine Wirkung zeigt: die mystische Erfahrung, die  Ignatius in seinen Exerzitien voraussetzt.“ (71). Deswegen auch seine These von enormer Tragweite: „Erst in der theologisch-systematisch verschwiegenen Gotteserfahrung und unmittelbaren Christusbegegnung der Exerzitien findet sich das versteckte Herz der Theologie Schwagers. Ohne dieses degeneriert seine Systematik zum bloßen Mechanismus.“ (72).  Dass „alle Theologie aus unmittelbaren Gotteserfahrung“ entspringen muss und die Theologie wesentlich eine „Theologie aus Erfahrung der Gnade sein muss“ stellt geradezu das wissenschaftstheoretische und wissenschaftspolitische Bekenntnis (84) des verehrten Kollegen dar. 

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Dieser klaren Positionierung ist ein – man möchte fast sagen – traumatisches Erlebnis vorausgegangen. Die Reihenfolge folgender Erinnerungen ist leider nicht klar dokumentiert. Ungefähr ein Jahr vorher referierte Roman bei der Sitzung der Freitagsrunde am 15 April 1994 über die Bedeutung der transzendentalen Theologie (Das Thema: „Wirklichkeit und Bedeutung“). Auf der Einladung steht auch der Name (seines unmittelbaren Chefs) Karl-Heinz Neufeld; bei der nächsten Einladung vom 24. Juni 1994 ist der Name nicht mehr da; er wird auch nicht mehr weder im Kreis, noch später im expliziten RGKW erscheinen. Was ist passiert? Es ist (mir) nicht ganz klar, ob es diese Sitzung vom April war, oder jene von 26. Mai (zu der sich leider keine Einladung im RSA finden lässt) in der ein Eklat passierte. Bei der Frage, ob der Glaube zuerst vom Sehen (Rousselot) oder vom Hören (Rahner) kommt, gerieten sich Schwager und Neufeld in die Haare. Neufeld bekam einen „Tobsuchtanfall“, er fing an mit den Füßen zu stampfen, sprangt herum, sein Kopf wurde derart rot, dass man an einen Anfall denken könnte. Er rannte aus dem Raum und knallte die Tür zu. (Nur am Rande sei erwähnt, dass bereits vor einem Jahr P. Vass die Einladung für die Sitzung am 5. März 1993, bei der das Thema der Pluralistischen Religionstheologie diskutiert werden sollte mit dem Vermerk verschickt hat: Einladung zum „Anbetungskreis“). Das „Netz“ drohte durch solche Ereignisse zu zerreißen, zerriss aber nicht. Nach den Erfahrungen der expliziten oder stillen Distanzierungen in der potenziell auf die ganze Fakultät ausgerichteten Freitagsrunde, suchte Schwager zusätzlich  innerhalb des Institutes eine zweite Kommunikationsschiene, genannt „Innerdogmatische Forschungsgespräche“ (RSA I.16,8) zu etablieren. Es war eine Mischung aus Institutskonferenz und sachlicher Auseinandersetzung. Die Gespräche fanden zuerst am Dienstag, dann am Donnerstag statt (die erste archivierte Einladung ist datiert mit 10. Jänner 1995; das Thema: Theologie und Lehramt; den Anlass stellte die „Instruktion der Glaubenskongregation“ dar; das Protokoll hält die Übereinstimmung der Teilnemer (van Banning, Hell, Lies, Regensburger, Sandler, Schmolly, Schwager, Siebenrock, Tschuggnall, Vass – Niewiadomski war zu dieser Zeit Professor in Linz) fest: „das Lehramt ist notwendigt, wie es aber jetzt seine Funktion wahrnimmt ist sehr problematisch; jene Entscheidung des Lehramtes, durch die der Kanon des NT festgelegt wurde, ist nicht zu hinterfragen und bleibt verbindlich“. Das Protokoll, von Schwager unterschrieben, legt fest, dass nun die Verbindlichkeit der großen Konzilien (christologisches und trinitarisches Dogma diskutiert werden soll) – ein klarer Hinweis, dass Schwager seine Arbeit am Werk: „Dogma und Drama“ (jetzt in RSGS Bd. 5) begonnen hatte. Hinzu kommt die Initiative mit der „Gardasee-Gruppe“, die Schwager ins Leben rief mit dem klaren Ziel stückweise im Sommer so etwas zu verwirklichen, was an der Fakultät nur mühsam vor sich ging, nämlich eine Gruppe, die wissenschaftlich forscht und gemeinsam betet. Schlussendlich ist auch die bald aufgekommene Idee zu erwähnen, dass die Gruppe auch die Verantwortung für einen Sonntagsgottesdienst in der Jesuitenkirche übernehmen könnte: GIFT (Glauben, Informieren, Feiern, Teilen), eine Initiative, die viel Widerstand in der Gruppe selbst erfahren hat, die aber auch stückweise realisiert wurde (Roman selber hat soweit ich mich erinnern kann, an den 18.00 Uhr Gottesdiensten am Sonntag nicht aktiv mitgewirkt – wohl aber ist seine spätere Tätigkeit als Prediger v.a. bei den 11.00 Uhr Gottesdiensten ohne die GIFT-Initiative nicht denkbar).

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Warum rufe ich all das in Erinnerung? Weil all diese Initiativen und Aufbrüche auf Roman prägend gewirkt haben – sie sollten auch seinen Dank aus der Einleitung zu seiner Habilitationsschrift plastischer erscheinen lassen: „Dass in der pointierten Auseinandersetzung Freundschaft wachsen kann, (erlebt er) als kostbares Geschenk.“ 

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Die – in der Darstellung inzwischen ein bisschen untergetauchte – Arbeit an einer „gemeinsamen Grundlage“ wurde in der Zeit der zugespitzten Konflikte intensiviert. Mehrere Sitzungen und Entwürfe führten 1995 letztlich zu dem programmatischen Text: „Dramatische Theologie als Forschungsprogramm“[10]. Der Text verschweigt die Differenzen nicht: „Auf diese oder jene Weise sind die Arbeiten durch die mimetische Theorie von René Girard inspiriert; der Grad der Identifikation mit der Theorie war und ist unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kreises unterschiedlich.“ Der thematische Einfluss von Roman (und P. Otto Muck, aber auch Gerhard Larcher) ist im Text vor allem in der Klassifizierung und Reihung von Hypothesen bemerkbar. So wurde die Gefahr der Verengung des ganzen Programms gebannt: durch drei Hypothesen, die als „umfassender Rahmen“ gewertet, die Dimension der grundsätzlicher „Nicht-Einholbarkeit des göttlichen Mysteriums durch das endliche Denken und das nicht zu stillende Sinnverlangen“ thematisierten. Die Theorie von René Girard wurde als erste Hilfshypothese gewertet, weil sie „ein Instrumentarium“ bietet, um in der Auseinandersetzung mit den Human- und Gesellschaftswissenschaften die Erfahrungen von Menschen von heute den zwei zentralen Hypothesen zuzuordnen. Diese – als harter Kern des Programms qualifiziert – sind durch inkarnatorische Logik inspiriert; sie fokussieren die Problematik eines „echten und dauerhaften Friedens“ (ohne Polarisierung auf Feinde und ohne Opferung der Sündenböcke.) Ein solcher Friede wird als Zeichen der Präsenz des Hl. Geistes gewertet. Mit der zweiten Hilfshypothese kommt gleich der Ansatz von Karl Rahner zur Sprache (wobei der Hinweis auf die Dissertation von W. Sandler eine „prinzipielle Vermittelbarkeit Rahner‘scher Theologie mit der Theorie René Girards“ signalisiert[11]). Die dritte Hilfshypothese deutet an, dass auch Teilhard de Chardin von Bedeutung sein könnte in Sachen der Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften. (Am Rande sei eine schöne Skurrilität in Erinnerung gerufen: Der Text wurde quasi lehramtlich geprüft, weil aufgrund eines Missverständnisses in der Bildungskongregation von der „Hypothesentheologie“, die in Innsbruck gelehrt werden sollte, gesprochen wurde. Daraufhin hat Schwager am 4. Dezember 1996 den Text an die Bildungskongregation und die Glaubenskongregation geschickt; am 16. September 1997 leitete er an die Mitglieder des RGKW-Kreises den Brief vom Präfekten der Glaubenskongregation Kard. Ratzinger weiter. Ratzinger spricht vom „interessanten Experiment“, das vor allem dem Gespräch mit allen modernen Wissenschaften dienlich sein kann. Er erhebt auch keinen Einwand gegen diese Art des Theologietreibens. Man solle sich aber eines immer wieder in Erinnerung rufen: „Von Hypothesen – auch von einem zunächst als Hypothese her gedachten Christentum – kann man nicht leben. In einer Denkwelt, die nur die Hypothese zulässt, muss man auf dem Weg der Hypothese eintreten, aber doch, um am Ende die Unmöglichkeit des Rückzugs in die Hypothese wenigstens ahnen zu lassen und ein Fragen anzustoßen, das die Grenzen der Neuzeit überschreitet.“  (RSA I.16,49).

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Roman Siebenrock und die „Dramatische Theologie“: Die wohl schärfste Polemik, um nicht zu sagen „vernichtende Kritik“ im Kontext des sich in der Entwicklung befindenden Programms findet sich in der ausführlichen Stellungnahme, die Roman am 23. Januar 1998  an alle Mitglieder der Forschungsgruppe als Reaktion auf das „zweite Positionspapier“ des RGKW zum Thema: „Pluralismus–Ethische Grundorientierung–Kirche“[12] geschickt hat. In einer ausführlichen Stellungnahme begründet er seine Verweigerung, den Text inhaltlich mitzutragen, rechtfertigt dies mit den Hinweisen, dass seine sachorientierte Kritik in den Diskussionen nicht ernsthaft berücksichtigt wurde. Auf seine Anregung wurde dann der Text publiziert mit der Anmerkung, wer den Text inhaltlich mitträgt und wer sich nur am Diskussionsprozess beteiligt hat. Die schärfsten Spitzen richten sich gegen einen der Hauptautoren des Textes, Wolfgang Palaver. Diese Stellungnahme verdichtet geradezu Romans im Verlauf der Jahre immer wieder durchbrechenden Bedenken gegen die „Girardisten“. Die entscheidenden Passagen werden hier zitiert, auch um zu zeigen, dass im Kreis leidenschaftlich gestritten wurde und Roman war ein Meister darin. So hält er zum Argumentationsstil des vorgelegten Positionspapiers fest, es werde darin oft „theologisch-rationale Argumentation in den entscheidenden Ausführungen“ aufgegeben und „das Argument durch Rhetorik und Ansichten ersetzt“.  „… Die grundlegenden Standards philosophischer Argumentation … werden schlicht ignoriert. „Die anderen Positionen (konkret Kant, Habermas) werden karikiert, um sich ihrer leichter entledigen zu können.“  Kurz zusammengefasst: „Ich befürchte, dass sich die Gruppe mit diesem Papier vom Stil der Argumentation verabschieden könnte.“ Die emotional vorgetragene Meinung des Verweigerers kulminiert in der sachlichen Kritik der Bedeutung der Theorie Girards. Im Unterschied zum ersten gemeinsamen Text „Dramatische Theologie als Forschungsprogramm“, in dem die Theorie Girards als Hilfshypothese (neben Rahner, Teilhard de Chardin) genannt wird, wird sie nun „in die zentrale Bestimmung des unterscheidend Christlichen“ hineingenommen; sie wird „faktisch … zum zentralen hermeneutischen Schlüssel“ erhoben. So macht der Text „den Eindruck, dass er zu durchsichtig auf das Thema Mythos … losgeht, um mit Girard eine ‚ceterum censeo‘-Litanei abzuspulen. Ich glaube nicht, dass Girard der Deckel ist, der auf alle Töpfe passt.“  Der – speziell an einige Mitglieder der Gruppe – gerichtete Vorwurf lautet: Girards Theorie wird „zum Bekenntnis umgewandelt“; „ich (RS) jedenfalls glaube nicht an den Sündenbockmechanismus“. Demgegenüber erinnert er, dass das „Christentum wesentlich über die ‚ungeschaffene Gnade‘ zu bestimmen ist (also nicht über Ethik, sondern durch die Selbstmitteilung Gottes“. Das sei doch Konsens zwischen de Lubac, Congar, Barth, Rahner, Balthasar und vielen anderen. Das Papier sei „wesentlich von einer freikirchlichen Ekklesiologie bestimmt“ (gemeint ist Stanley Hauerwas). Eine rhetorische Probe muss man sich anlässlich der festlichen Verabschiedung des Autors doch gönnen; sie zeigt ja Roman, wie er lebt, leidenschaftliche streitet und auch zutiefst seine Kollegen liebt: „Ich bin kein Prophet, mich hat die glühende Kohle des Engels Gottes nicht gereinigt. Auch hat mich der spezielle Ruf Gottes in der Nacht nicht geweckt. Ich bin ein gewöhnlicher ‚Volkskatholik‘, der nicht wiedererweckt worden ist. Ich habe auch nicht die Gabe, in Zungen zu sprechen. Mir als durchschnittlichem Christ, der in Konstantins Toleranzgesetzgebung (Staatskirche wurde das Christentum doch erst später) nicht den Sündenfall der Kirchengeschichte erkennen kann…, bleibt daher nur das Stilmittel der Theologie der durchschnittlichen Christen: das Argument. Da fühle ich mich aber auch nicht in schlechter Gesellschaft, sondern erinnere an Paulus, der einmal seinen Charismatikern zurief: ‚Doch vor der Gemeinde will ich lieber fünf Worte mit Verstand reden, um auch andere zu unterweisen, als zehntausend in Zungen stammeln‘ (1 Kor 14,19)“.  (RSA I.16.2.g)

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Es ist der ausgleichenden Rolle von Schwager zu verdanken, dass nur knapp fünft Monate später Roman am 5. Juni 1998 seine Vision der „dramatischen Theologie“ zur Diskussion stellte. Das dazu verfasste (fragmentarische) Papier ist betitelt: „Christsein in dieser Zeit und die Aufgabe der Theologie“. Er erinnert zuerst an die Notwendigkeit einer „inneren Distanz“ zur Gegenwart; die Normen der Moderne seien nicht das Gesetz, dem sich der Mensch unterwerfen muss. Und die „Welt von heute“ sei eine „höchst vielfältige und unterschiedliche Wirklichkeit“. Deswegen schließt er sich gleichsam programmatisch der „Vorgabe von Niewi auch terminologisch prägend zu wirken“ und sich verbindlich den Namen „dramatische Theologie“ zuzulegen an: „für eine Forschergemeinschaft“ sei das „notwendig“. Zu Normativität biblischer und frühkirchlicher Entwicklung hält er fest: die Dramatik sei nicht nur „zwischen Evangelium und seinen Hörern, sondern auch in der Wirkungsgeschichte des Evangeliums zu verorten.  Dies bedeutet, dass das Neue Testament selber ein Dokument der ersten dramatischen Entfaltung und Auslegung der Botschaft und Person Jesu Christi darstellt.“ Die Dramatik der Geschichte des Christentums „bleibt bis auf den heutigen Tag vorgegeben“. Implizit wendet er sich damit gegen alle Kirchenträume, die von einer Einheit träumen. „Es ist daher nicht nur ein Gebot wissenschaftspolitischer Klugheit, sondern noch mehr eine Forderung sachgerechter Terminologie, das Vokabular der dramatischen Theologie hier einzusetzen, zu erweitern und zu präzisieren.“ Damit zieht er noch einmal deutlich eine Grenze zu einem (seiner Meinung nach) allzu engen Verständnis des dramatischen Ansatzes: „Eine theologische Position, die eine gesamte Kultur oder Entwicklungsära der Menschheit als Häresie (Abfall oder ‚fern von Gott‘) ansieht, qualifiziere ich als ‚geschichtlichen Manichäismus‘. Ich möchte auch gerne eingestehen, dass ich die Gefahr eines ‚kulturellen Manichäismus‘ in den Schriften Girards und dem Wortlaut und der Interpretation von Wolfgang zu sehen vermeine.  Ich sehe nicht, dass eine einheitliche Lösung erarbeitet werden kann. Daher plädiere ich für einen legitimen Pluralismus. Ich misstraue weiterhin monokausalen Erklärungen und einheitlichen Marschvorgaben. … Ich stehe nicht auf dem Standpunkt…, dass man zunächst scharf ja überscharf verurteilen (und damit verzerren und zuschustern) muss, um hernach versöhnen zu können.“ (RSA I.16,2g.)

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Es war dies die Zeit, in der Roman intensiv an seiner Habilitationsschrift arbeitete. Neben dem Haupttext, der dem Frühwerk Karl Rahners (als Auslegung der doppelt-einen Bewegung der ignatianischen Exerzitien) gewidmet ist, umfasst sie noch etliche publizierte und auch nicht publizierte Aufsätze (einige wurden intensiv im RGKW diskutiert). Im dritten Teil nimmt er den fünf Jahren vorher anlässlich des 60gsten Geburtstags von Schwager publizierten Aufsatz, bearbeitet ihn aber und dies nicht unwesentlich (der Umfang des Textes wächst fast um das Doppelte). Schon die ersten Zeilen dieses Textes überraschen: „Kritik in der Theologie steht in der Gefahr, (…) missverstanden zu werden. Sie sollte (…) keinem Absetzungsverfahren gleichen, in dem die Arbeit der vorangehenden Generation als Negativfolie für die eigenen Ansätze missbraucht wird. Daher hat Kritik immer die gemeinsame Aufgabe der Theologie voran zu stellen. (…) Kritik beruht immer auf Zustimmung und Anerkennung, und ist in dieser Form Ausdruck von Dank.“ (552) Sie generiert auch Vielfallt, die aber nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden darf. „Erst in der Vielfalt eröffnet sich die dramatische Musik einer Symphonie.“ (554). Deswegen postuliert er für „seinen eigenen Versuch“ des dramatischen Denkens einen neuen Rahmen: nämlich „jene christologische Schule, die als universalgeschichtliche Schöpfungschristologie gekennzeichnet werden kann. Mit ihr verbinden sich Namen wie Duns Scotus, aber auch Ignatius von Loyola und in diesem Jahrhundert vor allem Karl Rahner.“ Sein Beitrag versteht sich nun „als Gespräch zwischen den Schulen.“ (ebd.) Weil theologische Anthropologie, die sich als Erbsündenlehre versteht, nicht nur „defizient“, sondern auch gefährlich werden kann, pocht Siebenrock noch mal bewusst auf die „Priorität“ der Gnade, auf „die Unmittelbarkeit zu Gott, aus der alle Theologie entspringt.“ Denn: „Ohne eine solche Unmittelbarkeit zu Gott muss Theologie scheitern.“ Erst nach dieser neuen Verortung der Theologie setzt Roman mit dem alten Text fort, in dem vom Evangelium in einer Welt der Sünde (wobei er auf die Interpretation der Erbsünde und Sünde durch Nikolaus Wandiger zurückgreift[13]) und der Inkarnation bis zum Kreuz auf den Spuren Schwagers geredet wird. Endet der ursprüngliche Text mit dem Hinweis, dass dramatische Theologie keineswegs ein fertiges Produkt sei: „Wir fangen erst an, das dramatische Denken in verschiedenen Bereichen zu erproben. Dafür aber scheint es mir unausweichlich zu sein, die ‚mimetische Konzentration‘ dramatischen Denkens zu überwinden“ (86), so setzt nun die neu geschriebene Version mit weiterführenden – 6 Manuskriptseiten umfassenden – Überlegungen  über „Dramatische Theologie als Theologie aus der Erfahrung des Handeln Gottes“ und v. a. über „Hermeneutische Grundoptionen einer dramatischen Theologie“ fort. Darin verdeutlicht er seinen eigenen Zugang zum dramatischen Denken, der – wie könnte es anders sein – auch von Newman, vor allem aber von Rahner nuanciert wird. In seiner Zustimmungslehre hält Newman fest: „Das Christentum ist eine übernatürliche, nahezu dramatische Geschichte: Es erzählt uns, was ein Schöpfer ist, indem es uns erzählt, was er getan hat.“ (zit. nach Siebenrock, 577)  Ähnlich Rahner in seinem Zugang zur Dramatik: „Gottes Handeln im Laufe der Heilsgeschichte ist nicht gleichsam ein Monolog, den Gott für sich allein führt, sondern ein langer, dramatischer Dialog zwischen Gott und seinem Geschöpf“. (zit. nach Siebenrock, 579) „Der Mensch steht in einem echten Dialog mit Gott. Er gibt dem Worte Gottes an ihn die Antwort, die er, den Menschen geben will. Und diese kann gegen Gottes Willen ausfallen.“ (Rahner in seinem Artikel: Theos im Neuen Testament; jetzt in den Werken). Deswegen schätzt Roman die dramatische Denkform, in der Situationen und Handlungen „weder nach allgemeinen Gesetzen abgeleitet, noch dialektisch aufgehoben werden“. Natürlich ist ihr die Gefahr inhärent, „das Skript des universalgeschichtlichen Dramas“ zu entwerfen. Deswegen ist an Raymund Schwager besonders hoch zu schätzen, dass er „den Status der verschiedenen Akte nicht auf der gleichen erkenntnistheoretischen und lebensgeschichtlichen Ebene“ angesiedelt hat.  (zit. nach Siebenrock, 578) .

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„Dem Netz entronnen?“, lautet die Frage, die für den Titel dieser Ausführungen steht. Ich habe versucht, das Ringen von Roman um die adäquate theologische Denkform in den ersten Jahren seiner Tätigkeit in Innsbruck darzustellen. Und muss nun eingestehen, dass mir erst durch das Studium der archivierten Unterlagen bewusst geworden ist, wie wichtig sein Engagement für die Präzisierung der theologischen Denkform und des Modells der Innsbrucker Dramatischen Theologie war. Er musste also dem Netz nicht entrinnen, weil er das Netz sukzessiv selber gestrickt hat. Dass er dann zum – ich möchte sagen – Wunschnachfolger von Raymund Schwager geworden ist und in sein Zimmer eingezogen ist, alle möglichen Funktionen im RGKW und den daraus entwachsenden Initiativen wahrgenommen hat, damit auch selber zum „Jäger“ oder „Fischer“, die die Netze auswerfen geworden ist, dafür kann ich nur Gott danken.

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Lieber Roman, In Deinem Dienstzimmer befindet sich eine vergrößerte Reproduktion der „Johannesminne“ aus dem Münster des ehemaligen Zisterzienserinnen-Klosters Heiligkreuztal in deiner schwäbischen Heimat. Johannes lehnt an der Brust Jesu. Du hast immer schon ein solches Szenario als erstrangige theologische Matrix gesehen und deren Logik auch gegen die – deiner Meinung nach – doch der klassischen Sündenperspektive verpflichtenden mimetischen Theorie von René Girard geltend gemacht und auch bei Schwager eingemahnt. Es sei die Perspektive, in der die dramatische Logik ihren Ausgang, aber auch ihr Ende findet und die nur eines sagt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“

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Anmerkungen

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[1] Unveröffentlichtes Manuskript. Innsbruck 2000. Folgender Beitrag, verfasst für das Kolloquium, das anlässlich der Emeritierung des Kollegen Siebenrock in Innsbruck am 9./10. Juni 2022 stattgefunden hat, dokumentiert anhand der im Raymund Schwager Archiv (RSA) vor allem unter dem Siegel: I.16,2g aufbewahrten Dokumente die Rolle Siebenrocks im Kreis der „Dramatiker“.

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[2] Zum Vergleich: 2010 sind es über 20 Namen, die im Forschungskreis RGKW mitmachen.

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[3] Vgl. die deutsche Übersetzung des Beitrags in: Raymund Schwager Gesammelte Schriften (RSGS) Bd. 8, 294–311.

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[4] In: RSA I.16,2g.

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[5] Vgl. RSA I.16,2g.

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[6] Jetzt in RSGS Bd. 1, 39–258.

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[7] Dramatische Erlösungslehre. Ein Symposion. Hg. von J. Niewiadomski/W. Palaver, Innsbruck 1992.

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[8] Jetzt in: RSGS Bd. 4, 39–403.

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[9] In: Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Raymund Schwager zum 60. Geburtstag. Hg. von J. Niewiadomski/W. Palaver, Thaur 1995, 69–92.

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[10] Zuerst veröffentlich in ZKTh 118 (1966) 317–344.

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[11] Vgl. W. Sandler, Bekehrung des Denkens. Karl Rahners Anthropologie und Soteriologie als formal-offenes System in triadischer Perspektive. Frankfurt/M. 1996.

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[12] Zuerst veröffentlicht in: ZKTh 120 (1998) 257–289.

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[13] N. Wandinger, Die Sündenlehre als Schlüssel zum Menschen. Impulse K. rahner und R. Schwagers zu einer Heuristik theologischer Anthropologie. Thaur 2003.

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