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Theologie treiben in Zeiten des Krieges
(Antwort auf den Vortrag von Chefredakteur Claus Reitan am Fakultätstag)

Autor:Schwager Raymund
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:# Beitrag am Fakultätstag 2002: Theologie treiben in Zeiten des Krieges
Datum:2002-03-25

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Herr Chefredakteur C. Reitan hat in seinen Ausführungen folgende zentrale Thesen aufgestellt: "Wo es die Theologie nicht gibt, wo also Religion und Kirche nicht aus sich selbst heraus auf die Höhe der Zeit gebracht werden (Islam, Judentum), fehlt sie bitter. - Wo es die Theologie gibt, wo sie Religion und Kirche einigermassen auf die Höhe der Zeit gebracht hat (Christentum), hat sie sich erschöpft."

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Ich möchte einige Bemerkungen machen, die einerseits die erste der beiden Thesen stützen und anderseits die zweite kritisch befragen.

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1) Der Terroranschlag vom 11. September hat nicht bloß eine große Zahl von Opfern gefordert. Er hat Symbole getroffen, das World Trade Center in New York als Wahrzeichen der internationalen Handelsmacht und das Pentagon als Zentrum der militärischen Macht. Im Terror geht es nicht bloß um Opfer, sondern vor allem auch um Symbole. Ebenso symbolträchtig ist gegenwärtig der Konflikt zwischen Israeli und Palästinensern. Jüdische Siedler und einflussreiche Kreise in Israel glauben, dass Gott ihnen dieses Land, das 'Heilige Land' gegeben hat. Umgekehrt sind Muslime überzeugt, dass eine Land wie Palästina, das einmal zur islamischen Welt, zum dar al islam gehört hat, nicht mehr aufgegeben werden darf. Noch symbolträchtiger ist das Zentrum des Hl. Landes, Jerusalem. Die Heiligen Schriften der Juden kreisen um diese Stadt des Friedens, die immer wieder eine Stadt des Streites war. Für die Christen ist ein zentrales Heilsereignis, der Tod Jesu, in Jerusalem geschehen. Für die Muslime ist Jerusalem das dritte Heiligtum neben Mekka und Medina. Auf dem Tempelberg finden sich zwei zentrale Moscheen und von dort aus soll Mohammad in den Himmel geritten sein. Der aktuelle Streit um Jerusalem ist beladen mit der ganzen Tiefe der Symbolik der drei abrahamitischen Religionen. Die erste Zerstörung dieser Stadt im Jahre 586 v.Chr. hat einen besonders zentralen Stellenwert in den Heiligen Schriften der Juden. Die zweite Zerstörung im Jahre 70 n. Chr. spielt eine große Rolle für das kommende Judentum und auch für das Neue Testament und die beginnende Christenheit. Der Kampf um Jerusalem durch die Kreuzfahrer hat das Verhältnis zwischen Christen und Muslime für lange Zeit wesentlich bestimmt. Und heute? Seit Jahren habe ich den Eindruck, der Streit um Jerusalem könnte zu einem zentralen Ereignis der modernen Welt werden. Israel ist ein moderner Staat und zugleich spielen in seiner Politik alte religiöse Überzeugungen eine große Rolle. Dies dürfte ein deutliches Zeichen sein, dass sich alte und moderne Gesellschaften kaum gegeneinander ausspielen lassen.

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2) Chefredakteur Reitan erwähnt, wie die moderne Welt, die von den USA dominiert wird, viele Menschen zu Opfern macht. Seit dem 11. Sept. 2001 fühlt sich diese stolze Macht selber zutiefst als Opfer, und sie rechtfertigt damit ihr massives internationales Vorgehen im Krieg gegen den Terror. Ähnliches gilt für die Israeli und Palästinenser. Der Jude Henryk Broder hält in seinem Buch "Die Irren von Zion" ein Gespräch mit dem Palästinenser Jamil Hamad fest, das er schon 1983 geführt hat. Broder sagte: "Es gehört wohl mit zu dem Konflikt, dass beide Seiten, die Israelis und die Palästinenser, sich für die Opfer dieses Konflikts halten. Und beide Seiten bestehen darauf, dass sie die eigentlichen und einzigen Opfer sind. Und ich habe den Eindruck, dass beide Seiten die Opferrrolle inzwischen geradezu genießen, dass sie entschlossen sind, Opfer bleiben zu wollen - um jeden Preis." Hamad antwortete darauf: "Ich sehe es genauso... Hier schlagen beide Seiten, die Israelis und die Palästinenser, aus ihrem Leiden politisches Kapital. Auf meiner Seite nenne ich das die 'palästinensische Symphonie': 'Sie haben uns unser Land genommen, sie haben uns vertrieben, wir müssen in Flüchtlingslagern leben...' (1)

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Beide Seiten verlängern auch das gegenwärtige Opfersein in die Geschichte zurück. Broder sagte dazu: "Die Israelis versuchen den Palästinensern nachzuweisen, dass sie doch was mit den Nazis zu tun hatten... Und dieselben Palästinenser, die sich darüber aufregen, dass die Israelis den Holocaust für politische Zwecke missbrauchen, erklären sich zu den eigentlichen Opfern der Nazis." (2)

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Die Rivalität um den Opferstatus spielt nicht nur zwischen diesen beiden Völkern. Die Neue Zürcher Zeitung sprach vor kurzem von der 'internationalen Opferkultur' (vgl. NZZ 23./24. Febr. 2002, 33), und ein Buch vom Franzosen Jean Michel Chaumont, das vor kurzem ins Deutsche übersetzt wurde, trägt - im Blick auf Genozid und Greueltaten - den Titel "Konkurrenz der Opfer". Woher kommt dieses Rivalisieren um den Opferstatus?

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Im römischen Reich wurden die Sieger gefeiert und die Opfer verachtet. Im Gegensatz dazu haben die Christen Jesus, der als Opfer religiöser und politischer Macht gestorben ist, verehrt. In einem langen und komplexen Prozess hat sich diese neue christliche Haltung, die Partei ergreift für die Opfer der Gewalt, ausgebreitet, und sie findet sich heute auch in nicht-christlichen und in nicht-religiösen Kreisen. Deshalb gibt es eine internationale Opferkultur und eine Konkurrenz um den Opferstatus. Unter dieser Rücksicht ist die christliche Theologie nicht erschöpft, sondern weltweit vorherrschend geworden, auch wenn dabei ein zentraler Aspekt in der christlichen Sensibilität für Opfer - nämlich die Bereitschaft zu verzeihen - verloren ging.

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3) In der Reaktion auf den 11. September haben die USA eine weltweite Allianz gegen den Terror geschmiedet. Sie haben die Aufgabe, für eine weltweite Ordnung zu sorgen, nicht der UNO überlassen, sondern selber eindeutig die Führung übernommen. Bestand vorher noch die Möglichkeit, dass eine internationale Autorität für die internationale Ordnung verantwortlich wird. So dürfte nun die Entscheidung eindeutig in Richtung 'pax americana' (in Analogie zur früheren 'pax romana') gefallen sein. Hinter dieser Entwicklung steht aber nicht bloß der Machtwille der USA, sondern das spezifische Sendungsbewusstsein dieser Nation. Schon die ersten Siedlergenerationen verstanden ihre Fahrt über den Ozean und das schrittweise Vordringen in den Westen als Auszug aus Ägypten, als Fahrt durchs rote Meer und als Vordringen in die Wüste mit Blick auf das gelobte land. (3) Der Gedanke des Bundes zwischen Gott, dem neuen Volk und dem neuen Land spielte eine zentrale Rolle auch bei jenen, die den puritanischen Glauben nicht teilten. (4) Der Glaube an das universale Priestertum aller Gläubigen, wurde in den politischen Bereich übertragen,(5) wie vor allem ein berühmtes Wort des Dichters Herman Melville zeigt: "Wir Amerikaner sind ein besonders erwähltes Volk, das Israel unserer Tage. Wir tragen die Bundeslade der Freiheiten der Welt... Gott hat uns dazu bestimmt, und die Menschheit erwartet große Dinge von uns. Große Dinge fühlen wir auch in unseren Seelen... Lasst uns immer daran denken, dass mit uns fast zum ersten Mal in der Geschichte der Erde nationales Eigeninteresse grenzenlose Menschenliebe bedeutet. Wir können nichts Gutes für Amerika tun, ohne dass wir dadurch Almosen für die Welt geben." (6) Auch wenn die Überzeugung, ein erwähltes Volk zu sein, im 19. und 20 Jahrhundert starke Brüche erfahren hat und vor allem seit dem zweiten Weltkrieg ein 'expressiver Individualismus' sich immer mehr ausbreitet (7), lässt sich die amerikanische Politik bis heute nicht ohne diesen Hintergrund verstehen (8). Sowohl die emotionale Reaktion auf den 11. Sept. wie der Krieg gegen den Terrorismus dürften stark vom Sendungsbewusstsein und der Überzeugung inspiriert sein, das nationale Eigeninteresse decke sich mit dem Wohl der Menschheit.

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Ein anderer wichtiger Punkt kommt hinzu. Schon im 18. und 19. Jahrhundert gab es in USA religiöse apokalyptische Gruppen, die glaubten, dass die Juden vor dem Ende der Welt und der Wiederkunft Christi nach Palästina zurückkehren werden. (9) Der Zionismus und die Ereignisse des 20. Jahrhunderts gaben diesen Kräften massiven Auftrieb. Von manchen wurde die Gründung des Staates Israel sogar als das wichtigste Ereignis seit der Auferstehung Christi und als Mittelpunkt aller prophetischen Vorhersagen betrachtet. (10) Zu erwähnen ist in diesem Kontext vor allem Hal Lindsey, dessen Bücher in Dutzenden von Millionen Exemplaren verkauft wurden. (11) Diese Kreise, die die neue christliche Rechte stark bestimmen, betreiben eine konsequente Pro-Israel-Politik, wobei Saddam Hussein zugleich als neuer Nebukadnezar angesehen wird. (12) Das zentrale Element der heutigen Weltpolitik, die Achse USA-Israel, wird folglich nicht nur durch die Interessen um das Öl und durch die jüdische Lobby in den USA, sondern auch durch eine fundamentalistisch-evangelikale Überzeugung getragen.

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Auch wenn eine kritische christliche Theologie diese apokalyptischen Erwartungen ablehnt und den Glauben an die besondere Erwählung Amerikas sehr kritisch befragt, bleibt die Tatsache bestehen, dass diese Überzeugung auch heute einen weltpolitischen Einfluss haben. Ihr Einfluss dürfte auch nicht durch skeptische liberale Ideen gebrochen, sondern am ehesten durch eine bessere Theologie, die um die Erwählung der Armen weiß, wie sie in der Befreiungstheologie (ohne deren marxistischen Zungenschlag) entwickelt wurde.

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4) Nach Herrn Reitan sind die letzten Bastionen, in denen sich die kirchliche Weltsicht - vor allem in der Sexualmoral - halten will, unhaltbar geworden. Dass es hier große Probleme gibt, ist offenkundig. Dennoch: Gerade die neueste Entwicklung in den Biowissenschaften zeigt, dass die Tendenz immer mehr dahin geht, Sexualität und Fortpflanzung zu trennen. Damit wird eine der tiefsten und symbolträchtigsten Vorstellungen der Menschheitsgeschichte, der Zusammenhang zwischen Sexualität und neuem Leben, in Frage gestellt. Dies muss tiefe Erschütterungen auslösen, deren Tragweite wir wohl noch nicht genau abschätzen können.

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Je mehr aber dieser Zusammenhang verloren geht, um so mehr zeigt sich im öffentlichen Bewusstsein bereits jetzt ein anderer Zusammenhang, nämlich der zwischen Sexualität und Gewalt. Praktisch alle kassenfüllenden Filme beweisen dies. Auch dies wird tiefe kulturelle und wohl auch religiöse Folgen haben. Bereits jetzt preist der italienische Erfolgsautor Roberto Calasso eine Rückkehr zur griechischen und hinduistischen Mythologie an. Seine These lautet: Wo immer Göttliches ins menschliche Bewusstsein eindringt, dort herrscht Ekstase, Sexualität und Gewalt. (13) Ich vermute, dass gestützt auf diese 'Mischung' von Ekstase, Sexualität und Gewalt auch neue religiöse Bewegungen entstehen werden. Gegen sie tritt nicht nur das Christentum, sondern ebenso das Judentum und der Islam an, und ich rechne damit, dass letztlich diesen Religionen und nicht dem Mix aus Sexualität und Gewalt die Zukunft gehören wird.

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So bin ich überzeugt, dass eine christliche Theologie, die versucht, auf der Höhe der Zeit zu sein, keineswegs erschöpft ist. Sie vermag vielmehr die großen Symbole, die oft unter der Oberfläche liegen, anzusprechen. Deshalb traue ich ihr auch heute eine schöpferische Kraft zu.

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Anmerkungen:  

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 1. H. Broder, Die Irren von Zion. Hamburg: Hoffmann u. Campe 21998, 242.

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2. Ebd. 270.

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3. Vgl. St.J. Stein (Hg.), The Encyclopedia of Apocalypticism. Volume 3: Apocalypticism in the Modern Period and the Contemporary Age. New York: Continuum 1998, 36 - 71.

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4. Vgl. William J. Everett. God's Rederal Republic. Reconstructing Our Governing Symbol. New York: Paulist Press 1988.

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5. vgl. A. Delbanco, The Real Amercian Dream. Cambridge(Mass.): Harvard University Press 1999, 47-80, vor allem 59f.

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6. H. Melville, White-Jacket; or, The World in a Man-of-War (1850), ch. 36; vgl.Vgl. Stein (Hg.), Encyclopedia of Apocalypticism III (s. Anm. 3) 68; Delbanco, The Real Amercian Dream (s. Anm. 5) 69-70.

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7. Vgl. Ronald W. Dworkin, The Rise of the Imperial Self. America's Wars in Augustinian Perspective. Boston: Rowman & Littlefield 1996.

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8. Vgl. Everett. God's Rederal Republic (s. Anm. 4); Stein (Hg.), Encyclopedia of Apocalypticism III (s. Anm. 3) 140 - 178.

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9. Vgl. Stein (Hg.), Encyclopedia of Apocalypticism III (s. Anm. 3) 48 - 55; Meinrad Scherer-Emunds, Die letzte Schlacht um Gottes Reich. Politische Heilsstrategien amerikanischer Fundamentalisten. Münster: edition liberación 1989, 34-36.

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10. Scherer-Emunds, Die letzte Schlacht um Gottes Reich (s. Anm. 9) 48 - 56.

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11. Vgl. Vgl. Stein (Hg.), Encyclopedia of Apocalypticism III (s. Anm. 3) 166 - 177.

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12. Vgl. Ch. H. Dyer, A. Hunt, Der Golfkrieg und das neue Babylon. Ulm: Ebner 1991.

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13. R. Calasso, Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia . Übersetzt von M. Kahn (insela taschenbuch 1476). Frankfurt a. M. 1993, 57.

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