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Juda und Josef - Wege der Versöhnung

Autor:Fischer Georg
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Juden und Palästinensern, radikalen Gruppierungen in Nordirland, verfeindeten Parteien in Krisengebieten wie Mazedonien, Sudan, Afghanistan, Kaschmir ... machen zunehmend deutlich, daß das Überleben der Menschheit an der Bereitschaft zu friedlicher Koexistenz hängt. Die biblische Josefsgeschichte (Genesis 37-50) kann hier einen Weg zeigen, wie Menschen nach extremen Konflikten wieder zueinander finden können.
Publiziert in:G.Fischer, K.Backhaus, Sühne und Versöhnung (NEB Themen 7) Würzburg: Echter 2000, S.31-37; dort auch weitere Beiträge zum Thema Vergebung und Versöhnung
Datum:2001-10-03

Inhalt

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"Ihr hattet gedacht gegen mich Böses,

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Gott hat es gedacht zum Guten." Gen 50,20

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Familiengeschichte Jakobs (Gen 37,2) ist der biblische Name der Josefsgeschichte in Gen 37-50. Sie hängt mit Gen 25-36 vielfach zusammen und ist mit ihren Schritten sowie der Schilderung der Vorgänge noch stärker modellhaft. Kein anderer Text der Bibel beschreibt so eindringlich und ausgefaltet Wege zur Versöhnung (1).

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Diese Erzählung zeigt ausführlich, wie Konflikte von einer Generation zur anderen weiterziehen. So spiegelt sich einerseits in Jakobs Vaterrolle seine frühere Beziehung zu Isaak, anderseits in seinen Söhnen eine vergleichbare Rivalität wie zwischen ihm und seinem Zwillingsbruder. Als Vater erlebt Jakob nun mit seinen Kindern, was er Isaak angetan hat, auch durch den Streit mit Esau.

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Das bedeutet, daß jede Generation neu für sich an Versöhnung zu arbeiten hat. Jakobs Kinder können nicht einfach die Erfahrung ihres Vaters übernehmen, und dieser selbst scheint in Gen 37 die Fehler seiner Eltern noch verstärkt zu wiederholen.

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Anders als zuvor Gen 25-33 benennt die Josefsgeschichte Schuld mehrfach explizit und bringt dazu teils längere Dialoge. Sie gestattet so, den Prozeß der Aufarbeitung vergangener Vergehen besser zu fassen. Wir wollen dessen einzelne Stufen vorstellen.

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1. Der Verkauf des Träumers: Gen 37

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Das schwere Verbrechen, den Bruder als Sklaven in die Fremde zu verkaufen (37,28), kommt nicht aus heiterem Himmel. Ihm gehen Fehler und Versagen bei allen in der Familie voraus.

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Sie setzen ein beim jugendlichen Josef, der mit 17 Jahren böse Verleumdung über seine Halbbrüder dem Vater hinterbringt (v2). Von ihrem Haß und der gestörten Kommunikation (v4) merkt er offenbar wenig, sondern steigert ihn durch sein unsensibles Erzählen von Träumen, die seine eigene Überlegenheit ihnen gegenüber herausstreichen und ihre Ablehnung noch verstärken (v5-11). Auf den väterlichen Befehl in v13 antwortet er mit "Siehe mich!", sodaß Jakob ihn in v14 wiederholen muß. Dieser Josef erscheint wie ein verzogener, eingebildeter Jugendlicher.

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Die Hauptschuld daran trägt wohl sein Vater. Jakob privilegiert ihn, mit einer vorziehenden Liebe und mit einem außergewöhnlichen, konkret sichtbaren Zeichen dessen, dem Ärmelrock (v3) (2). Obwohl Bevorzugung in seiner eigenen Vergangenheit mehrfach zu großem Leid geführt hat, verhält Jakob sich erneut so und trägt damit Spaltung in seine Familie.

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Die ersten Reaktionen von Josefs Brüdern sind zwar verständlich, verschärfen aber den Konflikt weiter. "Nicht mehr in Frieden reden" (v4) ist Beginn einer Entfremdung, die zu Mordplänen gegenüber dem Bruder führt (v18-20) und ihn als 'Träumer' verspottend abwertet. Rubens Einspruch in v21f 'mildert' ihr Vorgehen ab zu Entkleidung und Freiheitsberaubung; Juda begründet in v26f mit "Gewinn" und "unser Bruder" den Verkauf Josefs.

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Die Benachrichtigung des Vaters in v31-35 hat Parallelen zu Gen 27. Der Betrug erfolgt erneut mit einem Gewand, wobei als Tier Ziegen eine Rolle spielen. Dort war Isaak blind; hier sieht Jakob wegen seiner Abwesenheit nicht, was vorgegangen ist, und erleidet so das Schicksal seines Vaters.

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2. Josefs Reife: Gen 39-41

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Jedes dieser drei Kapitel greift jeweils ein Element der Schuld Josefs aus Gen 37 auf und kehrt es um. Die Erfahrungen der Abhängigkeit, der Fremde und sogar des Gefängnisses lassen Josef wachsen und durch Gottes Beistand(3) zu einer integren Person werden.

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Hatte Josef seine Brüder verleumdet, widerfährt dies nun ihm durch die Frau des Potifar in 39,14f.17f.

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Die fehlende Sensibilität für die Lage der Brüder beim Erzählen seiner Träume ist im Gefängnis einem feinfühligen Wahrnehmen der Lage anderer gewichen (40,6f).

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Das verzögerte Nachkommen gegenüber dem väterlichen Befehl erlebt Josef an seiner eigenen Person: Der begnadigte Mundschenk des Pharao vergißt ihn und seine Bitte zwei Jahre Lang (40,14f mit 43,23-41,1). Das zögernde Erfüllen der Anordnung des Vaters wird weiters bezüglich der inneren Haltung völlig auf den Kopf gestellt in Gen 41 durch die eigenen Pläne und Initiative Josefs, der vorausblickend und engagiert Abhilfe für die kommenden Jahre der Not vorschlägt (ab v33) sowie in seiner Ausführung der Anweisungen des Pharao.

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Gen 39-41 zeigen einen gänzlich veränderten Josef. Er hat die schweren Erfahrungen des Unrechts über 13 Jahre(4) hinweg mit Gottes Hilfe ausgehalten und ist dabei zu einer Schlüsselfigur für das Überleben eines großen Volkes geworden. Für seine Schuld der Vergangenheit hat er über die Maßen Folgen getragen, sie ist mehr als 'gesühnt'; nun kann sein Leiden fruchtbar werden für andere.

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3. Judas Verwandlung: Gen 38 und 42-44

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Das manchmal aus der Josefsgeschichte ausgegrenzte Kapitel 38 gehört von Stichworten und Entwicklung der Charaktere notwendig zur Erzählung. Nur so wird die Wandlung verständlich, die mit Juda zwischen seinem Vorschlag zum Verkauf des Bruders in Gen 37 und seinem Einsatz für die Familie ab Kap. 43 geschieht.

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In Gen 38 zerbricht die Familie Judas. Zwei seiner drei Söhne sterben; seine eigene Doppelmoral kommt durch den klugen und wagemutigen Einsatz seiner Schwiegertochter Tamar ans Licht. Sie bringt ihn dazu, sein Todesurteil über sie zurückzunehmen und anzuerkennen: "Sie ist im Recht, ich nicht." (5) Eine Frau verhilft Juda zur Einsicht in sein Verhalten und steht so auslösend am Beginn jener Veränderung, die entscheidend zum erneuten Zusammenfinden der Familie führt.

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Die erste Reise der Brüder bringt durch die harte Behandlung von seiten des unerkannt bleibenden Josef ein Hochkommen ihres früheren Verbrechens. In 42,21 erinnern sich die Brüder an Josefs Not und gestehen ihre Schuld.

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Die zweite Reise verzögert sich, weil Jakob Josefs Bedingung, Benjamin mitzusenden (6), nicht erfüllen will. Nur der persönliche Einsatz Judas in 43,8-10 vermag den hier "Israel" genannten Vater umzustimmen.

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Als bei dieser Reise Josefs Becher in Benjamins Sack gefunden wird, zeigen alle Trauer und kehren gemeinsam um (44,13). Sie lehnen das verlockende Angebot (v10) ab, sich wie in Gen 37 des Jüngsten, scheinbar Schuldigen zu entledigen. An dieser Spiegelsituation zum Verkauf Josefs vor über 20 Jahren(7) läßt sich die Veränderung der Brüder erkennen.

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Zunächst bekennt Juda in 44,16: "Der Gott hat gefunden das Vergehen deiner Diener." (8) Schuld kann vor Gott nicht vertuscht oder versteckt werden.

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Auf das erneute Angebot (v17), selber frei zu gehen, antwortet Juda mit einem emotionalen Plädoyer, der längsten Rede der Genesis (v18-34). Er ist ganz bewegt vom Denken an den Vater, dem er weiteres Leid ersparen will, und bietet sich an Stelle des jüngsten Bruders als Diener an.

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In einer zu Gen 37 völlig parallelen Konstellation verhält Juda sich ganz anders. Statt des Verkaufs in die Knechtschaft bittet er nun selbst, für den Bruder als Sklave in der Fremde zu bleiben.

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Besonders bewegend an Juda ist sein Einfühlen in das Denken des Vaters. Es geht so weit, daß er dessen Vorlieben, unter denen er zu leiden hat (9), nennen und akzeptieren kann. Juda ist darin der Exponent der Brüder. In ihm spiegelt sich in Reden und Tun am deutlichsten der Wandel, den sie durchgemacht haben.

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Nicht nur Josef, auch Juda und die Brüder haben sich verändert. Die Eliminierung des 'schuldigen' Josef in Gen 37 hat die Lage in der Familie nicht verbessert, sondern nur die Traurigkeit des Vaters verstärkt. Eigenes Leid und Erfahrungen der Not bewirken eine Auseinandersetzung mit vergangener Schuld bei den Brüdern und führen zum Wiederfinden des verloren-verkauften Bruders.

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4. Die vereinte Familie: Gen 45-47

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Angesichts der Hingabe des Bruders kann Josef sein Doppelspiel nicht mehr aufrecht erhalten. Bisher hatte er unerkannt seine Brüder einerseits in Lagen gebracht, die sie an ihr früheres Verhalten erinnerten, anderseits in kleinen Zeichen wie Einladung zum Essen, Rückgabe des Geldes usw. Zuwendung erwiesen. Seine eigene Zerrissenheit zeigt sich am verborgenen Weinen (42,24; 43,30).

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Judas Einsatz für den Vater und für Benjamin bringt diese Fassade zum Einsturz. Nicht mehr in der Lage, seine Emotionen zu kontrollieren, gibt Josef sich zu erkennen und verbindet dies mit der Frage nach dem Vater (45,3) sowie der beschwichtigenden Beruhigung der erschreckten Brüder (v5), Ausdruck dessen, daß Josef ihnen ihr Vergehen nicht nachträgt. Das neue Verhalten Judas hat den verkauften Bruder zurückgebracht.

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Die im Leiden erlangte Reife Josefs äußert sich mehrfach. Er deutet sein Geschick als Sendung durch Gott; die dreimalige Wiederholung (v5.7f) legt das Schwergewicht auf diese Sicht seines Weges. Zugleich weist er auf den verborgenen Sinn seines eigenen Leidens im Plan Gottes hin, der auf diese Weise Leben erhalten und retten will (v7). In solcher Weise sein Schicksal sehen und annehmen zu können hilft sehr zum Versöhntsein.

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Weiters übernimmt Josef nun die Sorge für die Großfamilie in dieser Zeit der Not. Das Eilen zum Herbeibringen des Vaters (v9.13) rahmt diesen Teil und zeigt seine Sehnsucht sowie sein Drängen auf eine schnelle Verbesserung der Lage Jakobs.

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Schließlich drücken die Gesten und das Reden (v14f) die neue Nähe unter den Brüdern aus. Damit ist die Kommunikationslosigkeit von 37,4 geheilt.

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Das Geschehen in 45,1-15 verdichtet so viele Elemente von Versöhnung: das Wieder-Erstehen des Bruders, sein Nicht-Nachtragen, die konkrete Sorge für den Lebensunterhalt aller, die Gesten geschwisterlicher Nähe. Im Zentrum, und wohl als Wurzel für dies alles steht Josefs Deutung als Sendung durch Gott. Sie trägt das ganze Geschehen und öffnet den Weg für eine gemeinsame Zukunft.

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Gen 46 zeigt das Zusammenkommen der ganzen Familie. Im Wiedersehen mit Josef erfüllt sich für Jakob ein Lebenswunsch (46,30). Mit dem Namen Israel erfährt er hier nicht nur die Einlösung seiner Sehnsucht, sondern im 'Sehen des Gesichts' eine ähnliche annehmende Begegnung wie damals mit Esau (33,10).

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Das wortlose Fallen um den Hals und Weinen im Vers zuvor (46,29) ist ebenso befrachtet angesichts der Vorgeschichte: Die Schuld des Vaters durch seine bevorzugende Liebe hat nun ein gutes Ende gefunden. Die mehr als 20 Jahre der Trennung von Josef haben auch Jakob einen Weg des Leidens gehen lassen, für ihn schon zum zweiten Mal.

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5. Vollendung der Versöhnung: Gen 48-50

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Scheinbar haben Gen 48f wenig mit unserem Thema zu tun. Doch besteht ein Zusammenhang mit den schweren Konflikten der Vergangenheit in Gen 21 und 27. Im ersten Fall wird Hagar, eine Ägypterin, mit ihrem Kind Ismael aus der Familie Abrahams weggeschickt; im zweiten Fall hatte Isaak mit seiner Absicht, heimlich und gegen Gottes Orakel (25,23) nur Esau zu segnen, mit den Zusammenbruch der familiären Beziehungen ausgelöst.

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Demgegenüber bedeutet Jakobs Handeln in Gen 48f Umkehr und Ausgleich. Er nimmt Manasse und Efraim, Kinder der Ägypterin Asenat, als seine Söhne an (48,5) und erteilt ihnen gemeinsam den Segen, trotz Bevorzugung (v14-20). Dies wirkt, drei Generationen nach Gen 21, wie ein Aufheben des damaligen Unrechts.

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Das Segnen aller Kinder wiederholt sich dann in Gen 49 bei seinen eigenen(10). Auch dort werden Unterschiede sichtbar, im Inhalt der Zusagen und in deren Länge, doch erhalten alle einen Spruch ihres Vaters. Wiederum kehrt Jakob ein Verhalten eines Vorfahren, diesmal seines Vaters Isaak um. Es ist, als ob er auch das Unrecht vorausliegender Generationen zu sühnen und Versöhnung dafür zu finden suchte.

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Gen 50 bringt zunächst (v1-14) das gemeinsame Begraben Jakobs durch alle Söhne, Zeichen der wiedergefundenen Einheit der Familie (siehe 35,29). Der Tod des Vaters löst aber in Josefs Brüdern Angst vor Vergeltung aus (v15, vgl. 27,41); das zeigt, daß in 45,1-15 noch nicht alles gelöst ist.

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Das heikle Thema ihrer Schuld wird mit höchster Sensibilität behandelt. Die Brüder schicken in v16 zu Josef, unter Verweis auf ein Wort des Vaters vor seinem Sterben. So, doppelt indirekt, lassen sie ihm ausrichten (v17):

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"Ach, trag doch das Vergehen deiner Brüder und ihre Sünde, denn Böses haben sie dir getan! Nun aber, trag doch das Vergehen der Knechte des Gottes deines Vaters!"

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Neu sind hier gegenüber Gen 44f das Benennen ihrer Schuld und die Bitte, sie zu tragen. Sie ist wiederholt und verwendet dasselbe Wort-Bild wie Kain in 4,13. Weiters fällt die einmalige Wendung "Knechte des Gottes deines Vaters" auf. Sie weist in zwei Richtungen. Zum einen erwähnt sie mit Gott und Vater zwei Autoritäten; die Brüder hoffen, daß Josef sich an sie hält. Zum anderen trifft diese Bezeichnung auch auf Josef selber zu, sodaß darin eine Gemeinsamkeit mit seinen Brüdern entsteht.

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Auf Josefs - siebtes und letztes - Weinen hin wagen die Brüder (v18), persönlich vor ihm niederzufallen, in erneuter und letzter Entsprechung der Traumansagen 37,7.9. Sie verbinden damit das Angebot: "Siehe, wir sind dir zu Knechten!" Damit erklären sie ihre Bereitschaft, das auf sich zu nehmen, was sie ihm angetan haben - eine Form der Sühne.

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Doch Josef nimmt ihnen in v19 die Angst. Wie sein Vater in 30,2 weist er mit "Bin ich an Stelle Gottes?" den Vorschlag ab. Brüder sollen nicht einander Knechte sein.

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Vers 20 wurde als Motto diesem Teil vorangestellt. In ihm konzentriert sich die Kernbotschaft der Jakobsgeschichte. Darin führt Josef die theologische Deutung von 45,5-8 weiter, indem er Gott sogar die Kraft zuspricht, geplantes Böses zum Guten zu wenden. Wer so glaubt, ist versöhnt.

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Abschließend wiederholt Josef in v21 die Aufforderung zur Furchtlosigkeit von v19; diese beiden Imperative sind wie ein Rahmen um die zwei inneren Aussagen über Gott. Bei einem derart denkenden Menschen ist die Angst vor Rachsucht unbegründet. Josefs Zusage (vgl. 45,11) und tröstendes Reden "zu ihrem Herzen" löst endgültig die vergangenen Spannungen. *

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Wir stehen am Schluß der Genesis am Ende zweier langer Wege. Ihnen entspricht in der menschlichen Erfahrung, daß Versöhnung keine Sache von Minuten ist, sondern sich wie bei Jakob und bei Josef über Jahre, sogar Jahrzehnte hinziehen kann.

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Wenn das Buch Genesis gleich bei zwei Lebensgeschichten hintereinander dieses Thema so ins Zentrum rückt und die Hälfte des ganzen Umfangs dieses ersten Buches der Bibel ihm widmet, unterstreicht das die Bedeutung. Nach schweren Konflikten über eine Zeit der Buße bzw. der Reifung schließlich zu Versöhnung mit den Geschwistern zu gelangen liegt allem Folgenden voraus. Volkswerdung, Gemeinschaft, Befreiung, Gottesbegegnung am Sinai, Bundesschluß mit ihm u.a. bauen alle darauf auf.

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Gen 25-50 präsentieren diesen Weg in zwei großen Abschnitten des Lebens Jakobs, als Bruder und als Vater. Doch der Blick gilt nicht nur ihm, sondern allen beteiligten Parteien. Fern von einseitiger Schuldzuweisung zeigen die Texte feinfühlig die Zusammenhänge und Verstrickungen auf, mit denen Menschen in Schuld geraten und deren Folgen zu tragen haben.

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Die Ausführlichkeit der Schilderung erlaubt, die Prozesse der Aufarbeitung genau mitzuverfolgen. Man mag diese 'Sühne' nennen, unter der Rücksicht des Leidens an den Auswirkungen eigener Vergehen; doch fällt dieses Wort nie, ebensowenig wie 'Vergeben' (11). Stärker erscheint dafür das Aufzeigen der inneren Verwandlung, die durch Erfahrungen der Not hindurch in den Schuldigen geschieht. Innere Reifung, bei allen Beteiligten, ist Voraussetzung für Versöhnung.

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Der Weg dazu hin verläuft zunächst unter Menschen. Jakob muß mit Esau ins Reine kommen, und Juda samt den Brüdern mit Josef. Das Geschehene läßt sich nicht 'religiös' abschieben, verdrängen oder lösen. Dennoch zeigen beide Erzählungen an den entscheidenden Stellen, wie Gott begleitet und den ganzen Prozeß trägt. So weist Versöhnung zwei Dimensionen auf: Zuerst ist es ein Weg, den Menschen untereinander zu gehen und zu klären haben. Dabei aber helfen Gott und auch, an ihn zu glauben, ganz wesentlich mit. Das Vertrauen auf den Gott, der die ganze Geschichte umfängt, ermöglicht Versöhnung.

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Anmerkungen:

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 1. Die hier vorgetragene Auslegung beruht auf meinem Artikel "Die Josefsgeschichte als Modell für Versöhnung", in: A. Wénin, Studies in the Book of Genesis, Leuven 2000. Für die Deutung von Gen 37-45 bestehen viele Gemeinsamkeiten mit A. Schenker, Versöhnung und Sühne, Freiburg 1981, 15-40. Siehe auch R. Alter, The Art of Biblical Narrative, New York 1981, bes. Kap. 5, 7 und 8.

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2. Ein so benanntes Gewand trägt sonst nur Tamar, Davids Tochter (2 Sam 13,18f). Es ist auch kaum zum Arbeiten geeignet.

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3. Gottes Unterstützung erscheint stark betont schon ganz zu Beginn, und auch später wieder: Jahwe wird in 39,2f.5 fünfmal genannt, zweimal mit der Beistandszusage; weitere drei Nennungen stehen in 39,21.23.

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4. Gen 41,46 gibt sein Alter mit 30 Jahren an.

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5. Wörtlich: "Sie ist gerechter als ich." Gleiches sagt Saul in 1 Sam 24,18 in Bezug auf David.

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6. Mit dieser Forderung zwingt Josef seinen Vater, einen Sohn der ihm lieben Rahel freizugeben und seine enge Bindung zum Jüngsten zumindest zeitweilig zu lösen. Er verlangt damit von Jakob eine Veränderung im Verhalten zu seinem Lieblingssohn und damit in jenem Punkt, der in Gen 37 über die ganze Familie Unheil gebracht hatte.

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7. 41,46: 13 Jahre; dazu sieben 'fette' Jahre, und nun das zweite Jahr der Hungersnot (45,6) ergeben zusammen annähernd die gleiche Zeit wie bei Jakob (31,41; siehe dazu C.2). - Eine so lange Dauer für so tiefe und schwere Prozesse ist realistisch.

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8. Diese Aussage ist zweideutig: Im unmittelbaren Kontext, und wohl auch nach dem Verständnis Judas, bezieht sie sich auf Benjamins 'Diebstahl'. Doch im weiteren Zusammenhang besteht eine Verbindung mit dem Verkauf Josefs in Gen 37.

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9. So z.B. 44,20.30 Jakobs Bindung an Benjamin; 44,27 als indirekte Zurücksetzung seiner Mutter Lea.

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10. 49,28 verwendet 'segnen' für das vorangehende Sprechen Jakobs. Vom Charakter des Textes handelt es sich aber eher um 'Testament-Sprüche', so R. de Hoop, Genesis 49 in its Literary and Historical Context, Leiden 1999, 315 und öfter.

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11. Manche deutschen Übersetzungen geben 'Schuld tragen' jedoch als 'vergeben' wieder. Demgegenüber betont C. Houtman, Wer kann Sünden vergeben außer Gott allein? Über menschliche Vergebung im AT, in BN 95 (1998) 33-44, daß auch in Gen 50 trotz des direkten Ansprechens der Schuld Josef das Vergeben Gott vorbehalten sein läßt.

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