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Die Aufnahme (politisch und geistlich)
(Predigt in der Jesuitenkirche am 19. September 2021)

Autor:Niederbacher Bruno
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2021-10-04

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Und er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.“ Dieser Satz Jesu hat für mich heute eine politische und eine geistliche Dimension.

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1. Die politische Dimension: Sina Habte stammt aus Eritrea.[1] Sie hatte einen Abschluss in technischer Chemie und heiratete ihren Professor Dani. Dieser wurde dann gezwungen als Soldat zu arbeiten, weit weg von seiner Frau. Eines Tages floh er und kehrte zu Sina zurück, obwohl er wusste: Wenn sie mich schnappen, lande ich im Gefängnis, vielleicht für immer. Sina wurde schwanger. Sie beschlossen aus dem Land zu fliehen. In einem Flüchtlingslager in Sudan oder Kenia zu bleiben, war keine Option. Der mächtige Eritreische Sicherheitsapparat würde sie wahrscheinlich finden, zurückbringen, einsperren, foltern, vielleicht sogar töten. So begann ihre Odyssee. Mit Schleppern, die viel Geld verlangten, gelangten sie nach Uganda. Von dort wollten sie über die Türkei nach Griechenland. In Uganda wurde Sina von ihrem Mann getrennt. Die Schlepper sagten, er müsse separat nach Istanbul reisen. Sina schaffte es in die Türkei. Von dort sollte es nach Griechenland gehen. Ein Schlepperboot war bereit, aber Sina war bereits im neunten Monat schwanger, sogar einige Tage über dem Termin. Daher zögerte sie. Die Schlepper sagten, die Fahrt dauere nur eine Stunde. So wagte sie es. Das hölzerne Boot geriet vor der griechischen Küste in Seenot. Ein griechischer Offizier außer Dienst beobachtete das kenternde Boot vom Ufer aus. Er zog Sina aus dem Wasser. Kurz darauf gebar sie ein Kind, einen Sohn, und gab ihm den Namen ihres griechischen Retters. In Griechenland musste sie erfahren, dass ihr Mann in Uganda gestorben ist. Ihr wurde zwar ein Stipendium gewährt, um in Deutschland zu studieren. Aber sie durfte ihr Kind nicht mitnehmen, ohne einen Todesnachweis ihres Mannes zu erbringen. Es war unmöglich, dies aus Uganda zu bekommen. So vertraute sie sich wieder Schleppern an. Diese brachten sie über die Balkanroute nach Ungarn, von dort nach Österreich. Mit dem Bus und auch stundenlang zu Fuß. Von Österreich aus fuhr sie mit Zügen nach Schweden. Dort erhielten sie Asyl: Sina und ihr Kind.

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„Und Jesus stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.“ 

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2. Die geistliche Dimension: Jesus spricht über seinen bevorstehenden Tod und seine Auferstehung. Die Jünger verstehen den Sinn seiner Worte nicht, scheuen sich aber, ihn zu fragen. Stattdessen reden sie darüber, wer von ihnen der Größte ist. Klar: Wer fragt, gibt sich eine Blöße. Wer fragt, kann sein Gesicht verlieren. Wer fragt, kann nicht der Größte sein. Jesus stellt ein Kind in ihre Mitte und nimmt es in seine Arme. Kinder scheuen sich nicht zu fragen. Sie sind Weltmeister im Fragenstellen. Jesus sagt mir damit: „Du brauchst deine Fragen nicht verbergen. Du sollst deine Zweifel nicht in das Verließ deiner Seele sperren.“ In Exerzitien ist es mir passiert. Da habe ich mich dabei ertappt, mit Gott darüber zu reden, ob es ihn überhaupt gibt. Zuerst dachte ich: „Jetzt wirst du endgültig verrückt. Du redest mit jemandem darüber, ob es ihn gibt.“ Aber dann fühlte ich die befreiende Kraft dieser Gespräche.

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Am 1. Oktober feiern wir Therese von Lisieux. Mit 24 Jahren ist sie todkrank. Sie schreibt über die Finsternis, die ihre Seele überschattet;[2] und von einem kleinen, ganz neuen Weg. Sie findet Trost in dem Vers: „Wenn jemand klein ist, komme er zu mir“ (Spr 9,4) und ist überzeugt: „Ich muss klein bleiben, ja es immer mehr werden.“ Und sie schreibt: „Der Aufzug, der mich bis zum Himmel emporheben soll, das sind deine Arme, o Jesus!“[3]

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Und so ist mir, als ob Jesus sagte: „Verstecke deine Fragen nicht! Schäme dich nicht für das Kleine, das Unfertige, das Schwache, das Ohnmächtige in dir. Lass es da sein! Stelle es in die Mitte! Nimm es auf! Auch darin komme ich dir entgegen. Ich will das Kleine in meine Arme nehmen.“

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„Und Jesus stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.“

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Anmerkungen

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[1] Aus: McDonald-Gibson, Charlotte, Cast Away: True Stories of Survival from Europe’s Refugee Crisis. New York: New York Press, 2016.

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[2] Therese von Lisieux, Geschichte einer Seele. Herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Andreas Wollbold. Freiburg 2016, 346-347.

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[3] Ebenda, S. 341.

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