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Systematische Theologie als Wissenschaft der Unterbrechung von Systemen
(Ein Themenfeld für den Dialog von Theologie und Sozialwissenschaften)

Autor:Sandler Willibald
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Wo gesellschaftliche Systeme „abgeschlossen" sind, d.h. eine Eigendynamik entwickelt haben, die humanitäre Interventionen scheitern lassen, stellt sich die Frage nach Systemunterbrechungen. Nicht die Zerstörung eines Systems ist damit gemeint, sondern dessen Störung im Sinne einer kreativen Unterbrechung, – auf das Ziel hin, dass es etwas freier läuft und wieder mehr Spielraum für menschenfreundliche Interventionen lässt. Es soll hier untersucht werden, wie gerade die Theologie von ihren spezifischen Erkenntnisquellen her für solche kreative Unterbrechungen einen Horizont erschließt, der für Sozialwissenschaften wesentlich verdeckt ist.
Publiziert in:Tage kommen. Hg. C.Mathis - P. Oberhofer - P. Schuchter, Innsbruck: Studia Universitätsverlag 2000, 109-121 (dort gekürzt)
Datum:2001-10-07

Inhalt

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1. Fragehorizont: Das Verhältnis zwischen Theologie und „säkularen" Sozial- und Humanwissenschaften

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Wie ist das Verhältnis der Theologie zu den anderen Wissenschaften? Für eine in die Gesamtuniversität eingegliederte theologische Fakultät wie in Österreich, mit ihrem Doppelbezug zu Kirche und Staat (letzterem als Anwalt für „säkulare", „weltanschaulich unvoreingenommene" Wissenschaft) ist dies eine Frage von wissenschaftspolitischer Tragweite. Seit sich in Innsbruck die SOWI-Fakultät in unmittelbarer Nachbarschaft von der theologischen Fakultät befindet und diese neu entstandene räumliche und personelle Nähe durch inhaltliche Kontakte bereichert werden sollte, hat diese Frage für die „Innsbrucker Theologie" nochmals an Aktualität gewonnen.

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Im gemeinsamen Ringen um ein Wissen vom Menschen, seinen Lebensbedingungen und Handlungsoptionen bringen Theologie und Sozialwissenschaften unterschiedliche Perspektiven ins Spiel. Während die Sozialwissenschaften den Menschen in seiner Systemverstricktheit in den Blick nehmen, wahrt Theologie demgegenüber den Blick auf eine irreduzible Ganzheit des Menschlichen, die allen Systemvereinnahmungen gegenüber immer auch transzendent ist. Theologie kann in dem Maß als Dialogpartnerin ernst genommen werden, als sie dieser Aufgabe treu bleibt. Dies bedeutet eine im einzelnen mühevolle und schwierige Gratwanderung: Theologie muss die Transzendenz des Menschen angesichts der aufgezeigten Systemverstrickungen aufweisen und ist deshalb gehalten, sich auf diese Herausforderungen wirklich einzulassen. Anderseits darf sie sich von diesen Sichtweisen nicht schlucken lassen, nicht selber das Feld wechseln und sich auf eine Variante von Sozialwissenschaft beschränken. So verriete sie ihr Eigentlichstes, die Quelle ihrer innovativen und korrektiven Impulse, das Salz würde den Geschmack verlieren; „es taugt zu nichts mehr; es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten" (Mt 5,13).

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Fassen wir diesen Ausgangspunkt zusammen: Der heutige Mensch ist in Systeme verstrickt - ein Rädchen in einem unüberschaubar komplexen Getriebe - und dennoch systemtranszendent. Theologie hat diese Systemtranszendenz nicht nur als Horizont aufzuweisen, sondern darüberhinaus so in die Diskussion einzubringen, dass sie auch handlungsrelevant wird. Um diese Ausgangsthese deutlicher zu fassen, ist zunächst der Begriff System näher zu klären.

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2. System, Systemzwang und Systemunterbrechung

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Geistesgeschichtlich geht Systemrede und Systemdenken vor allem auf den deutschen Idealismus zurück. Dort bezieht sich der Systembegriff auf eine Gesamtphilosophie von Mensch und Welt aus der Perspektive einer umfassend begriffenen Vernunft, wobei eine methodisch entwickelte systematische Berücksichtigung der Grenzen menschlicher Reflexion und ihrer jeweiligen Überschreitung eine zentrale Rolle spielt. Maßgeblich für eine solche Dialektik mit der Tendenz zur Integration von möglichst allem Wissbaren ist Hegel. Man täte dem deutschen Idealismus unrecht, wenn man den Versuch des Ausgriffs menschlicher Vernunft auf ein Gesamtsystem von vornherein als prometheisches Sich-Gott-Gleichsetzen abtäte. Aber er enthielt doch eine starke Versuchung in diese Richtung, der bestimmte Idealismus-Rezeptionen dann auch erlagen. (1) Besonders im Gefolge von Marx, der Hegels kopflastige reflexive Weltbewältigung „auf die Füße stellen" wollte, wurde das totalitär-ideologische Potential des idealistischen Systemdenkens sichtbar. Aber nicht nur kommunistische Diktaturen, sondern auch die Ideologien nationalsozialistischer Diktaturen lassen Bezüge zu einer pervertierten Idealismus-Rezeption durchblicken.

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Obwohl uns der Schreck vor den geschichtlich allzunahen Greueln linker und rechter Totalitarismen noch in den Knochen steckt, stehen sie unserer unmittelbaren Erfahrung doch eher fern. Schreckensvisionen geschlossener Gesellschaftssysteme weisen aber noch in andere Richtung: Orwells „1984" steht die kaum weniger beklemmende Utopie von Huxleys „Schöner neuer Welt" gegenüber:(2) eine geschlossen durchorganisierte Gesellschaft, in der die Bedürfnisse auf subtile Weise kleingehalten werden, sodass im ungefährlichen Bereich der „kleinen Lüstchen" (Nietzsche) die Illusion von Freiheit und Glück genährt wird. Die Gewalttätigkeit der „schönen neuen Welt" ist nicht geringer als jene der Orwellschen, nur raffinierter verschleiert.

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Huxleys Alptraum eines durchorganisierten, freiheitserstickenden Gesellschaftssystems steht der Erfahrung unserer Konsumgesellschaft beängstigend nahe: Auf einer primitiven Ebene nährt sie den Eindruck grenzenloser Freiheit: die Freiheit unbegrenzter Futterauswahl im Supermarkt, einer Unzahl von Programmangeboten im Fernsehen usw. Die Überfülle der Konsumangebote verdeckt, dass die Alternativen sich enttäuschend ähneln und ein enger und oberflächlicher Erfahrungsbereich kaum je überschritten wird. So resultiert ein schales Gefühl von Leere, Langeweile und Enttäuschung. Man meint in einer Zwanggesellschaft zu leben, - ein Eindruck, der Menschen außerhalb, denen es am Elementaren mangelt, als Undankbarkeit erscheinen könnte.

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Dieser Eindruck erhärtet sich aber, wenn man auf reale Probleme und Anliegen achtet: ökologische Katastrophen, wirtschaftliche Ungerechtigkeit, Verelendung von Minderheiten. Hier scheinen echte Verbesserungsmöglichkeiten zu fehlen. Nicht, weil an den Entscheidungspositionen unwillige Menschen stünden, auch nicht einfach unfähige, in dem Sinn, dass man sie durch fähigere austauschen könnte. Auch für die Wohlmeinendsten und Fähigsten sind die Handlungsspielräume extrem beschränkt; es scheint, als ob unser Gesellschaftssystem echte Entscheidungspositionen nicht mehr kennt. Wir erfahren uns als gefesselt in einem atemberaubenden Netzwerk von Systemzwängen.

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Dieses bedrückende Grundgefühl wird durch die nüchterne Gesellschaftsanalyse Niklas Luhmanns bestätigt und überboten. (3) Demnach ist die Weltgesellschaft durch ein komplexes Netz funktionaler Differenzierung strukturiert. Zunehmend autonom ablaufende Subsysteme wie Wirtschaft, Politik und Wissenschaft mit ihren reduktionistischen Codes und deren je eigenen komplexen Unterstrukturierungen fragmentieren nicht nur die Welt als ganze, sondern auch jeden einzelnen Menschen darin. Die Vorteile einer solchen Differenzierung bestehen in einer erhöhten Effektivität, die Nachteile in einer Zersplitterung des Gesamtsystems sowie der darin agierenden Menschen in einer Weise, dass Steuerung kaum mehr möglich ist. Wie ein führerlos gewordenes Fahrzeug treibt unsere Weltgesellschaft auf einem gefährlichen Weg dahin, dessen Abgründe einer ökologischen oder militärischen Selbstzerstörung beunruhigend nahe scheinen.

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In ähnliche Richtung weist die mimetische Theorie von René Girard: (4) Als kritische Theorie weist sie die verdeckte Gewaltsamkeit nach, von der die moderne Gesellschaft zehrt. Zwar hat die moderne Zivilisation die groben Formen des Sündenbockmechanismus erkannt und geächtet. Das hat sie aber nicht davor bewahrt, deren schlimmsten Auswüchsen zu verfallen, wie die Genozide des zurückliegenden Jahrhunderts belegen. Girards Theorie erklärt nicht nur die Macht dieser Rückfälle, sondern weist auch die subtilen Formen versteckter struktureller Ausgrenzungsgewalt nach. Von den ersten Anfängen der Zivilisationsbildung bis in die heutige komplexe Weltgesellschaft wurde Gewalt kaum wirklich überwunden, sondern stets verschoben und immer besser verschleiert. So treibt sie heute in anonymisierter, struktureller Form ihr Unwesen.

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In wesentlichen Punkten konvergieren Girards und Luhmanns Gesellschaftsanalysen. Was Girards Theorie allerdings von Luhmanns deskriptiver Analyse unterscheidet, ist, dass er eine Durchbrechung dieser Mechanismen für möglich, ja sogar für entscheidend erachtet, und dass er die Kraft dazu dem Christentum zuspricht. Darin gründet die große Herausforderung und Faszination, gerade auch für Innsbrucker Theologen. Das gestellte Thema „Systemunterbrechung" ließe sich von daher als Darstellung von Girards Interpretation der jüdisch-christlichen Offenbarung durchführen. Ich verfolge diese Fragestellung hier allerdings auf eine allgemeinere Weise.

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Wo Systeme „abgeschlossen" (5) sind, d.h. eine Eigendynamik entwickelt haben, die humanitäre Interventionen scheitern lassen, stellt sich die Frage nach Systemunterbrechungen. Nicht die Zerstörung eines Systems ist damit gemeint, sondern dessen Störung im Sinne einer kreativen Unterbrechung, d.h. auf das Ziel hin, dass es etwas freier läuft und wieder mehr Spielraum für menschenfreundliche Interventionen lässt. (6) Es soll hier untersucht werden, wie gerade die Theologie von ihren spezifischen Erkenntnisquellen her für solche kreative Unterbrechungen einen Horizont erschließt, der für Sozialwissenschaften wesentlich verdeckt ist.

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3. Das Systemunterbrechungspotential des christlichen Glaubens

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3.1 Jesus unterbricht die Systeme

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Entscheidenden Impulse gewinnt eine sozialkritische Theologie stets aus dem reflektierenden Rückblick auf die Lebensgeschichte Jesu Christi. Von seinem Wirken erwartet sie eine paradigmatische Unterbrechung der sich in inhumane Eigengesetzlichen abschließenden Systeme, die in neutestamentlicher Sprache als „Mächte und Gewalten" oder einfach kurz als „Welt" bezeichnet werden. Auch wenn die gesellschaftliche Situation zur Zeit Jesu von der unseren sehr verschieden und ungleich weniger komplex war, sind auch für damals schon die ersten Ansätze zu einer Verselbständigung von gesellschaftlichen Subsystemen, mit den daraus resultierenden Problemen, erkennbar. Während für das Judentum ursprünglich religiöse, politische und ökonomische Sphäre untrennbar voneinander waren, kam es sukzessive zu einer Ausdifferenzierung der Bereiche, die bereits von den alttestamentlichen Propheten sehr kritisch beurteilt wurde. Das begann mit einer Ausdifferenzierung des politischen Systems durch ein eigenes Königtum und wurde verschärft durch die Unterwerfung des politischen Israel unter fremde Besatzungsmächte. Dass die römische Weltmacht den unterworfenen Völkern ein gewisses Maß an Religionsfreiheit beließ, verstärkte die Sektorialisierung in religiöse und politische Sphäre und versetzte das Selbstverständnis des Judentums, mit seiner Vorstellung eines allmächtigen, nicht auf Teilbereiche begrenzbaren Jahwe-Gottes, in eine chronische Krise. Vor diesem Hintergrund lassen sich wichtige Aspekte von Jesu Wirken als systemunterbrechende Interventionen deuten.

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Ich werde im folgenden versuchsweise den Luhmannschen Raster von zentralen Subsystemen heutiger Gesellschaft mit ihren spezifischen Codes - politisches System: Macht/Ohnmacht; ökonomisches System: Eigentum/Nichteigentum, moralisches System: gut/böse; religiöses System: Transzendenz/Immanenz -(7) auf das gesellschaftsrelevante Wirken Jesu anlegen, um von daher die Konfrontationen zu verstehen, die er in Konsequenz seiner Gottesreich-Botschaft auslöste und die ihn letztlich ans Kreuz brachte.

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1. Moralisches System: Das zeitgenössische religiöse Judentum war geprägt von einem moralischen System, welches die Unterscheidung gut/böse bzw. gerecht/ungerecht oder unschuldig/schuldig mittels eines kasuistisch ausgefeilten Gesetzesapparats durchführte. Jesus hat die daraus resultierende Trennung zwischen Sündern und Gerechten immer wieder und geradezu programmatisch durchbrochen. Dabei lehnte er das System nicht einfach äußerlich ab, (8) sondern wandte es gegen es selber. Darin liegt die eigentliche Pointe von Jesu genial-überraschendem Handeln an der Ehebrecherin: (9) Hätte er das moralische System direkt bekämpft, so hätte er seine Logik der Ausgrenzung repetiert. Die beschuldigten Beschuldiger hätten beschämt als Verlierer abziehen müssen. Aber Jesus wendet die Kraft des Systems gegen dieses selber. Er richtet die Gerechtigkeitsfrage an die Vollstrecker des Rechts: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie". Mit eben jener Vollmacht, mit der sie andere richten, würden sie sich selbst richten. Da die Ankläger aber von der Vollstreckung des Urteils absehen, fällt das Urteil auch nicht auf sie selber zurück. Die Ältesten, die Erfahrensten, begreifen das zuerst, sie gehen als erste, - vielleicht beschämt, aber nicht verurteilt, nicht einmal gedemütigt. Menschen wurden nicht abgeurteilt - weder die Ehebrecherin noch ihre Richter. (10) Verurteilt wurde vielmehr das System der Rechtsprechung: Es hat sich selber verurteilt, lahmgelegt; ein Urteil konnte nicht zustandekommen. (11)

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2. Politisches und ökonomisches System: Weiters war Jesus konfrontiert mit einer im letzten ungeklärten Symbiose zwischen dem Judentum als einem primär religiösen System mit implizit politisch-messianischem Anspruch und der römischen Macht als einem politischen System. Berühmt ist Jesu Antwort auf die Fangfrage, wem die Steuermünze mit dem Bild des Kaisers gehöre. (12) Man muss hier sehen, dass die Frage, auch wenn sie als Falle dient, mehr ist als ein Vorwand. Es handelt sich hier um ein ernstes Problem, eine tiefe Widersprüchlichkeit des damaligen realen Judentums. Demgemäß liegt in Jesu Antwort mehr als ein bloß rhetorischer Trick, mit dem er sich raffiniert der gestellten Falle entzieht. „Wessen Bild und Aufschrift ist auf der Münze? ... So gebt dem Kaiser, was dem Kaisers gehört und Gott, was Gott gehört!" - damit wendet er die ökonomische System-Logik auf diese selber zurück. Die Münze dient als Mittel der Eigentumszuordnung: ihr Zirkulieren legt Eigentumsverhältnisse fest. Es sprengt das System, wenn man es mit seinem eigenen Code misst, indem man fragt, wem das System der Eigentumszuordnung gehört. Auf diese Weise unterbricht Jesus eine Selbstverabsolutierung des ökonomischen Systems und stellt es in den Gesamtkontext der Herrschaft Jahwes.

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3. Religiös-politisches System: Als Jude war Jesus mit einem Selbstverständnis des religiösen Judentums konfrontiert, für welches die Grenzziehung zwischen Juden und Nichtjuden zentral war. Hierin lag die Tendenz zu einer Spielart eines religiös-politischen Systems, welches die Macht, Kinder Gottes zu werden, ausschließlich den gebürtigen Gliedern des jüdischen Volkes zusprach. Indem Jesus sich mit seiner religiösen Botschaft auch Heiden zuwandte, missachtete er diese Grenzziehungen, ohne sich aber von der jüdischen Glaubenstradition insgesamt zu distanzieren. Damit hat er eine Interpretation des Judentums nicht nur vertreten, sondern gelebt, für die die Grenzziehung zwischen Juden und Nichtjuden nicht unüberwindbar war. Dementsprechend relativierte Jesus auch die Bedeutung von Gesetzen, die (bzw.: insofern sie) primär die soziale Differenz zwischen Juden und Nichtjuden betonten, etwa ein kasuistisch ausgelegtes Sabbatgebot.

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Jesus hatte immer wieder gegen das Missverständnis anzukämpfen, bei dem von ihm angekündigten Gottesreich handle es sich um ein partiales politisches System, zu dem die Ausgrenzung als wesentlicher Gegensatz zur Begrenzung und die Entmächtigung von vielen als Gegensatz zur Ermächtigung von Wenigen gehört. Nicht nur bei seinen Gegnern, sondern schärfer noch unter seinen Anhängern und Jüngern war Jesus mit diesem Missverständnis konfrontiert. Auch hier operierte Jesus mit Unterscheidungen, welche die Logik von Abgrenzsystemen (die sich als solche selber begrenzen und so die wesentliche Grenzenlosigkeit des Gottesreichs unterbieten) durchbrechen, etwa mit der (impliziten) Unterscheidung, dass sein Reich zwar „in dieser Welt" sei, aber „nicht von dieser Welt". (13)

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4. Religiöses System: Für das Judentum ist Gott transzendent. Kein Mensch kann ihn sehen und am Leben bleiben. (14) Der fromme Jude spricht nicht einmal seinen Namen aus. Das schließt die Gegenwart Gottes bei seinem Volk, die Schekina, nicht aus, aber diese wird bestimmten Orte und Zeiten zugeordnet. Zugleich wächst aber das Bewusstsein von einer beschützenden Allgegenwärtigkeit Gottes.(15) Immanenz und Transzendenz - nach Luhmann der Code des religiösen Systems - stehen damit in einer heiklen, für die Gläubigen unverfügbaren Beziehung, die in steter Gefahr ist, auf ein handhabbares Verhältnis festgeschrieben zu werden. Jesus durchbricht solche Grenzziehungen bereits durch die vertraute Anrede „Abba-Vater", die sein intimes Gottesverhältnis zum Ausdruck bringt. Die Souveränität seines Agierens in der Vollmacht Gottes, seiner Heilungen, Dämonenaustreibungen und Sündenvergebungen, setzt ihn zunehmend dem Verdacht aus, er mache sich selber zu Gott. In einer binären Logik mit der Alternative „Transzendenz oder Immanenz" kann sein Anspruch nur missverstanden werden. Eine solche Systemlogik gehört zwar nicht zum ursprünglichen Selbstverständnis des Judentums. Aber es droht ständig der Rückfall in solche Bemächtigungsschemata, - gerade in den hochgespielten Konflikten um die Frage, wer mit der Autorität der Repräsentanz Gottes ausgestattet ist.

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Jesus hat also alle bestehenden Systemfixierungen durchbrochen. Damit musste er auf das real verfasste Judentum bedrohlich wirken.(16) In Konsequenz seiner Gottesreich-Ansage mutete er den Menschen zu, scheinbar bewährte und unverzichtbare Sicherungsstrukturen preiszugeben, für deren versklavende Dimensionen sie blind geworden waren. Insofern ging es eigentlich um Leben und Tod. In diesem erweiterten Zusammenhang ist Jesu Forderung zu verstehen, zu sterben, um neu geboren zu werden.(17) Auch der Aufruf zum Verzicht auf die Reichtümer findet hier einen tieferen Anhalt: es geht um mehr und Grundsätzlicheres als um materiellen Besitz, nämlich um jene systemisch-strukturellen Sicherungen, zu denen das Anhäufen von Reichtum gehört, aber eben vieles andere auch. Wer diese Zumutung Jesu nicht ertragen konnte, musste ihn zum Schweigen bringen. Wer den eigenen „Tod" nicht riskieren wollte, musste den Tod des Ruhestörers in Kauf nehmen. „Ihr bedenkt nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht". Mit dieser aus einer systemgebundenen Binnenperspektive höchst plausiblen Erklärung legitimierte der Hohepriester Kaiaphas die Verurteilung Jesu.(18)

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Auferstehung ist die Rückkehr des Ausgeschlossenen, - der ausgeschlossenen Person und nicht weniger der ausgeschlossenen Sache. Es würde hier zu weit führen, die Auferstehung Jesu zugleich unverkürzt und nachvollziehbar erschließen zu wollen. Aber zumindest ist im Auferstehungsgeschehen impliziert, dass Jesu Gottesreichankündigung mit seinem befreienden und systemdestabilisierenden Potential über seinen Tod hinaus und eigentlich durch seinen Tod weiterwirkt. Dies geschieht nicht zuletzt durch die Menschen, die in seiner Nachfolge stehen. Ihnen ist der Heilige Geist - der Geist der Verbundenheit mit dem göttlichen Vater, jener Geist, der Jesus auch bei seinen systemunterbrechenden Interventionen leitete - übergeben worden: von Jesus Christus. In der Nachfolge des Gekreuzigten und Auferstandenen wissen die Menschen, dass sie in ihrem Engagement auch die eigene Existenz riskieren können. Damit ist ihnen ein erweiterter Spielraum für Systeminterventionen gegeben, der den in ihnen Verstrickten üblicherweise unzugänglich ist, da diese Systeme zentral nach der Voraussetzung der Selbsterhaltung und Selbstoptimierung (für das System selber wie auch für mit dem System interagierende Systeme, auch Menschen) operieren.

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Ich möchte das für den Bereich des politischen Systems verdeutlichen: Nichts trägt mehr dazu bei, auch aufrichtig engagierte Politiker zu korrumpieren, als die Logik der Selbsterhaltung als Voraussetzung für effektive Wirksamkeit. Die diesbezügliche Versuchung lautet: „Wenn du dich nicht diesen und jenen problematischen Bedingungen unterwirfst, verlierst du deine (angestrebte) Machtposition. Und wie willst du dann deine aufrichtigen Anliegen zum Wohl der Allgemeinheit durchsetzen?" Dem Dilemma zwischen Einflusslosigkeit und Korruption können Menschen entgehen, die die Angst,

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im Sinne des Systems zu „sterben", überwunden haben. Sie können mit „höherem Einsatz" spielen. Vielleicht „sterben" sie wirklich, vielleicht bewahren sie ihre Position entgegen allen Befürchtungen, oder sie üben als „Abservierte" auf Nachkommende einen Einfluss aus, der die korrumpierende Systemlogik zu sprengen vermag.

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3.2 Gnadenerfahrung als Potential für Systemunterbrechung

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Versuchen wir nun, einen Zugang zu solchen christologisch begründeten Systemunterbrechungen ausgehend von der Erfahrung heutiger Menschen zu gewinnen. Natürlich spielt für die Christen das Vorbild der „systemsprengenden" Existenz Jesu eine entscheidende Rolle, zumal es ja nicht nur verstandesmäßig rezipiert, sondern über Liturgie und Gebet tief in ihr Leben eingesenkt wird. Allerdings ist das systemunterbrechende Paradigma Jesu nur schwer adäquat rezipierbar. Jesus hat die Kraft seiner Interventionen aus einer intensiven, ursprünglichen und in dieser Weise für uns nicht zugänglichen Bezogenheit zum göttlichen Vater geschöpft. Er konnte die inhumanen Systembildungen durchbrechen, weil er sie immer schon transzendierte, - mehr als es sonst einem Menschen möglich ist. Das heißt nicht, dass eine Nachfolge Christi den Menschen grundsätzlich unmöglich ist, aber es bedeutet, dass sie nicht einfach zu ihrer Verfügung steht, - auch nicht für die Christen und auch nicht für die Kirche.

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Dies wurde bereits angesprochen mit der Bedeutung der Aussendung des Heiligen Geistes, der das Vermögen der Menschen erhöht und Nachfolge Christi erst möglich macht. Dieser Heilige Geist, der „weht wo er will" (Joh 3,8) ist auch den Getauften nicht einfach verfügbar, sondern erreicht sie über eine heilsgeschichtliche Vermittlung: Es gibt Zeiten, in denen seine Kraft stärker erfahrbar und einsetzbar ist. Für ein Leben aus der Nachfolge Christi im allgemeinen und eine adäquate Rezeption seines systemunterbrechenden Agierens im besonderen ist die Wahrnehmung (19) dieser Zeiten von besonderer Bedeutung. Als einen Schlüssel dafür erachte ich die Phänomenologie der „Gnadenerfahrung" bzw. der „Erfahrung des Heiligen Geistes" von Karl Rahner.(20)

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„Haben wir schon einmal geschwiegen, obwohl wir uns verteidigen wollten, obwohl wir ungerecht behandelt wurden? Haben wir schon einmal verziehen, obwohl wir keinen Lohn dafür erhielten und man das schweigende Verzeihen als selbstverständlich annahm? Haben wir schon einmal gehorcht, nicht weil wir mussten und sonst Unannehmlichkeiten gehabt hätten, sondern bloß wegen jenes Geheimnisvollen, Schweigenden, Unfassbaren, das wir Gott und seinen Willen nennen? Haben wir schon einmal geopfert, ohne Dank, Anerkennung, selbst ohne das Gefühl einer inneren Befriedigung? Waren wir schon einmal restlos einsam? Haben wir uns schon einmal zu etwas entschieden, rein aus dem innersten Spruch unseres Gewissens heraus, dort, wo man es niemand mehr sagen, niemand mehr klarmachen kann, wo man ganz einsam ist und weiß, dass man eine Entscheidung fällt, die niemand einem abnimmt, die man für immer und ewig zu verantworten hat? Haben wir schon einmal versucht, Gott zu lieben, dort, wo keine Welle einer gefühlvollen Begeisterung einen mehr trägt, wo man sich und seinen Lebensdrang nicht mehr mit Gott verwechseln kann, dort, wo man meint zu sterben an solcher Liebe, wo sie erscheint wie der Tod und die absolute Verneinung, dort, wo man scheinbar ins Leere und gänzlich Unerhörte zu rufen scheint, dort, wo es wie ein entsetzlicher Sprung ins Bodenlose aussieht, dort, wo alles ungreifbar und scheinbar sinnlos zu werden scheint? Haben wir einmal eine Pflicht getan, wo man sie scheinbar nur tun kann mit dem verbrennenden Gefühl, sich wirklich selbst zu verleugnen und auszustreichen, wo man sie scheinbar nur tun kann, indem man eine entsetzliche Dummheit tut, die einem niemand dankt? Waren wir einmal gut zu einem Menschen, von dem kein Echo der Dankbarkeit und des Verständnisses zurückkommt, und wir auch nicht durch das Gefühl belohnt wurden, ‚selbstlos', anständig usw. gewesen zu sein?

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Suchen wir selbst in solcher Erfahrung unseres Lebens, suchen wir die eigenen Erfahrungen, in denen gerade uns so etwas passiert ist. Wenn wir solche finden, haben wir die Erfahrung des Geistes gemacht, die wir meinen."(21)

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Bei dieser Bestimmung von Gnadenerfahrung ist mehreres bemerkenswert. Erstens ist die damit angezielte Gotteserfahrung keine beseligende, sondern eine fordernde; zweitens ist diese Erfahrung nicht einfach rezeptiv, sondern verwirklicht sich in einem eigenen Handeln; dieses Handeln ist aber drittens eines, das offensichtlich nicht in der Verfügung des Handelnden steht, zu dem er oder sie sich vielmehr als ermächtigt erfahren hat. Etwas, was unter gewöhnlichen Umständen überfordert und misslingt, ist hier offenbar geglückt. Und darin, dass man hier im eigenen Handeln getragen wurde, sieht Rahner die Erfahrung des Heiligen Geistes begründet.(22)

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Von daher lässt sich eine christliche Ethik erschließen, die hermeneutisch begründet ist: Es gilt Ausschau zu halten nach jenen kairoí - d.h. von Gott gewährten besonderen Zeiten der Gnade - wo unerwartet, wie ein Wunder, möglich wird, was sonst versperrt ist. Diese Kairoi können auch verpasst werden.(23)

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Ein Schlüsseltext für eine hermeneutische Ethik der Systemdurchbrechung ist die Bergpredigt. Ihre Aufforderungen gehören in den Kontext des „Evangeliums vom (Gottes-)Reich" (Mt 4,23), welches durch die Seligpreisungen ausgefaltet wird. Diese sind kein moralisches Regelwerk, sondern eine hermeneutische Grundlegung für eine Ethik des Gottesreichs: Die Aussage „Selig die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich" ist keine Aufforderung, man solle „arm sein im Geiste", damit (man) das Himmelreich (be-)komme, sondern gibt umgekehrt Kriterien, nach denen das keimhaft bereits anbrechende Gottesreich jetzt schon wahrgenommen werden kann: Wenn Menschen sich unvermutet als arm vor Gott erfahren, dann ist das Reich Gottes greifbar nahe, und alles hängt davon ab, kompromisslos zuzugreifen. (24) In diesem Sinnzusammenhang stehen die Anweisungen zu Verhaltensweisen, die systemdurchbrechenden Charakter haben können. Nehmen wir als Beispiel die Aufforderung, einem Aggressor auch die andere Backe hinzuhalten (Mt 5,39). Diese Bibelstelle hat die Auslegung immer wieder vor Probleme gestellt. Eine Deutung als Gebot ist unzufriedenstellend. Aber offenbar gibt es Situationen, in denen sich einem unvermutet ein anderer Blick auf seinen Aggressor öffnet und ihm deshalb ein unverhältnismäßig versöhnlicheres Verhalten möglich ist. Diese kairoí, als keimhafte Anbruchstellen des Gottesreiches, gilt es wahrzunehmen und ihnen handelnd zu entsprechen.

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3.3 Wie Systemunterbrechungen wirksam werden: Gnadenerfahrung und Nachfolge Christi

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Gnadenerfahrungen, wie sie vorausgehend beschrieben wurden, sind punktuelle Anstöße für Systemunterbrechungen, - nicht weniger, aber auch noch nicht mehr. Von ihnen können wirksame Systemveränderungen ausgehen oder auch nicht. Allein für sich würden sie individuelle Einschnitte bleiben, die ein System als isoliert bleibende externe Systemstörungen tolerieren könnte. Es müsste sich deshalb noch nicht wirklich verwandeln.

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Das trifft selbst für die gewählten Beispiele aus dem Leben Jesu zu, wenn man sie isoliert betrachtet. Jesu Konfrontation mit den Verurteilern der Ehebrecherin oder seine Antwort auf die Fangfrage mit der Steuermünze wären als isoliert bleibende Episoden kaum geeignet, an den herrschenden Mechanismen etwas zu ändern. Nur weil andere sich vom Beispiel Jesu mitreißen ließen und so eine Gemeinschaft entstand, die sich gegenseitig in der Verwirklichung der neuen Erfahrungen stützte, wurden Bedingungen geschaffen, die die Systeme zwangen, zu reagieren.

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So ist auch die Wahrnehmung des kairós, die im Kontext der Gnadenerfahrungen als entscheidende Forderung genannt wurde, in einem „ansteckenden", gemeinschaftsstiftenden Sinne zu verstehen. Zunächst besteht er darin, den sich unvermutet erschließenden positiven Freiheitsspielraum auch zu realisieren, - im Bekenntnis und im alternativem Handeln. Damit wird der kairós zugleich weitergegeben, er wird zum kairós auch für andere: Eine unvermutet zur Versöhnung gereichte Hand wird zur Chance für den Gegner, sie anzunehmen. Eine ungeschützte Vorleistung zur Abrüstung in einem hochgeschaukelten Konflikt wird zur Herausforderung an den Feind, mit einem ebenso freiwilligen Schritt des Einlenkens zu reagieren usw. Wenn mehrere Menschen sich in einem neuen, befreienden Handeln ergänzen, dann entstehen Interaktionen, und dann kann (durch quasi-systemische Rückkoppelungen) eine gewisse zeitliche Dauer und Kontinuität des alternativen Handelns entstehen. Beides ist Voraussetzung dafür, dass ein System sich wirklich „darauf einstellen" muss.

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Ein bloß äußeres Nachahmen von systemunterbrechenden Interventionen einzelner kann zwar - kollektiv verstärkt - mächtige Bewegungen hervorrufen, mit denen man „rechnen" muss, sie laufen aber Gefahr, entweder konformistisch oder defätistisch in die Abhängigkeit binärer Systemlogiken zurückzufallen. Dagegen könnte ein bloß individualistisches und interimistisches Verwirklichen von Gnadenerfahrungen zwar die zwingenden Alternativen von Systemlogiken unterlaufen; es erzielte aber nicht genügend Wirkkraft, um für Systeme relevant zu werden. Erst das Zusammenspiel beider Momente kann eine nachhaltige Systemunterbrechung bewirken.

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Im Hinblick auf das Christusereignis besteht das erste Moment in der Nachfolge Christi, das zweite in der Erfahrung des Heiligen Geistes. Im Schnittfeld beider Momente formte sich die Kirche. Sie steht in der Nachfolge Christi, und sie gründet in der Erfahrung des Heiligen Geistes, der eine adäquate Christusnachfolge erst möglich macht. Von dieser Verwurzelung her ist Kirche idealerweise der Ort für kreative Systemunterbrechungen. Darin liegt ihre besondere Verantwortung in einer zunehmend systemisch vernetzten Welt.

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In diesem Sinn hat das Innsbrucker Forschungsprojekt „Religion - Gewalt - Kommunikation - Weltordnung" im programmatischen Aufsatz „Dramatische Theologie als Forschungsprogramm" den harten Kern des Programms (in seiner ersten These) folgendermaßen formuliert: „Ein tiefer, echter und dauerhafter Friede zwischen Menschen, der nicht auf Opferung Dritter aufgebaut ist und ohne Polarisierung auf Feinde auskommt, ist sehr schwierig, ja übersteigt menschliche Kräfte. Wenn er dennoch Wirklichkeit wird, ist dies ein klares Zeichen, dass Gott selber (der Hl. Geist) in den Menschen am Wirken ist. Diese inkarnatorische Logik ist sowohl an der biblischen Botschaft als auch an den zahlreichen ekklesialen „Zeichen der Zeit" in der menschlichen Geschichte ablesbar." (25)

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Im Bemühen um eine kreativ-kritische Unterbrechung und Überformung der „Mächte und Gewalten" steht die Kirche allerdings selber seit ihren Anfängen in Gefahr, das Gleichgewicht zwischen beiden Momenten zu verlieren, und entweder in einer bloß äußerlich begriffenen Nachfolge zu stehen und sich so selber in die Systemlogiken zu verstricken, oder aus bloß individualistisch und kleingemeinschaftlich verbleibenden spirituellen Impulsen für sich selbst zu leben, ohne so die Kraft aufzubringen, die nötig ist, um inhumane Systemfesseln zu sprengen. Diese Gefährdungen kann Kirche nur überwinden durch immer neue, selbstkritische und selbstkorrektive Rückbindung an die geschichtlichen Wurzeln, durch Wahrnehmen der unvermutet aufbrechenden Gnadenerfahrungen des Heiligen Geistes und durch entschlossene Konfrontation beider Quellen miteinander.

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Insofern betrifft der Inhalt der zweiten These aus dem „harten Kern" des Forschungsprogramms nicht nur die Weise, wie Kirche die opferproduzierenden Kurzschlüsse anderer Systeme unterbrechen kann, sondern auch, wie sie mit schuldhaften Selbstabschließungen umgehen kann: „Beim Versagen echter Versöhnung wird das Unbewältigte - oft im Namen Gottes - auf Dritte abgeschoben. Da Jesus Christus in seiner gewaltfreien Feindesliebe (Aktionseinheit mit dem Vater) sich selber vom Bösen treffen ließ und da Gott ihn vom Tod erweckt hat (Einheit im Geschick), kann durch den Glauben an ihn auch das Versagen beim eigenen Bemühen um echte Versöhnung positiv aufgearbeitet (Verzeihen, Umkehr) und in das Bemühen um einen dauerhaften Frieden stets neu integriert werden. Der in der Spannung zwischen Abschiebung und Versöhnung immer wieder ermöglichte Lebensraum stellt den Ort aller anderen menschlichen und mitmenschlichen Erfahrungen (wie Endlichkeit, Sexualität) dar und transformiert selbst die Naturerfahrungen." (26)

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4. Ausblick

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Entscheidend für Christen ist die gelebte Überzeugung, dass ein Potential zur Unterbrechung und Überwindung auch in Verhältnissen möglich ist, die treffend als sich abschließende Systeme beschrieben werden können. Wie aber kann wissenschaftlich fassbar sein, was wesentlich unverfügbar und unsystematisierbar ist? Der göttliche Geist-Wind „weht wo er will" (Joh 3,8); ebensowenig sind die von ihm erwirkten Gnadenerfahrungen kalkulierbar. Und das Beispiel Christi wehrt sich gegen seine Verarbeitung in eine praxisorientierte Theorie kreativer Systemunterbrechung.(27) Ist also eine „systematische Theologie als Wissenschaft der Unterbrechung von Systemen", wie im Titel angekündigt, grundsätzlich unmöglich? Dagegen könnte man auf die vorausgehenden Ausführungen hinweisen: sie stellen ja den ansatzweisen Versuch eines solchen Unternehmens dar. Dennoch erspart in diesem Fall der Hinweis auf das Faktum nicht die wissenschaftstheoretische Reflexion auf die Möglichkeit. Der dazu zu verfolgende Weg kann hier nur mehr in ganz groben Zügen skizziert werden. Man müsste auf jene spezifische Sprachform von Theologie und Philosophie zurückgreifen, die als Analogie bezeichnet wird. Sie ist den anderen Wissenschaften in dem Maße verschlossen, als sie ihre Einsichten in quantifizierbare Kalküle fassen. In der Systemtheorie, die mit ihrer tendentiellen Reduktion auf Binärcodes hier besonders konsequent ist, lässt sich dank ihrer hohen formalen Komplexität die Grenze zum nur mehr analog Sagbaren in den Blick bekommen: es ist die Selbstanwendung der Codes eines System auf das System selber. Sie muss im Sinne einer optimierten Effektivität ausgeschlossen werden, ist aber - wie Luhmann zeigt - für die Entstehung von Systemen gleichwohl unverzichtbar. (28) Dass die Selbstanwendung auch für die Unterbrechung von Systemen entscheidend ist, wurde bereits an den gewählten Beispielen aus dem Handeln Jesu deutlich: Wie gezeigt wurde, spielte dabei eine subversive Rückwendung der Systemlogik auf das System eine entscheidende Rolle. Dies ist nun genau der Punkt, wo man ansetzen kann, um die Eigenart und Bedeutung von analog operierender Theologie (und Philosophie) am Horizont von Sozial- und insbesondere Systemwissenschaften sichtbar zu machen. Das kann hier aber aus Platzgründen nicht mehr durchgeführt werden. (29)

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5. ANHANG (in Buchpublikation aus Platzgründen gestrichen): Systemunterbrechungen als Thema der systematischen Theologie

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Es soll nun noch untersucht werden, inwiefern solche Systemunterbrechungen überhaupt systematisch und damit wissenschaftlich reflektierbar sind. Aus diesen Überlegungen wird sich ein Aufgabenfeld ergeben, welches den Sozial- und Humanwissenschaften eigentlich verschlossen und der Theologie und Philosophie vorbehalten ist.

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Entscheidend für Christen ist die Grundannahme, dass ein Potential zur Unterbrechung und Überwindung auch in Verhältnissen möglich ist, die treffend als sich abschließende Systeme beschrieben werden können. Dieses Potential ist allerdings nicht einfach verfügbar und entgeht deshalb zwangsläufig einer systeminternen Perspektive. Will man die Reflexion auf kreative Systemunterbrechungen als Arbeitsfeld für eine wissenschaftliche Theologie erschließen (wie im Titel dieser Arbeit angekündigt wurde), so ergibt sich hier allerdings ein grundsätzliches Problem. Wie kann systematisch fassbar sein, was wesentlich unverfügbar und unsystematisierbar ist? Es muss auf die Möglichkeiten und Grenzen der Fassbarkeit unfassbarer System-Unterbrechungen reflektiert werden.

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5.1 Die Möglichkeit einer pervertierenden Rezeption der Systemunterbrechung durch das System

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Zunächst gilt es zu präzisieren: Systemunterbrechungen, auch wenn sie von der beschriebenen „gnadenhaften" Art sind, bleiben für das betroffene System nicht einfach unfassbar, sondern sind nur nicht adäquat fassbar. Sobald eine störende Intervention im System wirksam wird, wird sie im Rahmen der Systemlogik auch irgendwie rezipierbar. Und was wirksam ist, unterliegt auch der (versuchten) Reproduktion. Zwar ist der „Geist", aus dem heraus Jesus die Ehebrecherin retten konnte, unverfügbar, aber der Effekt, die Wirkung, die „Methode" sind dem Zugriff des Systems durch Rezeption und Reproduktion ausgesetzt. Was aber solcherart wiederholbar und verfügbar wird, ist nur eine der Systemlogik folgende Perversion der ursprünglich systemtranszendierenden Intervention, - etwa eine Praxis paradoxer Intervention, mithilfe derer unliebsame Gegner durch ironische Verschärfung bloßgestellt und so mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden. Die ursprünglich systemtranszendierende Anweisung, die andere Backe hinzuhalten, kann so von der Systemlogik als kalkulierte Verunsicherung des Aggressors in Dienst genommen und zu einem „Bravourstück" degradiert werden, - eine völlige Perversion, wie sich spätestens dann zeigt, wenn die beabsichtigte Wirkung ausbleibt.

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Walter Toman hat das in einem literarischen Text eindrucksvoll thematisiert. Dieser Text rät einem Geschlagenen, der versucht, die Regel der Bergpredigt zu verfolgen und den daraufhin - vor einem Publikum - ein Schlag nach dem anderen trifft. Vielleicht lassen Kraft und Sicherheit dieser Schläge nach, dann ist immer noch ein moralischer Sieg in Aussicht ... „Nur wenn das nicht ist, wenn der dritte Schlag schon wieder besser sitzt als der erste, und wenn die Zuschauer herzhafter lachen als früher, und wenn dein Bruder dich weiter schlagen wird wie ein Hündlein, dann leg ihn hin, deinen Bruder, mit einem Schlag auf das Kinn. Denn dann warst du nicht in der rechten Arena für dieses Bravourstück Christi. Und lächeln musst du, wenn du den Kinnhaken gibst. Ganz gütig lächeln musst du dabei, ganz ohne Zorn. Nachher kannst du ihm aufhelfen, deinem Bruder. In mancher Arena muss der Christ ein Stierkämpfer sein, muss zeigen, dass er auch das kann. Sonst wird er von keinem verstanden bei seinem Bravourstück. Damit es die anderen verstehen, dazu tut er's aber." (30)

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5.2 Die Möglichkeit einer adäquaten Thematisierung von Systemunterbrechungen durch Analogie

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Wie aber sind Systemunterbrechungen adäquat fassbar? Dazu ist eine Sprachform nötig, die den binär codierbaren, univoken Systemsprachen grundsätzlich unzugänglich ist: die Analogie.(31) Ich will das Gemeinte veranschaulichen an der Rede von gut/böse oder gerecht/ungerecht in einem ethischen Subsystem und seiner Systemstörung durch Einbringung eines analogen Begriffs von gut/böse bzw. gerecht/ungerecht. Dazu beziehe ich mich nochmals auf die denkwürdige Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin und ihren Verurteilern.

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Als System operiert das Gesetz, nach dem die Ehebrecherin, nennen wir sie Emma, verurteilt wird, gemäß einem binären Code von gut und böse. Das Gesetz ist dann effektiv, wenn es für alle Handlungen über eine eindeutige Zuordnung von gut und böse verfügt. Im Falle des Ehebruchs - sein Nachweis vorausgesetzt - ist die Ordnung einfach aufrechtzuerhalten: Als Ehebrecherin ist Emma böse, im Sinne von straffällig, und dieses Urteil zieht zwangsläufig die vorgesehene Strafe nach sich. So wird die Ordnung des gesellschaftlichen Gesamtsystems angesichts einer Störung im Subsystem Ethik aufrechterhalten.

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Bei Strafe von Verwirrung und Ineffektivität muss dabei die Selbstanwendung des Codes ausgeschlossen werden. Soll das System effektiv operieren, muss die Frage, ob es unter Umständen böse ist zu urteilen, dass Emma böse ist, ausgeschlossen werden. Genau diese Frage aber stellt Jesus. Damit stellt er das Gesetz im Hinblick auf seine Exekutierbarkeit in Frage. Was passiert dadurch?

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Das Gesetz - und nur das Gesetz - gibt eindeutige Anweisungen zur Unterscheidung von „gut" und „böse". Womit kann dann aber beurteilt werden, ob das Gesetz selber gut oder böse ist? Dazu bedürfte es eines übergeordneten Gesetzes, das zur Beurteilung seiner eigenen Gerechtigkeit einer dritten Gesetzesinstanz unterliegen müsste... Es entsteht ein „regressus in infinitum". Oder die Kette schließt sich in einen Zirkel: Das Gesetz legitimiert sich selbst. Jesus, der das Gesetz kritisiert, unterliegt ebendadurch der Verurteilung durch das Gesetz.

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In beiden Fällen resultiert eine Ineffektivität des ethischen Systems, im ersten, weil sich die Legitimationsfrage ins Endlose verläuft, im zweiten, weil das ethische System sich dadurch gegen jeden Wandel abschließt. Soll die Effektivität erhalten werden, bleibt deshalb nur der willkürliche Abbruch: die Frage nach der Gutheit des über gut und böse entscheidenden Gesetzes darf nicht gestellt werden. Wer daran rührt, begeht einen Tabubruch, der durch das Gesetz selber nicht mehr fassbar wird. Er bricht das Gesetz nicht, sondern stellt sich außerhalb des Gesetzes und des von ihm strukturierten gesellschaftlichen Systems. Er „outet sich", erweist sich als Fremder.

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Mithilfe der analogen Rede lässt sich das „verbotene Land" betreten. Man spricht von einem „wahren" Gut/Böse und Gerecht/Ungerechtsein, wobei man in Kauf nimmt, dass diese Wahrheit nur näherungsweise zugänglich ist. (32) Mithilfe des Gesetzes qualifiziert man die Ehebrecherin Emma als „böse", berücksichtigt aber die Möglichkeit, dass das Gesetz oder sein Gebrauch bei der Verurteilung Emmas selber defizient ist. Man lässt also die Rückfrage nach der „Gutheit" des Gesetzes und ihrer Repräsentanten, die Frage Jesu, zu. Die Chance dieses Vorgehens besteht in einer kreativen Systemstörung und Systemverbesserung, die Gefahr in einer Lähmung des Systems.(33)

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Man kann versuchen, die Eigenart analoger Rede als eine Grenzüberlegung von univoken Systemsprachen aus annähern: Das mit der analogen Rede vom „wahren Guten" Angezielte lässt sich nicht eindeutig operativ definieren, d.h. es lässt sich keine eindeutige Anweisung geben, durch deren Nachvollzug das „wahre Gute" verlässlich verwirklicht wird. In diesem Sinn ist seine Bedeutung variabel, ein x. Aber es gibt Näherungen: Die angezielte Bedeutung wird - hypothetisch, d.h. mit dem Vorbehalt von späteren Korrekturen - durch ein operativ festgelegtes x[1] (oder durch mehrere x[1], x'[1] usw.) angenähert. Widersprüche, die sich aus einer - nicht ausgeschlossenen - Selbstanwendung ergeben (sowie Widersprüche zwischen den Näherungen) werden in Kauf genommen. Wie bei einer rekursiven Funktion dienen sie nicht der Widerlegung der Gleichung, sondern der Korrektur von x[1] durch x[2], sowie nach mehrfachem Durchlauf, von x[i] durch x[i+1]. Zielpunkt ist dabei jenes x, welches auch für die Gleichung einer Selbstanwendung einen Eigenwert darstellt. (34)

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5.3 Theologie - Philosophie - Sozialwissenschaften

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Die Eigenart analoger Rede ist der Philosophie und der Theologie gemeinsam. Die Grenzen zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften verschwimmen dort, wo - wie bei Luhmann - eine sozialwissenschaftliche Systemtheorie über die Grenzen ihrer Sprachmöglichkeit, etwa bzgl. Selbstanwendung, nachdenkt.

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Ein wesentlicher Unterschied von Theologie gegenüber Philosophie besteht vor allem darin, dass Theologie in einer Geschichtshermeneutik die Realisiertheit des angestrebten idealen x - also in unserem Beispiel das vollkommene Gute - bereits als realisiert unterstellt: mit dieser Vorentscheidung interpretiert sie die Geschichte Jesu Christi: dass sich hier das wahre Gute, die wahre Gerechtigkeit usw. wirklich in die Welt inkarniert hat. (35) Es ist auf die Widerstände sündiger Menschen und sündhafter Strukturen geprallt, hat sich daran gebrochen (und fächerte sich so in unterschiedliche dramatisch-situationsabhängige Formen, wie Gerichtsreden und schließlich Kreuzestod auf), ist aber an diesen Widerständen nicht zugrundegegangen, sondern hat sich, durch Auferstehung und Geistsendung hindurch, gegenwärtig gehalten. Vom Christusereignis her ist diese „Wahrheit" der Welt nicht einfach unerreichbar fern. Sie strahlt aus von der liturgischen Mitte von Kirche, der sakramentalen Vergegenwärtigung des Christusereignisses und findet immer wieder ihr unvermutetes Gelingen in den Gnadenerfahrungen.

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Damit werden reale Ereignisse, mit all ihrer Defizienz durch spezifisch religiöse Formen wie Glaube, Dank- und Bittgebet auf die volle Wahrheit hin bezogen. Die Dynamik der Analogie gewinnt so eine geschichtliche Konkretion, die der Philosophie, auch der christlichen, verschlossen bleibt.

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Unsere Überlegungen hatten ihren Ausgang genommen von einer Verhältnisbestimmung von Sozialwissenschaften und Theologie. In einer idealtypischen Unterscheidung wurde eine univoke Rede mit tendentiell binärer Kodierung, mit der Tendenz eines möglichst operationalisierbaren Handlungswissens als charakteristisch für Sozialwissenschaften behauptet, während demgegenüber die analoge Rede mit heilsgeschichtlichem Bezug als Eigenart der (systematischen) Theologie bezeichnet wurde. (36). Es ist eine - besonders von Karl Rahner mit seinem Theologumenon vom anonymen Christen - herausgearbeitete Einsicht, dass das Wirken des Heiligen Geistes und dessen gläubige Übernahme keineswegs auf jene Menschen beschränkt sind, die sich als Christen bezeichnen und/oder explizite Gottesrede treiben. Eine messerscharfe Trennlinie zwischen Theologie und anderen Wissenschaften zu ziehen, hieße hinter diese Einsichten zurückzufallen.

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Die Verhältnisbestimmung erfolgte im Blick auf komplexe, zur Selbstabschließung tendierende Systeme. Luhmanns radikale Rekonstruktion realer Gesellschaftsstrukturen auf binäre Kommunikationscodes führt die Charakterisierungen von Sozialwissenschaften als univoke Rede mit dem Ziel operationalisierbaren Handlungswissens am konsequentesten durch. Damit zeigen sich auch deutlicher die Grenzen, bei Luhmann selber, der, indem er nicht nur mit diesen Codes arbeitet, sondern auf ihren Gebrauch und ihre Grenzen reflektiert, oft mehr als Philosoph denn als Sozialwissenschaftler arbeitet und an analoger Rede selber nicht vorbeikommt, - und im Blick auf die Sozialwissenschaften, die eben auch anderes sind als die Luhmannsche Systemtheorie. Eine weitere Einschränkung war, dass das Verhältnis von Theologie zu den Sozialwissenschaften besonders im Hinblick auf kritische Stadien von Systemen erfolgte, wo die Unzufriedenheit und Besorgnis der ins System Verstrickten ein deutliches Indiz für eine Sackgasse gibt. Die mangelnde Steuerbarkeit von Systemen in solchen Situationen legt es nahe, über mögliche Systemunterbrechungen nachzudenken. Für dieses Anliegen wurde der systematischen Theologie eine konstruktive Rolle zugesprochen. Durch die starke Einschränkung des Feldes konnte damit allerdings nur ein Teilbereich der sozialethisch relevanten Bedeutung systematischer Theologie angesprochen werden. In diesem Sinn und keineswegs umfassender sollte die These behauptet werden, dass systematische Theologie (auch) eine Wissenschaft der Systemunterbrechungen darstellt.

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Anmerkungen:

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1. Allerdings gab es auch das Umgekehrte. Der Versuch, die Möglichkeiten umfassender System-Bestimmung bis ins Letzte auszumessen, machte auch die Grenzen und Gefahren davon deutlicher. Die schärfsten Entwürfe philosophischer Systemkritik entwickelten sich als allergische Gegenreaktion vor allem gegen Hegels Unternehmen. Dies traf zeitgenössisch in erster Linie auf Kierkegaard zu, heute vor allem auf postmoderne Denker.

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2. Vgl. dazu: Herwig Büchele, SehnSucht nach der Schönen neuen Welt. Thaur: Kulturverlag ²1994.

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3. Vgl. Wilhelm Guggenberger, Niklas Luhmanns Systemtheorie. Eine Herausforderung der christlichen Gesellschaftslehre (IThS 51). Innsbruck, Wien: Tyrolia 1998.

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4. Vgl. Wolfgang Palaver, René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen. Münster: Lit 2000.

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5. Wie Luhmann ausführt, sind soziale Systeme grundsätzlich nicht abgeschlossen, sondern offen in dem Sinn, dass sie auf komplexe Weise auf Umwelt reagieren. Allerdings können Systeme mit ihrer auf Selbsterhalt und Umweltanpassung zielenden Selbstkomplexifizierung auf kontraproduktive Weise selbstgefährdend werden. Die Kommunikation erschöpft sich in systeminternen Subbereichen und wird so zum Selbstzweck des Systems, die Reaktionsfähigkeit auf Systemumwelt und ihre Bedrohungen nimmt damit in gefährlicher Weise ab. (Man denke etwa an die enormen Probleme der Weltgesellschaft, in angemessener Weise auf die selbstverursachten ökologischen Bedrohungen zu reagieren.) In diesem Sinn kann von einer Abgeschlossenheit oder Selbstabschließung auch von wesentlich offenen Systems gesprochen werden.

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6. Diese Form „heilender" Interventionen ist zentral für therapeutische Entwicklungen von Systemtheorien, etwa der systemischen Famlientherapie, wie sie in Heidelberg rund um Helm Stierlin entwickelt wurde. Vgl. dazu grundlegend: Fritz B. Simon, Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie: Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch 1993, - sowie in einer konkreten Anwendung z.B.: Gunthard Weber, Helm Stierlin: In Liebe entzweit. Die Heidelberger Famlientherapie der Magersucht. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 1991.

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7. Vgl. Guggenberger (s. Anm. 3) 70-78.

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8. Vgl. Mt 5,17: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen."

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9. Vgl. Joh 8,2-11.

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10. Diese Enthaltung von einer Verurteilung bedeutet allerdings keine Einebnung aller Unterschiede von Schuld und Unschuld. Zwei Sätze sagt Jesus abschließend zur Ehebrecherin: „Auch ich verurteile dich nicht" und: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr" (Joh 8,11). Vgl. auch die folgende Anmerkung.

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11. Damit ist allerdings nicht zurückgenommen, was oben betont wurde: dass Jesus nicht gekommen ist, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu erfüllen. Das „Gesetz" als gesellschaftliche Verwirklichung des Bundes Jahwes mit Israel unterscheidet sich vom „moralischen System", das - ganz gemäß der Logik Luhmanns - einen abgespaltenen Teilbereich darstellt, der als solches zwar effektiver operiert, aber gerade so eine gefährliche Verfremdung des wesentlich jahwe-bezogenen Gesetzes darstellt. Deshalb musste Jesus gerade im Sinne der Erfüllung des wahren Gesetzes die Eigendynamik des Gesetzes als moralisches System (mit Paulus: das Gesetz, das die Sünde in ihren Dienst genommen hat) unterbrechen. Und damit er es damit nicht repetiert (indem er selber neue Verurteilungen verfügt), spielt er es gegen es selber aus. Vgl. dazu den Vorwurf gegen Jesus, er würde die Dämonen mithilfe von Beelzebul austreiben (Lk 11,15-20).

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12. Vgl. Mt 22,15-22.

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13. Vgl. Joh 18,36f.

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14. Vgl. Ex 33,20.

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15. Vgl. Ps 139.

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16. Als systematischer Hintergrund der folgenden Kürzestfassung des Christusereignisses dient die Strukturierung in fünf Akte - Gottesreichankündigung, Gerichtsdrohung, Kreuz, Auferstehung, Geistsendung - wie sie Raymund Schwager ausgearbeitet hat in: ders., Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre (IThS 29). Innsbruck, Wien: Tyrolia 1990.

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17. Vgl. Mk 8,35 (Mt 10,39; Lk 9,24) und Joh 12,24.

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18. Vgl. Joh 11,50f.

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19. Wahrnehmung im doppelten Sinn: als Erkenntnis und als handelndes „Wahrnehmen" einer sich bietenden Chance.

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20. Karl Rahner wurde unter anderem dadurch für die Theologie des 20. Jahrhunderts bedeutend, dass er die Erfahrungsdimension der Gnade wieder stärker herausarbeitete.

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21. Karl Rahner, Über die Erfahrung der Gnade, Schriften zur Theologie Band III, 105-109, hier: 106f. Vgl. auch ders., Erfahrung des Heiligen Geistes, Schriften zur Theologie Band XIII, 226-251, besonders: 239f.

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22. Damit ergibt sich eine der katholischen Gnadentheologie entsprechende Verhältnisbestimmung von menschlichem Handeln und göttlichem Wirken.

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23. Zur folgenden Interpretation vgl. Willibald Sandler, „... da hab ich dich getragen." Auf göttlicher Spurensuche im eigenen Leben, in: Gott finden in allen Dingen. Theologie und Spiritualität (theologische trends Band 7). Hg. Chr. Kanzian, Thaur: Thaur Druck- und Verlagshaus 1998, 168-183, besonders 177-181.

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24. Vgl. das Doppelgleichnis vom Schatz und von der Perle: Mt 13,44-46.

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25. R. Schwager, J. Niewiadomski u.a., Dramatische Theologie als Forschungsprogramm, in: ZkTh 118 (1996) 317-344, sowie im Internet: http://info.uibk.ac.at/c/c2/theol/leseraum/artikel/ 9.html.

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26. Ebd.

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27. Gewiss könnte man die Logik und die Wirkung von Jesu Verteidigung der Ehebrecherin oder von seiner raffinierten Antwort auf die Fangfrage mit der Steuermünze analysieren und für analoge Situationen gewinnbringend einsetzen. Aber es würde dann doch nur die strategische Perversion eines spontan freiheitsstiftenden Handelns daraus.

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28. Zur Grundlegung seiner Systemtheorie greift Luhmann auf Selbstorganisationstheorien autopoietischer Systeme zurück. Die vorhin angesprochene konsequente Rückführung auf Binärcodes ist formal grundgelegt im logischen Kalkül von George Spencer Brown. Zu beidem vgl. Guggenberger (s.Anm. 3) 20-43.

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29. In einer umfangreicheren Erstfassung dieses Aufsatzes habe ich das hier nur Angedeutete ausführlicher behandelt. Das soll anderenorts nachgeholt werden.

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30. Zitiert nach Leo Zirker, Die Bergpredigt. Das Wort Gottes neu hören. München: Don Bosco Verlag 1983, 79.

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31. Der Begriff Analogie bezieht sich zunächst auf die Eigenart eines Begriffs, dass er in der Anwendung auf verschiedene Seiende einen wesentlichen Sinnwandel erfährt, ohne jedoch die Einheit des Begriffsgehalts zu verlieren. Insofern steht er in der Mitte zwischen den beiden Begriffen „univok" und „äquivok". Über diese sprachtheoretische Grundunterscheidung hinaus zielt der Begriff philosophisch - insbesondere in der Reflexion auf eine „analogia entis" - auf ursprüngliche Bedeutungseinheiten, die erst nachträglich und immer nur künstlich und unvollständig in univoke Begriffe gefasst werden können. Bezieht sich das Fragen des Menschen nicht bloß auf einen von ihm verschiedenen Seinsbereich, sondern begreift ihn selber und seinen Fragevollzug mit ein - wie es für Philosophie und für Theologie aber auch für weltanschauliche Fragestellungen charakteristisch ist - so ist die dafür allein angemessene Sprache unhintergehbar analog.

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32. Vgl. die Rede Jesu in Lk 19,18: „Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Einen."

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33. Man denke sich einen Richter, der bei jeder Verurteilung Skrupel bekommt.

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34. Die hier skizzierte rekursive Annäherung an ein ideales Gute hat eine große Nähe zum Analogieverständnis Anselms von Canterbury, mit seiner analogen Bestimmung Gottes bzw. göttlicher Eigenschaften als dasjenige, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann: „id quo maius cogitari nequit").

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35. Die Beispiele von Jesu Systemdurchbrechungen hätten auch anders interpretiert werden können. Was, wenn nicht eine solche - allerdings argumentativ erhärtbare - hermeneutische Vorentscheidung hindert die Annahme, dass Jesus nicht doch in der Szene mit der Ehebrecherin den ihm unsympathischen Schriftgelehrten „eins ausgewischt" hat?

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36. Idealtypisch ist diese Unterscheidung, weil im konkreten Vollzug auch Sozial- und Humanwissenschaften nicht einfach auf analoge Rede, und nicht einmal auf geschichtlich realisierte Hoffnungsgestalten verzichten. Hier ist es eine weitere zentrale Aufgabe der Theologie im Dialog mit den Sozialwissenschaften, deren „Kryptotheologien" kritisch aufzuzeigen.

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