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Zerstreut in die Weite der Welt. Diasporatheologische Zeitreise
(Karl Rahner 1954 – Lumen gentium 1964 – Glauben heute 1974)

Autor:Bauer Christian
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Vortrag an der Katholischen Akademie Berlin (21. März 2014)
Datum:2014-05-10

Inhalt

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Augsburg, im Mai 2012. Bitte folgen Sie mir für einen Moment auf den Augsburger Domplatz. Wir befinden uns gerade auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die vom neuen Bischof angestoßenen pastoralen Strukturreformen. Die Menschen geben dem gerade aus Sachsen nach Augsburg gekommenen Bischof deutlich zu verstehen, dass er nicht einfach von seiner bisherigen ostdeutschen Kirchenerfahrung auf die Verhältnisse im katholischen Bayern schließen kann. Ein Plakat bringt die Stimmung auf den Punkt: „Wir sind keine Diaspora.“ Aber, bei aller Sympathie für das Anliegen, das hinter dieser Aussage steht: Stimmt das wirklich? Machen wir uns nicht etwas vor, wenn wir nicht davon ausgehen, dass sich auch die Kirche von Augsburg auf einem Weg in die gesellschaftliche Minderheit befindet? Und zwar selbst dann noch, wenn sich die Forderungen aller kirchlichen Reformgruppen eines Tages erfüllen sollten? Alle verfügbaren religionssoziologischen Daten jedenfalls weisen in Richtung einer weltgeschichtlichen Drift in Richtung Minderheitenkirche – daran wird vermutlich weder eine Neuevangelisierung von oben und noch eine Pfarrerinitiative von unten etwas ändern.

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Vergleicht man diese empirisch belegbare Tatsache mit der Aussage des erwähnten Diaspora-Plakats, so wird deutlich, wie weit statistische und gefühlte Wirklichkeit, objektiv Zählbares und subjektiv Erzählbares bisweilen auseinandertreten. Auslöser für diese Differenz ist, so Hans-Joachim Höhn, eine „Brechung und Zerlegung religiöser Gehalte beim Auftreffen auf säkulare Felder“. Michael Ebertz bezieht sich indirekt auf die etymologische Wurzel von ‚Diaspora´ (von griech. dia-speírein = zerstreuen), wenn er in diesem Zusammenhang von einem „Dispersionsprozess“ ehedem kirchengebundener Religiosität spricht. Aber nicht nur Kirche und Religion, sondern auch unsere ganze Gesellschaft ist längst ‚Diaspora´, ein zersprengtes Ganzes, dessen soziale Fliehkräfte wirken längst bis weit ins Individuelle hinein: Wer bin ich – und wenn ja wie viele? Vor diesem soziologischen Hintergrund möchte ich nun mit Ihnen eine diasporatheologische Zeitreise unternehmen, die sich in Zehnjahresschritten einigen Jubiläen des Jahres 2014 entlanghangelt. Ihre Stationen sind die Jahre 1954, 1964 und 1974 – um dann abschließend einen Ausblick in die Zukunft des Christentums zu wagen. Dabei möchte ich ihnen einige Fundstücke aus dem Diskursarchiv der Theologie im 20. Jahrhundert anbieten. Beginnen wir im Jahr 1954.

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1. STATION: Karl Rahner 1954

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Im Jahr 1954 hat Karl Rahner, der wohl wichtigste katholische Theologe des 20. Jahrhunderts, einen berühmten Artikel mit einem Rahnertypisch etwas komplizierten Titel veröffentlicht: Theologische Deutung derPosition des Christen in der modernen Welt. Trotz der sechzig Jahre, die seit seiner Erstveröffentlichung vergangen sind, atmet dieser Text mehr Aktualität und Frische als das meiste, was gegenwärtig in der Pastoraltheologie zu lesen ist. Rahner beschreibt die Lage der Kirche darin folgendermaßen: „Die christliche Situation der Gegenwart ist […] charakterisierbar als Diaspora […]. […] Die Diasporasituation ist für uns heute ein […] heilsgeschichtliches Muss, d. h. wir haben diese Diasporasituation nicht nur als leider Gottes bestehend festzustellen, sondern wir können sie als von Gott als Muss […] gewollt anerkennen und daraus unbefangen Konsequenzen ziehen. […] Wir haben also durchaus das Recht, ja fast die Pflicht, damit zu rechnen und nicht nur verstört zur Kenntnis zu nehmen, dass die Form des öffentlichen Daseins der Kirche sich wandelt. Dass die Kirche überall Diasporakirche wird, Kirche unter vielen Nichtchristen.“

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Rahner zufolge ist es der geschichtliche Normalfall von Kirche, in dispersione zu leben: in einer gottgewollten Zerstreuung in die Welt. Diaspora ist damit kein konfessioneller Begriff mehr, sondern längst ein ökumenischer. Denn er verweist auf eine gesellschaftliche Minderheitensituation, die inzwischen von allen christlichen Kirchen geteilt wird. Für das ‚Heilige Land Tirol´ heißt das beispielsweise, dass Karl Rahner zufolge ein bloßes „Trachtenvereinschristentum“ mit seiner volkstümlichen „Steckerlgotik und anderem kleinbürgerlich reaktionären Material“ wohl nur noch als religiöse Folklore eine Zukunft hat. Von dieser Zukunftsprognose ausgehend, gewinnt Rahner dann auch ein Kriterium für die Auswahl von kirchlichem Führungspersonal: „Wenn man in nächster Zeit […] einen tüchtigen Pfarrer oder Bischof suchen will, müsste man nicht so sehr fragen, ob der Kandidat sich reibungslos in den herkömmlichen Betrieb der Kirche eingefügt hat […], man müsste vielmehr fragen, ob es ihm schon einmal gelungen sei, sich bei ‚Neuheiden´ Gehör zu verschaffen […]. Der beste Missionar in einer nichtchristlichen Diasporasituation wäre der beste Kandidat für ein kirchliches Amt, auch wenn er bisher vielleicht sehr unkonventionell und für manche bloß traditionelle Christen ‚anstößig´ gewirkt hat.“

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2. STATION: Lumen gentium 1964

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Am 21. November 1964 wurde vom Zweiten Vatikanum Lumen gentium beschlossen, die Dogmatische Konstitution des Konzils über die Kirche. Darin findet sich eine diasporatheologisch höchst einschlägige Nummer, deren Vorhandensein wir Günther Wassilowsky zufolge letztlich Karl Rahner verdanken. Über den Fuldaer Weihbischof Schick brachte er nämlich folgende Passage in den Text, in der es über die „örtlichen Versammlungen der Gläubigen“ (LG 26), die congregationes locales fidelium heißt: „In diesen Gemeinden ist, auch wenn sie oft klein und arm sind oder in der Diaspora leben, Christus selbst präsent […].“ (LG 26). Karl Rahner kommentiert in einem Artikel Über die Gegenwart Christi in der Diasporagemeinde: „[Wir] […] dürfen, zumal im Blick auf die andrängende Zukunft der Kirche, von der auch als ganzer […] die hier […] gegebene Charakteristik der Armut, Kleinheit und Diasporasituation gelten wird, ruhig und unbefangen den [hier] […] gegebenen Ansatz sich entfalten lassen und sagen: Die neue, zukünftige Kirchenerfahrung wird sich in diesem Text einmal antizipiert finden. […]. Hier wird der Christ von morgen begreifen, was die Kirche ist.“

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Rahner fragt weiter, für wen Christus in den kleinen und armen Diasporagemeinden einer Kirche der Zukunft denn nun präsent sei: „Auf diese Frage ist gewiss zunächst zu antworten: Christus ist […] für die Gemeinde […] selbst heilsschaffend gegenwärtig. […] Aber es wäre doch letztlich gegen den ganzen Grundduktus der Kirchenkonstitution, würde man nur antworten: In der Gemeinde […] ist Christus [nur] für die Kirche […] heilschaffend präsent. Es gehört ja zu den Grundüberzeugungen der konziliaren Ekklesiologie, daß die Kirche das ‚Sakrament´ des Heiles der Welt ist. Das heißt aber doch nichts anderes als: sie macht Christus […] als das Heil der Welt für die Welt gegenwärtig.“ Die Kirche ist nämlich auch in ihren kleinen und armen Versammlungen in der Diaspora ein signum visibile invisibilis gratiae: ein sichtbares Zeichen für jene unsichtbare Gnade Gottes, die auf anonyme und implizite Weise auch außerhalb der Kirchenmauern wirkt. In einem Artikel Über dieZukunft der Gemeinden spricht Rahner von entsprechenden „Oasen in einer nichtchristlichen Welt“: „Das Zeichen ist nie einfach identisch mit den Bezeichneten; die Kirche ist das Zeichen für das Heil der Welt – und das Heil erstreckt sich natürlich weit über dieses sakramentale Zeichen hinaus. Diese Vorstellung vom Wesen der Kirche können wir auch auf eine einzelne Gemeinde anwenden […]. Diese Gemeinde ist eine christliche Oase in einer Welt, die im Geheimen immer noch von Gottes Gnade erfüllt ist, […] sich aber […] [als Ganze] sehr profan […] ausnimmt. Darin ist die Gemeinde das sichtbare Heilszeichen, das Gott in dieser […] Welt aufgerichtet hat. Gott sagt durch diese Gemeinde: Hier in dieser Welt bin ich und bleibe ich mit meiner Gnade […].“

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3. STATION: Glaube heute 1974

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Von dieser Rahnerschen Entgrenzung einer heilssakramentalen Diasporakirche ausgehend, lohnt ein kurzer Seitenblick auf den jungen Joseph Ratzinger mit seiner Ekklesiologie der Stellvertretung. In einem Artikel zum Eucharistischen Weltkongress von 1960 schließt er zunächst an Rahner an: „Man möchte sagen: die verborgene Kraft der Gnade kann überall wirksam werden und tut dies auch. Aber Gnade […] soll vor der Öffentlichkeit der Welt […] zeichenhaft aufgerichtet werden. Diese öffentliche Darstellung des Verborgenen […] gehört zum Wesen der Kirche als Zeichen. […] Das Motto des Kongresses ‚Pro mundi vita´ […] verzichtet […] auf eine Totaldeckung von Kirche und Welt und verweist stattdessen auf das Prinzip der Stellvertretung […].“ Ratzinger resümiert unter Stichwort ‚Stellvertretung´ im Handbuch Theologischer Grundbegriffe: „Um die Rettung aller sein zu können, muss sich die Kirche nicht […] mit allen decken, sondern eher macht dies ihr Wesen aus, dass sie […] die Schar der ‚Wenigen´ darstellt, durch die Gott ‚die Vielen´ retten will. Ihr Dienst wird zwar nicht von allen, wohl aber für alle getan. [Und, so wäre im Sinne der Pastoralkonstitution hinzuzufügen: mit allen.]“

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Diese Einsichten Rahners und Ratzingers stehen auch im Hintergrund der Dresdener Pastoralsynode der katholischen Kirche in der DDR. Mit Blick auf Karl Rahner heißt es 1974 in dem grandiosen Synodenbeschluss Glaube heute: „Die katholische Kirche in der DDR ist eine Diasporakirche. […] Durch gläubige Christen in der Diaspora wird der Geist des Evangeliums in einer nichtchristlichen Umwelt gegenwärtig und wirksam. Darüber hinaus lässt ein Leben unter Nichtchristen erkennen, dass der Geist Gottes auch außerhalb der christlichen Gemeinden wirkt.“ Soweit im Horizont von Rahners Diasporatheologie, es folgt ein stärker von Ratzinger inspirierter Abschnitt: „Wenn wir uns als kleine Gemeinde erleben, hilft uns der Glaube an die Bedeutung des EINEN für alle, einzelner für viele, kleiner Gemeinschaften für große Gebiete […]. Die […] Gemeinden [werden] ihrer Situation erst dann gerecht, wenn sie sich nicht abschließen, sondern in Austausch mit anderen stehen, mit ihnen Mensch und für sie Christ sind. Für unser Selbstverständnis in der Diaspora ist der Begriff der Stellvertretung von großer Bedeutung.“

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Diese Aussagen gelten nicht nur für die Minderheitenkirche in der ehemaligen DDR. Auch der Innsbrucker Bischof Manfred Scheuer beispielsweise betont mit Blick auf die Zukunft der Kirche von Tirol: „Sendung und Stellvertretung werden immer mehr zu Schlüsselworten der Kirche, die nicht mehr alle umfasst. Unsere Sendung, unsere Stellvertretung ist Dienst an der Welt […]. Egal, ob wir viele oder wenige sind – wir stehen für viele. Stellvertretung bewahrt in uns eine Haltung der Offenheit und schützt davor, dass wir uns in eine Enklave zurückziehen.“ Damit bin ich nun auch schon bei meinem letzten Punkt:

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4. Ausblick in die Zukunft

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Eine christliche Kirche der Zukunft wird so klein sein, dass sie wieder in ein Wohnzimmer passt – ihre Sendung aber bleibt so umfassend, dass die ganze Welt dafür nicht groß genug ist. Die Jugendbuchreihe Kirchengeschichte in Bildern schließt mit dem entsprechenden Zukunftsbild eines abendlichen Herrenmahls inmitten einer Hochhaussiedlung. Darauf ist eine in warmen Farben erleuchtete Wohnung zu sehen, die in einem deutlichen Kontrast zu ihrer dunklen Umwelt steht. Zugleich finden sich aber, wenn man genau hinsieht, auch außerhalb dieser christlichen Wohnung Lichter, die fast ebenso hell in die Nacht hineinleuchten. Im Außen ihrer selbst kann eine Diasporakirche der Zukunft einiges entdecken: faszinierende Menschen, spannende Geschichten, aufrichtige Hingabe und am allermeisten – ihren eigenen Gott. Hans Urs von Balthasar, ein weiterer ‚Jahrhunderttheologe´, beschreibt die entsprechende Grundsituation einer in die Welt hinein zerstreuten Kirche von morgen: „Die Kirche lebt in kleinen Strahlungszentren, die wie kleine Lichter in der Nacht über die Welt verstreut sind. [Was dort] […] von der kleinen Herde [als Liebe Gottes erfahren] […] wird, kann von ihr […] hinausgetragen werden in die nichtchristliche Welt. In diesem Hinaustragen aber wird der Christ die […] Erfahrung machen, dass das, was er bringt, meistens in irgendeiner Weise schon vor ihm dort angekommen ist […]. “ In Schleifung der Bastionen ist zu lesen: „[Es geht um ein] […] Herabsteigen der Kirche in die Fühlung mit der Welt […]. […] Sinkende Mauern können vieles begraben, das durch sie geschützt zu leben schien; aber die Fühlung mit dem Raum, die sich herstellt, ist größer.“

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Es ist der Preis dieser neuen ‚Weltfühligkeit´ der Kirche, dass sie Balthasar zufolge nun „im letzten keine Mauern mehr um sich“ hat und daher auch „wehrlos offen zur Welt“ steht. Zum Ende komme ich daher nun mit einem Schlussbild, in dem sich vieles von dem noch einmal abschließend verdichten lässt, was für ein Überleben der Kirche in der Diaspora von morgen wichtig sein dürfte. Mit einem ganz profanen Werbeplakat nämlich, auf dem ein großes deutsches Outdoor-Unternehmen etwas zu sein verspricht, was auch eine zukünftige Diasporakirche sein dürfte: nicht nur Drinnen daheim, sondern auch Draußen zuhause. Und sie kann der fremdprophetischen Verheißung einer Werbebotschaft dieses Unternehmens trauen, die fast wortgleich einem Ratschlag Rahners, in seinem bereits zitierten Beitrag über die Position des Christen in der modernen Welt entspricht: „Du musst nicht viel mitnehmen, aber das Richtige.“

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