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„Bericht zur Lage des Glaubens“ aus der Perspektive des 1. Petrusbriefes
(Vortrag von Bischof em. Joachim Wanke, Erfurt, beim dies academicus der Katholisch-Theologischen Fakultät Innsbruck und dem Diözesantag des Bistums Innsbruck am 29. 4 2014)

Autor:Wanke Joachim
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Vortrag von Bischof em. Joachim Wanke, Erfurt, beim dies academicus der Katholisch-Theologischen Fakultät Innsbruck und dem Diözesantag des Bistums Innsbruck am 29. 4 2014.
Datum:2014-05-06

Inhalt

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Hier in Innsbruck, im „Heiligen Land Tirol“ einen Bischof aus der Diaspora des Nordens als Redner einzuladen, ist ein gewisses Risiko, zumal wenn es um das Thema gehen soll: Wie wird es mit unserer Kirche weitergehen? Die Einladung an mich, darüber zu sprechen, hat Bischof Manfred bzw. die Theologische Fakultät zu verantworten. Ich gebe freilich zu, dass ich die Einladung gern angenommen habe, fühle ich mich doch in dieser Stadt und diesem Bistum und seinen Bischöfen in vieler Hinsicht dankbar verbunden.

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Ich bin bei meinem Vortrag auf der sicheren Seite, wenn ich Bezug auf die Heilige Schrift nehme. Sie ist und bleibt ja zu allen Zeiten die Magna Charta für die Kirche Jesu Christi und jeden einzelnen Christenmenschen. Ich versuche einmal – so wie hin und wieder Politiker einen „Bericht zur Lage der Nation“ geben – einen „Bericht zur Lage des Glaubens“ zu geben, freilich aus biblischer Perspektive.

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So kann da nicht vordergründig von Fragen und Erwartungen die Rede sein, die in unseren Ortskirchen derzeit aktuell im Raum stehen, etwa diese: die Zölibatsfrage, die Stellung der geschieden Wiederverheirateten in der Kirche, der Streit um den Umbau der Pastoralstrukturen oder gar die Kurienreform oder die Frage, warum es in der Ökumene nicht schneller vorangeht. Doch möchte ich bei meinem „Bericht zur Lage des Glaubens“ für mich in Anspruch nehmen, erkennbar zu machen, wohin uns der Geist Gottes heute drängen will – auch bei der Lösung dieser und anderer kirchlicher Probleme, die derzeit anstehen.

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Die Kirche steht hierzulande mitten in einer neuen Inkulturation des Evangeliums in eine sich rasant verändernden Gesellschaft hinein. Dabei wird sich auch das „Kleid“ der Kirche verändern: ihre Gestalt, ihre Strukturen, ihre Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit, ja auch manche bislang fraglose Selbstverständlichkeit in der Pastoral. Die Kirche wächst gleichsam aus alten „Kleidern“ heraus, Sie muss sich neu „einkleiden“. Doch dabei muss sie identisch mit sich selbst bleiben, mit ihren Anfängen, mit dem Geist ihrer „Verfassung“, der ja kein beliebiger Geist ist, sondern der Geist, den ihr der Herr selbst eingestiftet hat.

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Die derzeitigen Krisenphänomene in unseren Ortskirchen, bis in die Gemeinden und in das Leben der einzelnen Gläubigen hinein, sind Hinweise auf diese anstehenden Veränderungen. Ich interpretiere sie als „Wachstumsschmerzen“. Wachstum, auch qualitatives Wachstum „nach innen“, bringt Veränderungen mit sich, und Veränderungen bereiten Schmerzen. Sie sollten als Herausforderungen verstanden und angenommen werden. Dabei braucht es geistliche Haltungen, die sich am Evangelium selbst messen lassen müssen. In der Heiligen Schrift sind Einsichten zu entdecken, von denen ich meine, dass sie auch der Kirche und dem Christen unserer Tage beim Aufbruch in neue Zeiten Orientierung geben können.

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Ich schaue heute einmal vornehmlich auf den 1. Petrusbrief. Er spricht zu Christen, die es ebenfalls nicht einfach haben. Sie leben am Ende des 1. Jahrhunderts in einer heidnisch geprägten Mehrheitsgesellschaft. Es gibt war keine systematischen Christenverfolgungen, aber offensichtlich gibt es Verleumdungen, Beschimpfungen, allerlei Schikanen und Benachteiligungen, die das Leben als Christ in der Öffentlichkeit zu einem „Spießrutenlaufen“ machen. Vor allem war es wohl eine allgemeine herablassende, ja spöttische Behandlung der Christen und ihrer merkwürdigen Lehre, die dazu geeignet war, unter ihnen Inferioritätsgefühle zu entwickeln und sie in der eigenen Bindung an das Christusbekenntnis zu verunsichern.

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Wir Katholiken in dem früheren Ideologiestaat DDR haben uns in unserer damaligen Situation, also in den Jahren vor 1989/90, in diesem Schreiben gut wiedergefunden. Uns Christen wurde damals bedeutet, dass wir angesichts des unaufhaltsamen Voranschreitens der Gesellschaft hin zu einem alle beglückenden Sozialismus, wie ihn die Staatspartei propagierte, rettungslos rückschrittlich waren, gleichsam „die letzten der Mohikaner“. Und entsprechend wurden wir auch behandelt.

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In der neueren Exegese des 1 Petr ist man geneigt, nicht so sehr nach konkreten Gemeinden Ausschau zu halten, die der Verfasser bei seinem Schreiben vor Augen haben könnte. Der biblische Autor hat seinen Brief wohl mehr als Zirkularschreiben verstanden. Er will seine grundsätzliche Sicht des christlichen Glaubens entfalten und daraus Schlussfolgerungen für die Adressaten ziehen. Sein Brief ist zum einen so etwas wie ein Art „Bericht zur Lage des Glaubens damals“ und zum anderen ein ermunternder Zuspruch für die Zukunft mit diversen Hinweisen, welche guten Gründe für ein Durchhalten im Glauben sprechen und zu welcher Hoffnung uns dieser Glaube befähigt.

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Darin ist übrigens der 1. Petrusbrief mit der wohl zeitnah geschriebenen Geheimen Offenbarung des Johannes vergleichbar. Deren Verfasser verfolgt – freilich mit völlig anderen Stilmitteln – die gleiche Absicht: müde und schwach gewordenen Christen und Gemeinden Mut zum Glaubensbekenntnis zu machen, ihnen ein „demütiges Selbstbewusstsein“ einzupflanzen, mit dessen Hilfe sie die Gegenwart besser verstehen und die Zukunft gelassener erwarten können.

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Mein Anliegen ist ähnlich. Ich möchte aus dem „Bericht zur Lage des Glaubens damals“ die Lage des Glaubens heute für unsere Gegenwart tiefer erschließen. Denn es wird sich zeigen, dass unsere Glaubenssituation sich jener der Christen und Gemeinden damals in zentralen Fragen ähnelt. Es geht also zunächst um ein Verstehen – um im tieferen Verstehen besser die sich abzeichnende Zukunft bestehen bzw. sogar gestalten zu können. – Was gilt es aus 1 Petr zu lernen?

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Vor all dem, was wir beim Aufbruch in die Zukunft möglichweise tun können und sollen, was es auf kluge Weise zu reformieren und neu zu strukturieren gilt – in Rom, Innsbruck und anderswo (Stichworte hatte ich soeben genannt) – muss es uns, wie dem Verfasser des 1 Petr damals, um eine vertiefte Einsicht in die „Lage des Glaubens“ gehen, um seine Eigenart, um das, was er uns zumutet, aber auch was er in uns möglicherweise an Kräften freisetzt. Bei unserem Thema sollte es um die Einsicht gehen, dass es Glaube und Kirche ohne gesellschaftliche Fremdheit, ohne Angefochtensein nicht geben kann.

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Manche werden einwenden: Damals am Ende des ersten Jahrhunderts standen die Christen und christlichen Gemeinden noch am Anfang einer langen kirchengeschichtlichen und natürlich auch kulturellen Entwicklung. Sie waren vermutlich Christen erst in der dritten oder vierten Generation. Wir dagegen überblicken ca. 2000 Jahre Christentumsgeschichte mit all dem, was darin geschehen ist, was christlicher Glaube und konkretes Kirche-Sein an Entwicklungen, Ausprägungen und Gestaltungskräften freigesetzt bzw. an Erfahrungen gewonnen haben.

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Und zudem (wobei ich dabei schon etwas zögere, dies mutig zu behaupten): Wir leben zumindest hier im Land Tirol nicht als Christen in einer heidnischen Mehrheitsgesellschaft, vielleicht eher in einer beginnenden „postchristlichen“ Gesellschaft. Hierzulande werden die Gläubigen nicht diskriminiert. Kirche ist – sagen wir es einmal vorsichtig – immer noch ein gewichtiger gesellschaftlicher Gestaltungsfaktor und Träger vieler Lebensvollzüge, die der Autor des 1 Petr nicht erahnen konnte. Und viele hier in diesem Raum werden sagen: Das muss auch so bleiben! Das sollten wir nicht aufgeben: dass Kinder in christlich geprägte Kindergärten und Schulen gehen können, dass auf unseren Bergspitzen und an unseren Wegen ein Kreuzbild grüßt, dass Frauen und Männer in christlichen Verbänden und Parteien sich für den Erhalt und die Umsetzung christlicher Wertüberzeugungen in der Gesellschaft einsetzen. Also: Ist die „Lage des Glaubens und der Kirche“ heute nicht doch ein wenig anders, positiver als damals?

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Bei all dem, was heutzutage anders ist als in frühchristlichen Zeiten und was es zu würdigen und wohl auch in vieler Hinsicht nach Kräften zu erhalten gilt, dürfte freilich der Verfasser des 1 Petr eine grundsätzlich andere Sicht von der „Lage des Glaubens und der Kirche“ haben als wir. Er ist der Ansicht, dass das Angefochten-Sein, das „Diaspora-Dasein“ (was sich nicht unbedingt an Zahlen festmachen muss) zum bleibenden Wesen der Kirche und des Glaubens gehört.

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Das ist sogar eines der wichtigen Argumente des Briefschreibers, mit dem er die müde und schwach gewordenen Mitchristen aufrichten will: Das Angefochten-Sein im Glauben und die gesellschaftlich Bedrängnisse, unter denen die Gemeinden leide, gehöre – so meint er – zum Normalzustand der christlichen Existenz und werde sich auch in Zukunft nicht ändern, auch wenn die Mehrheitsverhältnisse sich möglicherweise umdrehen und die Nichtglaubenden zur Minderheit würden. Diesbezüglich deutet der Briefautor zumindest keine Erwartungen an. Auch flüchtet er nicht, was eigentlich nahe läge, in eine Intensivierung einer Naherwartung des Endgerichts. Es gibt auch keine Aufforderungen, zwecks Erleichterung der Situation für die Christen kräftig unter den Heiden zu missionieren oder auf einen „Marsch durch die Institutionen“ zu setzen oder gar auf ein christliches Kaiserhaus als Lösung aller Probleme zu hoffen, um so endlich ungestört Christ sein zu können, Glied einer Kirche, die sich gegenüber dem Heidentum in einer besseren Ausgangslage befände.

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Nein, nichts von alledem. Der Verfasser sagt: Was ihr derzeit erfahrt, ist der Normalzustand christlicher, kirchlicher Existenz, auch morgen. Er richtet ja sein Schreiben an die „Erwählten, die in der Fremde der Zerstreuung (Diapora) … leben“ (1 Petr 1,1). Und das meint der Verfasser grundsätzlich, nicht nur im Blick auf die Tatsache, dass die Christen damals nur eine zahlenmäßig unbedeutende Minderheit in der Gesellschaft bildeten. Dass die Briefadressaten als „Fremde und Gäste in dieser Welt“ (1 Petr 2,11) angesprochen werden, hat einen anderen Grund: Sie distanzieren sich vom Verhalten ihrer Mitbürger. „Darüber sind sie empört und sie lästern, weil ihr euch nicht mehr mit treiben lasst im Strom der Leidenschaften“ (1 Petr 4,41). Deshalb, und nur deshalb gilt: „Geliebte, lasst euch durch die Feuersglut, die zu eurer Prüfung über euch gekommen ist, nicht verwirren, als ob euch etwas Ungewöhnliches zustoße“ (1 Petr 4,12). Benachteiligungen und Schikanen, gesellschaftliche Ausgrenzung, Fremdheitserfahrungen sind Normalzustände des Christseins. Norbert Brox schreibt: „Aus der Perspektive des 1 Petr kommt die Möglichkeit eines reichsweit anerkannten, mit Kult und Ethos in gesellschaftliche Reputation gelangten Christentums nicht in den Blick“.1

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Das ist also eine merkwürdige, ja befremdliche Auskunft unseres Briefautors: Das Leid, die Bedrängnis gehören wesenhaft zum Christ-Sein, zum Kirche-Sein. Sie erwachsen aus dem Anders-Sein, aus prinzipieller Fremdheit angesichts der Grundgepflogenheiten der übrigen Zeitgenossen. Es wird in 1 Petr nichts schön geredet. Der Verfasser weiß, dass dies „Leiden“ mit sich bringt, das weh tut. Aber solches Leiden sei eben konstitutiv für den Glauben, also zu ertragen.

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Unsere „Leiden“ sind heutzutage anderer Art. Es gibt natürlich auch heute, z.T. zunehmend, in manchen Weltregionen solche gesellschaftliche, religiöse oder weltanschauliche Bedrängnisse von Christen wie damals (vgl. die erwähnte DDR-Situation). Unsere „Leiderfahrungen“ heute könnte man eher so umschreiben: Für Bischöfe, Priester und viele Gläubige z.B. ist es sehr schmerzhaft zu sehen, dass sich die bisher gewohnten pastoralen Strukturen aus den verschiedensten Gründen ausdünnen und viele Christen die Präsenz von Kirche vor Ort schmerzlich vermissen. Oder noch tiefer ansetzend: Es tut manchmal richtig weh, sich im heutigen weltanschaulichen und religiösen Pluralismus als Christ zu behaupten, als junger Christ etwa im Universitätsmilieu, bei gleichaltrigen Freunden, wo er in Gefahr steht, ob seiner religiösen Lebensführung als hinterwäldlerisch, als ein wenig altmodisch belächelt zu werden. Oder, wieder eine Anfechtung besonders für die ältere Generation: es aushalten zu müssen, dass die jüngere Generation, die eigenen Kinder und Kindeskinder viele Selbstverständlichkeiten früherer kirchlicher Praxis nicht mehr mittragen. Oder gar der neueste Verdacht, der uns aus der Gesellschaft entgegenschlägt: dass ein Christ, der versucht, einigermaßen konsequent sein Christsein zu leben, als Fundamentalist, ja als Fanatiker angesehen zu werden, als eine Art Taliban oder zumindest als einer der im Begriff steht, ein solcher zu werden.

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„Wundert euch nicht, dass euch dies zustößt!“ Hier merken wir, um welche Dimension unseres Christseins es in Gegenwart und wohl auch in Zukunft geht. Es werden für heutige Christen verstärkt die in 1 Petr angesprochen Fremdheitserfahrungen in den Blick treten gegenüber den fraglosen Selbstverständlichkeiten, in dem man sich privat und öffentlich im Gottesglauben und in kirchlicher Alltagspraxis beheimatet erfuhr. Der Riss geht heute durch unsere meist noch „christentümlich“ geprägte Gesellschaft, durch unsere Gemeinden, unsere Familien, ja durch das eigene Herz.

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Und vorsichtshalber sei hinzugefügt, dass diese Anfechtungen im Gottesglauben und in der Art unseres Kirche-Seins nicht nur von außen kommen, sondern auch aus unserer eigenen Mitte, durch schuldhaftes Versagen Einzelner, durch schuldhaftes Verhalten der Kirche insgesamt, durch bitteren, ehrverletzenden Streit um Reformstrategien, die je nach eigener Sicht eine angeblich bessere Zukunft für die Kirche garantieren würden.

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Vermutlich waren die sog. Nikolaiten in den Sendschreiben der Geheimen Offenbarung des Johannes (vgl. Offb 2,6.15)in gewisser Hinsicht eine Art von „Kompromiss-Christen“, die sich den gesellschaftlichen Zwängen, die der damals herrschende religiöse Kaiserkult für den Alltag der Christen mit sich brachte, durch moderate Anpassungen an gesellschaftliche Gepflogenheiten, gleichsam durch einige „Marscherleichterungen“ zu entziehen suchten, etwa durch das Streuen einiger Weihrauchkörner bei öffentlichen Opfern.

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Und solche heftigen Spannungen innerhalb der Kirche zwischen „Anpasslern“ und „Bewahrern“, zwischen „Fortschrittlichen“ und „Konservativen“ sind ja auch heute mit Händen zu greifen, bis hin zu gegenseitigen Verdächtigungen und Verketzerungen. Gerade auch als Bischof leide ich darunter: Man wird in diverse Schubladen eingeordnet, mit einem Etikett versehen, vermutlich, um nicht mehr genauer auf die Argumente hören zu müssen. In diesem Zusammenhang übrigens ist erstaunlich, dass 1 Petr auf solche Polemiken verzichtet. Sie sind ihm wohl im Blick auf seine Anliegen nicht „zielführend“ genug.

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Also: In der Kirche aufbrechen – im Wissen darum, dass der gelebte Gottesglaube uns der Welt, die Gott nicht kennt, „entfremdet“. Auch im Tirol der Zukunft, auch in einer aufs modernste erneuerten und durchreformierten Kirche bleibt der Glaube und eine auf den Himmel verweisende Kirche eine Herausforderung. Solcher Glaube verlangt Tapferkeit und Entschiedenheit – und Mut, in letzter Instanz doch auf den „Himmel Gottes“ zu setzen, auch wenn man dabei belächelt wird. - Was ist Verfasser des 1 Petr angesichts dieser Lage wichtig?

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Oder mit seinen Worten: Die Erinnerung an den „Kaufpreis“, durch den wir geheiligt und gerettet sind, das Blut Christi.

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Was gibt der Verfasser den Christen in ihren damaligen Bedrängnissen als positive Lebens- und Glaubenshilfe für heute und morgen mit auf den Weg? Wir sahen: keine irdischen Tröstungen, keine innerweltlichen Rettungsstrategien. Er verweist vielmehr darauf, sich ständig der Rettungstat Christi zu erinnern, der dank seines Leidens uns den sicheren Weg zur Mitverherrlichung mit ihm eröffnet hat. Vor dieser Perspektive sei alles, was jetzt als Leid und Anfechtung erfahren wird, eine Bagatelle (1Petr 5,10b: „die ihr kurze Zeit leiden müsst“). Eine kühne, wieder sehr befremdliche Wegweisung!

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„Ihr wisst“, so schreibt der Autor, „dass ihr aus eurer nichtigen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht mit Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel. Er war schon vor Grundlegung der Welt dazu ausersehen, und euretwegen (!) ist er am Ende der Zeiten erschienen (1 Petr 1,18ff).

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Lassen wir diese Sätze einmal kurz auf uns wirken. Das Bild vom „Kaufpreis“ ist ein biblischer Topos (vgl. 1 Kor 6,20), vermutlich von der Erfahrung des antiken Sklavenloskaufs her gespeist. Das Bild soll das unaussprechliche Wunder des sacrum commercium, des heiligen Tausches zwischen Gott und dem Menschen etwas verständlicher machen. Welch hohes Selbstbewusstsein spricht sich in diesen Worten aus! Die ganze Heilsgeschichte – um „euretwillen“ (!) wurde sie von Gott ins Werk gesetzt.

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Ich spiele das einmal im Blick auf einen wirklich nachhaltigen kirchlichen Aufbruch ins Morgen an einem Beispiel durch. Nehmen wir einmal an: Da kommt ein Pfarrer (eine Gemeindereferentin, ein Gemeindereferent) zum ersten Mal in seine Gemeinde und sagt den Leuten: „Ich weiß, dass ihr von Gott erwählt seid!“ Ich habe mir zur eigenen Gewissensprüfung ein Wort des französischen Bischofs Albert Rouet notiert: „Wir Bischöfe sind Hirten, nicht Tierärzte“2. Dieses Wort könnte auch von Papst Franziskus stammen!

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Ein solches Vorverständnis eines Seelsorgers von seinen Mitchristen wäre m.E. eine befreiende Sicht auf mancherlei Problemstellungen in der Kirche heute. „Ich habe es mit von Gott Berufenen zu tun! Ich bin hier nicht der große Macher, der alles bewirken und am Leben erhalten muss. Ich darf damit rechnen, dass in diesen Gläubigen Gott selbst am Werk ist.“ So und ähnlich könnte die Grundhaltung beschrieben werden, in der wir miteinander umgehen sollten. Ich meine: Darin geschähe Aufbruch. Da eröffnet sich eine neue, sich am Evangelium orientierende Perspektive.

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Die erste Grundbotschaft unseres Glaubens ist die einer gemeinsamen Berufung und Erwählung – „aus Gnade“, wie Paulus sagt, „umsonst“, „ohne unser Verdienst“, „gratis“. Das sollte bei allen Fragen, die heute anstehen, nicht aus dem Blick geraten.

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Ich frage manchmal Leute, die erst als Erwachsene zum Gottesglauben und zur Taufe fanden, was sie zu diesem Schritt bewegt hat. Da höre ich z.B. solche Auskünfte: „Mir ist auf einmal klar geworden, dass ich kein Zufallsprodukt der Evolution bin.“ Oder: „ Ich bin dem bedrückenden Gefühl der Sinnlosigkeit meines Lebens entronnen.“3 Oder ich höre die Antwort: „Jetzt weiß ich: Da ist jemand, der mich ruft, der mich will, der sich für mich klein gemacht hat, damit ich groß sein kann.“ Oder, ein ganz steiler Satz: „Ich weiß auf einmal, dass ich geliebt bin!“

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Solche Erfahrungen, die oft schlecht in Worte zu fassen sind, gehören mit zu den Grundlagen christlicher Existenz: das Wissen um das Angerufen sein, nicht allein im Sinne einer existenziellen Betroffenheit, die zur Lebensänderung drängt, sondern zunächst einmal im Sinn einer tiefen Erfahrung der Geborgenheit. Dafür steht das biblische Wort: eklogé, Berufung, Erwählung. 1 Petr 2,9 heißt es: „Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht!“ Aus dieser Überzeugung zu leben ist tragendes Fundament des christlichen Glaubens. Nicht wir fangen mit Gott eine Beziehung an, sondern er fängt sie mit uns an. Er hat uns schon geliebt, als wir noch Sünder waren, sagt Paulus (vgl. Röm 5,8). Wie das irdisch-menschliche Leben sich nur durch Annahme und zuvorkommende Liebe entfalten und auf Dauer gelingen kann, so noch mehr das Leben der Gnade in uns: Gott kommt uns immer zuvor – auch in dem, was wir als Kirche tun und erneuern können. Eine solche Sicht des Glaubens ist entscheidend, ja letztlich wirklich „zielführend“ für unseren persönlichen Glaubensweg und für den der Kirche insgesamt.

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Nachhaltige Wandlung und Erneuerung erfolgt durch Annahme, durch das Signal: „Du darfst hier sein, so wie du bist. (Was nicht heißt, das du so bleiben sollst!)“ Das kennzeichnet eine Gemeinde, einen Seelsorger, dass er oder sie beispielsweise nicht von der kirchlich-katholischen Sozialisation als Maßstab ausgeht, die die meisten von uns in ihren Kinder- und Jugendtagen erfahren haben. Seelsorge fängt dort an, wo der mir begegnende konkrete Mensch derzeit steht – und zwar so, wie er ist, vielleicht nur mangelhaft kirchlich oder überhaupt nicht kirchlich, vielleicht nur sporadisch beim Sonntagsgottesdienst auftauchend, mit einer bunten Biographie, mit größeren und kleineren Brüchen und mit kirchlich nicht ganz stubenreinen Ecken. Kann er überhaupt das sein, was ich, was „die Kirche“ erwartet, was ich bei ihm nach absolviertem katholischem Kindergarten und längerer Ministrantenpraxis als verinnerlicht so selbstverständlich voraussetze?

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Eine solche empathische Betrachtungsweise muss unter uns wachsen, im Kern unserer Gemeinden, unserer Ortskirchen, bei uns Bischöfen und Priester. Es gilt dem Ärger, dem Frust und der teilweisen Erfolglosigkeit manchen kirchlichen Einsatzes standhalten zu lernen. Wir Seelsorger reagieren meist schnell resigniert: „Wir haben es eben mit Sündern zu tun!“ Aber wir sollten sofort hinzufügen: „Wir haben es mit von Gott geliebten Sündern zu tun!“ Wir haben es nicht mit „religiös Unmusikalischen“ zu tun, sondern mit Menschen, die auf die Melodie des Evangeliums durchaus reagieren– wenn sie denn diese nur bei mir und in unserer Mitte wahrnehmen.

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Oder gibt es keine Nächstenliebe unter den Ungetauften und Abständigen, den Kritischen und Distanzierten? Keine Selbstlosigkeit, kein Erbarmen, keine Hoffnung, keine Einsatzbereitschaft? Wir sind Helfer dabei, dass sie alle den Urheber dieser „Melodie“ erkennen können, den großen Komponisten, der auch in ihrem Leben schon etwas zum Klingen gebracht hat. Es gilt bei allen Veränderungen, die jetzt und in Zukunft anstehen, nicht zu vergessen: „Christus hat für euch gelitten … Seinen Spuren ist zu folgen“ ( 1 Petr, 2,21). Ihr könnt euch nicht selbst Heilung verschaffen, ruft uns 1 Petr zu. Durch Wunden, „durch seine Wunden seid ihr geheilt“ (1 Petr 2,24). So wird das, was wir im eigenen Herzen und am Leib der Kirche an Bedrängnissen erleiden, ertragbar. Ja, es wird uns zur Vergewisserung unserer Osterhoffnung. Und wie könnte es Aufbruch in der Kirche ohne Osterhoffnung geben?

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Wozu ermuntert der Briefautor weiter?

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Wieder eine merkwürdige Antwort angesichts der heute laut angemeldeten Reformwünsche: „Macht dies oder das – und alles wird sich schlagartig zum Guten ändern!“ Stimmt das wirklich? Oder bleibt nicht doch die Weisung des Briefautors wahr: Der Glaube an Christi Rettungstat setzt ohne Zweifel frei, aber diese Freisetzung ruft nach neuem Verhalten. Sie ruft zuerst und vor allem nach dem, was Gott will, nach Heiligung.

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Ein in der Seelsorge erfahrener Mitbruder, den ich sehr schätze, pflegt gern zu sagen: „Ach, mit dem Christentum ist das wirklich eine gute Sache! Wenn das nur nicht mit der Bekehrung wäre!“

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In 1 Petr 4,1f lesen wir: „Da Christus im Fleisch gelitten hat, wappnet auch ihr euch mit diesem Gedanken, denn wer im Fleisch gelitten hat, für den hat die Sünde ein Ende. Darum richtet euch, solange ihr noch auf Erden lebt, nicht mehr nach den menschlichen Begierden, sondern nach dem Willen Gottes.“

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Es geht darum, Gott zu gefallen. Es geht um unsere Heiligung. „Wie er, der euch berufen hat, heilig ist, so soll auch eure ganze Lebensführung heilig sein“ heißt es 1 Petr 1,15. Es geht um Treue in der Ehe, um ein Tätigsein in der Welt ohne Habsucht und betrügerische Geschäfte. Es geht um ein rechtschaffenes Leben, das den eigenen Aufgaben nachgeht und nicht schmarotzt auf Kosten anderer usw. Die Mahnungen des 1 Petr sind voll von solchen konkreten Vorgaben, die alle in sich – zugegeben von der zeitgenössischen Kultur durchtränkt – konkrete Umsetzungen der geforderten Umkehr und Lebensheiligung darstellen.

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Was bedeutet das für den Weg unserer Kirche? Es ist eine Illusion zu meinen, es gäbe ein Christentum zu verbilligten Preisen. Dem Ruf Christi folgen ohne Umkehrbereitschaft und immer neues ehrliches Bemühen, das eigene Leben zu heiligen, schafft nur Frust. Wir sind keine Wohlfühl-Religion, die meint, eine Versuchung am besten dadurch zu überwinden, dass man ihr möglichst schnell nachgibt. Und wir werden auch nie eine „Design-Kirche“ werden, in der jede Anstößigkeit wegreformiert ist.

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Diese Hoffnung redet uns der alte Adam zwar ständig ein, dazu jetzt noch vermehrt mit Hinweis darauf, dass das oder jenes ja alle machen und es deswegen wohl nicht so schlimm sein könne. „Also lasst uns die Ansprüche, die uns aus der Heiligen Schrift erkennbar werden, ein wenig herabzuschrauben!“ Dieser Versuchung dürfen wir nicht nachgeben – und besonders auch junge Menschen nicht. Es gälte ihnen zu helfen, die Messlatte bei sich selbst nicht zu niedrig anzulegen. Sie sollen durchaus wissen, dass es sich lohnt, sich auch hohen Maßstäben zu stellen. Aber eben: Auch immer neu beginnen zu dürfen!

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Was wir als Katholiken nicht brauchen, ist ein Rigorismus, der menschenfeindlich ist. Wir sollen uns auch hüten vor einer moralischen Überheblichkeit, die unwahrhaftig ist und die uns ohnehin keiner glaubt. Was wir brauchen ist das demütige Selbstbewusstsein, in der Bindung an Gott und Jesus Christus eine Freiheit zu gewinnen, die uns vor vielen Manipulationsfallen der heutigen Gesellschaft bewahrt. Wer glaubt, wird souverän, auch souverän, mit eigenen Schwächen und Sünden richtig umzugehen. Die Christusbindung macht frei von Versklavungen, die uns letztlich immer tiefer in die Selbstentfremdung und in Lebenstraurigkeit hineinreißen. Jeder, der schon einmal ernsthaft mit der Abwendung von einer sündhaften Gewohnheit zu tun hatte, wird dies bestätigen: Den Kampf aufgeben verschafft zwar vordergründig Ruhe, aber das geht auf Kosten der Lebensfreude und der inneren Übereinstimmung mit sich selbst.

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Wir müssen Ausschau halten nach solchen aus dem Gottesglauben und dem Christusbekenntnis erwachsenden Freisetzungserfahrungen heute. Wenn Jugendliche merken, dass ihnen ihr christlicher Glaube hilft, den Zwängen der Werbung, einer Cliquenabhängigkeit und der Faszination durch falsche Lebensidole zu widerstehen, ist ein wichtiger Durchbruch zur Eigenständigkeit hin, zur „Selbstwerdung“ geschafft. Die Umkehr von den Götzen zu dem lebendigen Gott, von der etwa Paulus spricht (1 Thess 1,9), ist auch heute aktuell wie eh und je.

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Wir hatten eben schon kurz ein viertes Wesenselement des christlichen Glaubens angedeutet, was ich hier in meinem „Bericht zur Lage des Glaubens“ gern einreihen möchte. In biblischer Sprache heißt dieses Element „Nächstenliebe“. Wir können auch sagen: die Bereitschaft zu einer aus Empathie mit meinem „Nächsten“ gespeisten Einsicht zum Miteinander und Füreinander, auch über Kirchengrenzen hinaus.

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Was gehört nach Auskunft des 1. Petrusbriefes zum Christ- und Kirchesein?

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In 1 Petr (wie natürlich auch in anderen neutestamentlichen Texten) nimmt der Gedanke des inneren Zusammenhalts, des Mit- und Füreinanders der Glaubenden einen breiten Raum ein: „Vor allem haltet beharrlich fest an der Liebe zueinander; denn die Liebe deckt viele Sünden zu“ (1 Petr 4,8). Dabei ist tröstlich, dass der der Verfasser zwischen Bruderliebe und Ehrerweisung für Außenstehende durchaus unterscheiden kann: „Erweist allen Menschen Ehre, liebt die Brüdergemeinde (adelphotäs); fürchtet Gott und ehrt den Kaiser“ (1 Petr 2,17). Es geht nicht um eine schwärmerische, utopische Menschenliebe, zu der keiner fähig ist („Seid umschlungen Millionen…“). Und ebenso bemerkenswert ist, dass der Briefautor den biblischen Topos, aus Hosea bekannt, zur ekklesiologischen Selbstaussage nutzt: „Einst wart ihr kein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk; einst gab es für euch kein Erbarmen, jetzt aber habt ihr Erbarmen gefunden“ (1 Petr 2,10). Und dieses Erbarmen Gottes findet seine Entsprechung im gegenseitigen Erbarmen von früher nicht zusammengehörigen Menschen. Deutlich wird, wie hier (alttestamentlich vorbereitet) im Christentum eine neue Sozialisationserfahrung gemacht wird, die über eine bloße ‚Reziprozitätsethik‘ („einander beistehen ist besser als sich gegenseitig bekämpfen“) hinausgeht. Aus dem Wissen um empfangenes Erbarmen erwächst eine Praxis oftlineverschenkten Erbarmens. Das gewährt den Christen Selbstwertgefühl und inneren Zusammenhalt – und auch Hoffnung, in Zukunft, vielleicht sogar angesichts eines möglichen Martyriums, vor Gott als Kirche Jesu Christi bestehen zu können.

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Und das gilt auch umgekehrt: Geschenktes Erbarmen lässt nach der Quelle von Erbarmen überhaupt fragen. Das ist gerade heute oft ein entscheidender Zugang auch zur Gotteserfahrung. „Dass du da bist, das ist für mich wie ein Geschenk des Himmels!“ Das sagt auch ein nichtkirchlicher Thüringer zu einem guten Nachbarn. Wir brauchen diese Erfahrung hier nicht lang und breit auszufalten, weil sie ihre Evidenz in sich hat und fester Bestandteil der Lebenserfahrung ist.

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Die beste Hilfe, von Introvertierungen wegzukommen ist immer, sich anderen zuzuwenden. Unsere derzeitigen kirchlichen Befindlichkeiten werden schnell relativiert, wenn wir in die Weltkirche schauen. Gibt es unter den dort vorherrschenden Bedingungen von Finanznot und Personalmangel keine „Beheimatung“ in der Kirche? Wir brauchen heute Ortskirchen, die

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sich als „Missionskirchen eines neuzeitlichen Typs“ verstehen, nicht nur in der Diaspora des Nordens, sondern auch in katholisch geprägten Regionen unseres alten Europas. Dabei gilt die Erfahrung: Im Leben der Kirche sind Personen wichtiger als Strukturen. Sich selbst im eigenen Gottesglauben „erkennbar“ und „berührbar“ zu machen, verändert Kirche und erneuert sie von innen. Der Glaube ruft nach Menschen, die ihm ein Gesicht geben. So bleibt Kirche lebendig, so kann sie wachsen. Dass es dann auch noch weiteres braucht, passende Strukturen, Korrekturen von Fehlentwicklungen, konkrete Pläne und auch Geld, leugne ich nicht. Schließlich hatte auch unser Herr Jesus eine Kasse (auf die übrigens Petrus schon damals hätte besser aufpassen sollen ...).

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Am überzeugendsten ist Kirche immer dort, wo sie bereit ist, in der Nachahmung Jesu den Dienst der „Fußwaschung“ zu leisten. Sich den vielfältigen Nöten von Menschen inmitten unserer so wohlhabenden Gesellschaft zuzuwenden, macht den Kern des Evangeliums sichtbar. Die Zuwendung Gottes, der mit dem Reichtum seines Erbarmens uns Arme reich gemacht hat (vgl. 2 Kor 8,9), muss ständig, von jeder christlichen Generation neu nachvollzogen werden. Die konkrete Tat der Nächstenliebe – das ist eine Sakramentenspendung, die „vor den Kirchentüren“ erfolgt (wie es Hans Urs von Balthasar einmal formuliert hat), Aber sie ist gemäß dem großen Gerichtsgleichnis in Mt 25 der Echtheitsnachweis der Christusnachfolge, wenn man so will: der „Lackmustest“ dafür, ob unser Gottesglaube von ideologischen Selbsttäuschungen frei bleibt. Ich schlage vor, unsere Kirche sollte gerade jetzt, wo man vielfach meint, es gehe ihr nur um den Selbsterhalt, sich bis in ihre kleinsten Zellen hinein noch intensiver und phantasievoller um diese „Sakramentenspendung vor den Kirchentüren“ mühen. Kurz gesagt: Unsere Kirche sollte caritativer und die Caritas sollte kirchlicher werden.

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Vier Hinweise aus dem 1. Petrusbrief zur „Lage des Glaubens“ damals, die m.E. auch für den heutigen Weg der Kirche etwas zu sagen haben:

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Der Abbau von Selbsttäuschen, die Warnung vor der Illusion eines unangefochtenen, „leidfreien“ Christseins;

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Die Sicherung der Glaubensgrundlage, die Erinnerung an den „Kaufpreis“, der unsere unerschütterliche Heilshoffnung begründet: das Leiden des Herrn, sein „kostbares Blut“. Ohne Osterglaube, ohne Glaube an die eigene Berufung und Erwählung kann es keine Kirche geben.

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Die Mahnung zu Umkehr und Heiligung des eigenen Lebens, die zeitlos ist. Programme und Reformen müssen auch morgen mit konkreten Menschen umgesetzt werden, mit (hoffentlich!) umkehrwilligen Sündern – auch in der Kirche.

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Und schließlich die Einladung zur „Bruderliebe“, zu einer Ethik des Miteinanders und Füreinanders gleichsam als „Lackmustest“ für echtes Christ- und Kirche-Sein auch morgen.

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Manche werden fragen: Und was ist nun mit den konkreten Reformzielen, von denen sich viele einen neuen Aufbruch in der Kirche erwarten?

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Ich betone nochmals: Solche Reformschritte, im Großen wie im Kleinen, sind ohne Zweifel notwendig, manche sogar dringlich. Das Gespräch darüber wird derzeit gottlob offener, ehrlicher geführt. Vermutlich muss sich manches noch mehr klären und – vor allem – im gemeinsamen, weltkirchlichen und lokalkirchlichen Gespräch durchdacht werden. Die Kirche wird, wie schon öfters in ihrer Geschichte, vom Geist Gottes geleitet lernen müssen, was zur Substanz des Glaubens gehört und was zu seinem „Kleid“ und einem diesem „neuen Kleid“ angemessener „Gehweise“. Aber war die Kirche nicht immer auch eine lernende Kirche? Insofern ist die „Lage des Glaubens heute“ vermutlich besser als wir meinen.

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Anmerkungen

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1 Norbert Brox, Situation und Sprache der Minderheit im ersten Petrusbrief (1977), in: ders., Das Frühchristentum. Schriften zur Historischen Theologie, Freiburg-Basel-Wien 2000, 217-231, hier 224.

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2 Vgl. A. Rouet, Aufbruch zum Miteinander. Wie Kirche wieder gesprächsfähig wird, Freiburg i.Br. 2012, S.151.

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3 Ich denke in diesem Zusammenhang manchmal an das etwas freche Wort des polnischen Schriftstellers Jerzy Lec an seine Zeitgenossen: „Was rennst du denn dauernd mit dem Kopf gegen die Wand? Was willst du denn in der Nachbarzelle?“

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