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Der Fremde. In memoriam em. Univ.-Prof. Dr. Vladimir Richter SJ

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriefak
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2013-03-06

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Predigt beim Requiem, gehalten am 1. März 2013 um 14.00 Uhr in der Jesuitenkirche in Innsbruck im Anschluss an die Lesungen: Ri 17,7-13 und Joh 14,1-6.

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„Wo kommst Du denn her?“, fragte am 1. Oktober 1950 der damalige Rektor des Priesterseminars und spätere Erzbischof der Diözese Salzburg Karl Berg einen jungen Mann, der vor ihm stand und um Essen und Übernachtung im Seminar bat. Der 25-Jährige, eher schmächtige Mann sah übermüdet aus und verängstigt. Tagelang war er unterwegs. Unterwegs auf der Suche nach sicheren Wegen durch das geteilte Nachkriegsösterreich. Über Graz kam er nun nach Salzburg. Aus Wien, aus der sowjetischen Zone, wo er fast einen Monat lang undercover lebte. Sicher konnte er in Wien nicht sein, in der geteilten Stadt. Die Präsenz der sowjetischen Armee machte dem Flüchtling aus der kommunistischen Tschechoslowakei zu schaffen, riskierte er doch Tag für Tag die Verhaftung und den Rücktransport über jene Grenze, die er in der Nacht vom 9. auf den 10. September überschritten hat - unter Lebensgefahr. Er war nicht der erste und auch nicht der letzte Mensch, der in dieser Zeit mittellos durch die Gegend wanderte und um Kleidung, Nahrung und Unterkunft bat. Tausende und Abertausende sind vertrieben worden, sind geflüchtet oder haben sich auf die Wanderschaft begeben auf der Suche nach einer besseren Lebensmöglichkeit.

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„Woher kommst du?“ Mit dieser Frage wird auch der junge Mann aus Juda konfrontiert. Unsere Lesung bei diesem „Requiem“ rückt einen jungen Leviten in den Vordergrund, einen Menschen ohne Namen, dem die Bibel ganze 14 Verse widmet. Wir hörten einen Text, der sich kaum dazu eignet, die Phantasie der Kommentatoren zu beflügeln. Die Geschichte des Mannes, der in der Heilsgeschichte eine unspektakuläre, eine winzige Rolle spielt. Eine nicht nur für die damalige Zeit alltägliche Rolle. Eingebettet zwischen der Geschichte vom Supermann aller Zeiten, der Geschichte über Simson, dem scheinbar unbesiegbaren Helden des Gottesvolkes, und dem vermutlich erschütterndsten Skandal unter den doch so widersprüchlichen Bibelstorys: der Geschichte der Schandtat der Männer von Gibea, der Geschichte der Massenvergewaltigung und der Vergeltung der Schandtat, eingebettet zwischen Spektakulärem, zwischen den mysteria fascinosa et tremenda, steht diese unscheinbare Geschichte da. Eine Geschichte von einem Menschen, der eine unbedeutende Rolle spielt. Er ist halt der Fremde, der Fremde, der bereit ist Auskunft über seine Heimat zu geben, über Bethlehem, die Stadt in Juda. Er ist der Fremde, der bereit ist Auskunft über seinen Stamm zu geben: Er ist Levit, gehört dem Geschlecht der Priester an. Er ist der Fremde, der schlussendlich bereit ist, sich von Micha, dem geschäftstüchtigen Tempelbesitzer, der seine eigene Mutter zuerst um ein Vermögen brachte, dann aber, nachdem sie den Dieb verfluchte, reumütig alles zurückgab und zur Belohnung von der Mutter ein neues „mit Metall überzogenes“ Gottesbild bekam und nun den fremden Leviten in seinem Tempel anstellte - als Priester. Er ist der Fremde, der von Micha aufgenommen wird, von ihm ein Jahresgehalt bekommt, die Kleidung und auch den Lebensunterhalt. Was aus diesem Fremden dann (nach der Episode mit den Daniten) geworden ist, wissen wir nicht. Außer, dass er irgendwann gestorben ist, gestorben, wie halt alle Menschen sterben.

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Liebe Schwestern und Brüder, auch Pater Vladimir Richter war ein Fremder. Ein Fremder, der bereit war, Auskunft über seine Heimat und seine Sippe zu geben. Geboren in Chrilice, einer Gemeinde, zu der auch ein Gut mit einem Schloss gehörte, einem Schloss, in dem ein Blindenheim untergebracht war - von den Augustinianer Patres geführt -, war Richter sein Leben lang auf seinen Geburtsort stolz: wurde dort auch der berühmte österreichische Physiker, Mathematiker und Wissenschaftstheoretiker Ernst Mach geboren. Der Genius loci. Der berühmteste Sohn des Ortes stand auch Pate für die Wünsche unseres jungen Mannes. Auch er möchte Physiker werden. Und Wissenschaftstheoretiker und Mathematiker. Absolviert deswegen auch auf brillante Art mitten im Krieg seine Matura und muss erleben, dass zuerst andere den Verlauf seiner Kariere in die Hände nehmen. Das Schloss, samt dazu gehörendem Gut, wird enteignet, die Nazis degradieren den jungen Maturanten zum Zwangsarbeiter im landwirtschaftlichen Betrieb. In den schweren Stunden findet er Rückhalt bei seinem Nachbarn, dem um vier Jahre älteren Kollegen, der sich gerade auf die Priesterweihe vorbereitet. Felix Maria Davidek, ein charismatischer Theologiestudent, gründet gleich nach dem Krieg, kaum dass er zum Priester geweiht ist, ein Athenäum zur theologischen Bildung und Fortbildung, integriert seinen jüngeren Schulfreund in die Bildungsarbeit, schafft es sozusagen, aus Richter einen Grenzgänger zu machen. Der junge Mann schreibt sich an der Brünner Universität für Physik und Mathematik ein (weil er ein zweiter Mach werden möchte), aber auch für Philosophie und Theologie, weil Davidek sein spiritueller Meister geworden ist.

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Der Fremde war sein Leben lang bereit, Auskunft über seine Herkunft und seine Heimat zu geben, über seine Promotion im Jahre 1949 in der Mathematik, über seine zweijährige Assistenzzeit an der Universität im Fachbereich Physik und über seinen Entschluss, doch nicht ein zweiter Mach zu werden, sondern ein Priester. Am 1. Januar 1950 tritt er in das Priesterseminar ein und wird mit Abgründen konfrontiert, jenen Abgründen, an denen er bis zu seinem Lebensende litt. Nach dem Putsch von 1948 fängt eine beispiellose Verfolgung der katholischen Kirche in der Tschechoslowakei an. Sein älterer Kollege und Freund, Felix Davidek, streng vom Geheimdienst beobachtet, entkommt im April 1950 knapp einer Verhaftung, lebt im Versteck, wird aber dann doch gefangengenommen. Die Priesterseminare und die theologischen Fakultäten werden Ende Juni 1950 aufgelöst. Unsicherheit über die Zukunft, die Zukunft der Berufung, aber auch über die Möglichkeit des Überlebens, macht sich bei ihm breit. Etliche Priesterseminaristen träumen von der Flucht, bereiten diese vor. „Nur drei“, wie er immer wieder sagte, „darunter auch mir, ist die Flucht in der Nacht vom 9. auf 10. September gelungen.” Die Flucht in ein fremdes Land, die Flucht, die ihn zu einem Fremden machte. Wie der fremde Levit aus dem Buch der Richter von Micha aufgenommen wurde, so ist der fremde Seminarist vom Jesuitenorden aufgenommen worden, fand Unterhalt und Wohnung, Kleidung und Essen. Und doch blieb er ein Fremder. Seine ordensinterne Ausbildung wurde gewürzt durch die alten Träume des Karriereweges in den Fußstapfen von Mach. Sie führten ihn gar nach Kiel, zum damaligen Stern unter den Philosophen und Wissenschaftstheoretikern, einem der Väter des Konstruktivismus‘, Paul Lorenzen. Sein kirchlicher Weg im lateinischen Westen kulminiert 1955 in der Priesterweihe in Rom - im orientalischen Ritus. Als „Biritualist“ wird er sich fortan den ukrainisch-katholischen Studierenden des Canisianums - wie überhaupt allen slawischen Studierenden - verbunden fühlen.

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Als im Westen angekommener - der Verfolgung entflohener - fremder Christ schaut er sein Leben lang auf die Mitbrüder in Mähren. Auch auf Felix Davidek. Dieser kommt ja 1964 vom Gefängnis frei, wird auch drei Jahre später geheim zum Bischof geweiht, gerät nach und nach in den Augen des Vatikans ins Zwielicht, weil er eigenhändig die Zukunft der hierarchischen Kirche in der religionsfeindlichen Tschechoslowakei sichern möchte. Der strenge Logiker Richter konnte sich bis zu seinem Lebensende nie durchringen zu einem Urteil über Davidek, über die Haltung des Vatikans zum Geheimbischof und zur Instrumentalisierung seiner Generalvikarin durch die kirchenkritischen Bewegungen im Westen. Auch ihnen blieb er ein Fremder.

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Seit 1958 blieb er mit der Theologischen Fakultät verbunden, hat zahlreiche Schüler gehabt, initiierte eine weltweit beachtete Forschungstradition der Edition mittelalterlicher Texte (ist als Editor der Texte von Wilhelm von Ockham und Duns Scotus in der weltweiten scientific community ein Begriff), fühlte sich aber hier in Innsbruck doch neben den „philosophischen Simsons“ (wie Coreth und Muck) wie ein kleiner „Fremder aus Bethlehem“, aus Chrilice im Lande Mähren. Sein Terziat in Paray-le-Monial (in der „Heimat“ der Herz-Jesu-Verehrung) brachte ihn noch näher zur kindlichen Jesusfrömmigkeit. Der Wissenschaftstheoretiker und Logiker war auf seine Art kindlich fromm. Jesusgebete, auch das ignatianische „Anima Christi salva me“ markierten sein Leben, waren seiner Seele das, was seinem Leib das Bier war.

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Lieber Vladi! „Wo kommst Du denn her?“, hat Dich vor knapp einer Woche derjenige gefragt, den Du Dein Leben lang gesucht hast, indem du als Fremder auf seinen Spuren gingst. Auch in unmittelbarer Lebensgefahr, weil Du halt Priester werden wolltest.“Woher kommst Du?“, wurdest Du gefragt. Was hast Du geantwortet? „Ich komme aus Innsbruck, wo ich bei den Jesuiten eine zweite Heimat gefunden habe. Ich komme aus Innsbruck, wo ich Hunderten und Aberhunderten von Studierenden Gelegenheit gegeben habe, dass sie an der Universität auch lachen konnten und unzählige Witze über Professoren machen konnten. Ich komme aus Europa, wo die Grenzen meiner Jugend ausgelöscht wurden, nun aber neue Grenzen gezogen werden, auch Grenzen zwischen jenen wissenschaftlichen Disziplinen, die ich in meinem Leben zusammenhalten wollte: Physik und Theologie, das Leben eines Wissenschaftlers und das Leben eines religiösen Menschen. Ich komme gerade aus Hochrum, wo ich im Sanatorium Empathie und Pflege erleben durfte, den oft selbstlosen Einsatz von Dutzenden von Menschen. Ich komme aus der Welt, in der ich mich im Grunde immer als ein Fremder erlebt habe. Und ich bitte Dich: Pone me iuxta te! Oder ein bisschen moderner ausgedrückt: Iube me venire at te!”

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Lieber Vladi, ich hoffe, ja, wir alle hoffen, Er, dem du gefolgt bist, als Gefährte gefolgt bist, sagte zu Dir: „Komm, im Hause meines Vater gibt es genug Wohnungen. Genug Heimat. Sei mir nicht ein Fremder. Sei Hausgenosse. Ein Freund. Ein Jesuit - also ein Weggefährte. Ein Jesuit im Himmel!“

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