Grundlagen 

Das Forschungszentrum untersucht Dimensionen des Literaturtransfers als Praxisfelder des Vermittelns und Übertragens, die immer auch an Rezeptionsakte gekoppelt sind. Dabei soll der im Gegensatz zur relativ klar umrissenen „Übersetzung“ gewählte Begriff der „Übertragung“ bewusst einen breiteren Spielraum eröffnen, indem er etwa einer Literaturverfilmung höhere Eigenständigkeit gegenüber der literarischen Vorlage zubilligt und zugleich die Möglichkeit einer wörtlichen Übersetzung auf produktive Weise sowohl einzubeziehen als auch zu problematisieren vermag. Übertragungen finden statt:

  1. Zwischen Produzenten und Rezipienten kommunikativer Äußerungen: Auf der basalen Stufe des Kommunikationsmodells beruht Kommunikation auf der Übertragung von Mitteilungen zwischen Sendern und Empfängern, wobei die medialen Kanäle und Vermittlungsinstanzen (einschließlich von deren Störungspotential) nicht nur aus einer medienwissenschaftlich orientierten Perspektive heraus von Relevanz erscheinen, sondern etwa auch für eine soziologisch orientierte Literaturwissenschaft von Interesse sind, die Literatur als sozialen Handlungszusammenhang in ihren diskurs-, system- und/oder feldtheoretisch beschreibbaren Kontexten untersucht. Dann nämlich rücken nicht zuletzt die Institutionen und Akteure der Distribution von Literatur in den Fokus, die im Rahmen des komplexen Wechselspiels von Positionen und Positionierungen unter den Mitspielern des literarischen Feldes (oftmals in zweiter Reihe) als Vermittler agieren bzw. Literaturvermittlung im engeren Sinne als Kommunikation von und über Literatur betreiben – angefangen bei Verlegern, Redakteuren und Lektoren über Herausgeber, Initiatoren und Organisatoren literarischer Institutionen bis hin zu Übersetzern oder Kritikern, die mit ihren Sprechakten und anderen kommunikativen Handlungen auf entscheidende Weise jene vielfältigen Positionierungs-, Kanonisierungs- und Gruppenbildungsprozesse des Feldes regulieren, die in ihrer Gesamtheit immer auch als Transfer- und Vermittlungsprozesse zu begreifen sind.

  2. Zwischen Sprachen und Kulturen. Die Übersetzung im engeren Sinne als interlingualer Transfer von einer (Fremd-)Sprache in eine andere (Ziel-)Sprache, wobei häufig auch zwischen Kulturen vermittelt wird, lässt sich hierunter ebenso subsumieren wie die intralinguale Übersetzung zwischen unterschiedlichen Sprachstufen und -registern innerhalb eines Sprachsystems. Auf schriftlicher Basis wären die entsprechenden Übersetzungsleistungen zugleich zu verstehen als Teil eines Transfers…

  3. zwischen Texten, der sich in seinen Ergebnissen auf der Basis von Gérard Genettes Theorie der Transtextualität als eine „Literatur auf zweiter Stufe“ beschreiben lässt. Als terminologischer Oberbegriff für die Gesamtheit dessen, was einen Text „in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt“, lässt sich das Phänomen der Transtextualität nach Genette typologisch weiter ausdifferenzieren in die bisweilen eng miteinander verzahnten Formen der

    1. Intertextualität – bei Genette im engeren Sinne verstanden als Kopräsenz eines Textes in anderen Texten durch Formen und Praktiken des Zitats, des Plagiats oder der Anspielung;

    2. Paratextualität – im Sinne der Beziehungen eines Textes zu seinen epi- und peritextuellen Rahmungen, wobei Paratexte zwar eine wichtige Rolle für die Rezeption und Vermittlung von Literatur spielen, Genettes Bild-Rahmen-Modell aber gleichzeitig einer kritischen Revision zu unterziehen ist;

    3. Metatextualität – als Bezeichnung für andere Texte besprechende bzw. referierende, kritische und/oder kommentierende Textgenres, von der Zusammenfassung (etwa in Presseschauen) über die wertenden Äußerungsformen der Literaturkritik bis hin zum wissenschaftlichen und philologischen Diskurs über Literatur;

    4. Architextualität – verstanden als Beziehung von Texten zu abstrakten Ordnungskategorien wie bestimmten Schreibweisen, Diskurstypen, Textsorten, Genres oder literarischen Gattungen;

    5. Hypertextualität – im Sinne Genettes verstanden als die transformierende Her- oder Ableitung ganzer Texte aus anderen (Hypotexten), die zum Gegenstand der Nachahmung werden; von den komischen Formen der Parodie, des Pastiches oder der Travestie bis hin zur Fortschreibung eines Ursprungstextes, seiner Nacherzählung und Bearbeitung oder auch der Übersetzung in andere Sprachen.

  4. Zwischen Medien. Dehnt man – etwa mit Jurij Lotman – aus einer semiotischen Perspektive heraus den Sprach- wie den Textbegriff auf unterschiedliche Zeichensysteme aus (Stichwort etwa: ,Film als Text, ‚Sprache des Films), lässt sich Genettes Theorie der Hyper- respektive der Transtextualität auch auf das Gebiet der intersemiotischen Übertragungen und Adaptionen anwenden, wie es sich unter dem Begriff des Medienwechsels als Gegenstand der Intermedialitätsforschung etabliert hat (Beispiel: Literaturverfilmungen, Graphic Novels). Der Terminus „Medienwechsel“ erweist sich freilich als ein weites Feld, das sich von verschiedenen Ausganspunkten her produktiv ausschreiten lässt: Legt man etwa einen Medienbegriff zugrunde, der weniger auf die Codierung differenter semiotischer Systeme als vielmehr auf die auch in paratextueller Hinsicht unterschiedlich formatierten Trägermedien als Publikationsorte von Texten und Bildern fokussiert, lassen sich Phänomene des Medienwechsels auch anhand des Transfers zwischen einzelnen medialen Orten innerhalb eines bestimmten Zeichensystems beobachten und in Hinblick auf ihre generischen, epistemischen und rezeptionsästhetischen Interferenzen analysieren – beispielsweise bei der Neupublikation ursprünglich journalistischer Texte wie Feuilletons oder Rezensionen in Sammelausgaben für den Buchmarkt, bei der Übertragung von Fortsetzungsromanen aus der Periodika-Presse in Buchform oder bei der Neuedition von Lyrikabdrucken in Anthologien. Aus einer dritten Perspektive heraus, die noch stärker auf die physische Beschaffenheit der medialen Träger abzielt, lassen sich Phänomene des Medienwechsels schließlich auch fassen als Praktiken des Transfers…

  5. zwischen Materialitäten der Kommunikation. Der transkriptive Wechsel von der mündlichen Rede zum geschriebenen Text bzw. – allgemeiner gefasst – vom Akustischen zum Skriptoralen, der nach Bourdieu als „eine wirkliche Übersetzung oder zumindest [als] eine Interpretation“ zu definieren wäre, ist dabei ebenso eingeschlossen, wie etwa die seit geraumer Zeit virulente Praxis der Digitalisierung und Virtualisierung kultureller Artefakte, die unter dem Schlagwort der „Digital Humanities“ nicht nur die Perspektive auf ein neues Paradigma in den Geistes- und Kulturwissenschaften eröffnet, sondern auch die aktuelle Medienpraxis von Archiven und Bibliotheken unvermutet zurückbindet an die Ursprünge dieser Institutionen in Antike und Mittelalter, in denen die Sammlungsstätte vom Scriptorium nicht zu trennen und folglich immer schon beides war: Produktions- und Speicherort medialer Artefakte, wo die Funktion einer „Gedächtnisinstitution“ (im Sinne Aleida Assmanns) an den basalen Akt des Abschreibens und Umkopierens von Vorlagentexten gekoppelt blieb, um deren Distribution und Zirkulation in Raum und Zeit zu gewährleisten. Die synchrone Vermittlung von Texten und Zeichen durch Reproduktion ist insofern nicht von den Praktiken eines diachronen Transfers zu trennen, der im doppelten Sinne auf Techniken der Übertragung rekurriert: als Traditionen und Identitäten stiftende Überlieferung von Texten und Textzeugnissen in temporaler Perspektive ebenso wie als permanenter Prozess des Konvertierens und Adaptierens von Speichermedien und Speichertechniken im Kontext sich verändernder Aufschreibesysteme, die mit der Transformation des jeweiligen materialen Gegenstands zwangsläufig auch dessen diskursiven Status transformieren.

  6. Zwischen Gedächtnisräumen. Techniken der diachronen Übertragung im Sinne einer Transformation von Vergangenem in Gegenwärtiges implizieren zugleich den produktiven Akt einer Aneignung, der auf die von Aleida Assmann eingeführte Differenzierung des kulturellen Gedächtnisses verweist: Auch das Verhältnis von Speicher- und Funktionsgedächtnis wird auf basale Weise durch Techniken des Transfers charakterisiert respektive reguliert, wie sie sich in konkreten Selektions-, Restriktions- und Aktivierungsprozessen von kultureller, bisweilen juristischer, nicht zuletzt aber auch politischer Relevanz manifestieren (Stichwort: „Translatio Imperii“). Die Formatierung der Speicher beruht ebenso wie die diskursive Funktionalisierung ihrer Inhalte auf Handlungen, die sich als Praktiken der Übertragung oder Nicht-Übertragung in die Archive bzw. aus den Archiven heraus beschreiben lassen und Fragen von Kanonisierung und Dekanonisierung, von Zensur, Gedächtnis und Vergessen aufwerfen. Der Editionsphilologie kommt in diesem Zusammenhang ein hoher Stellenwert zu, überträgt sie doch Texte (etwa durch kommentierte Ausgaben) von tagesaktuellen Erscheinungsformen in das kulturelle Gedächtnis – und hält gerade dadurch den Entstehungskontext präsent. Damit eng verbunden ist die Diskussion um und die Untersuchung von Kanonbildungen und der an ihnen beteiligten Konsekrationsinstanzen.

  7. Zwischen Feldern und Diskursen. Transferphänomene lassen sich schließlich – und nicht zuletzt – auch zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern (im Sinne Bourdieus) oder unterschiedlichen Diskursen und Teil-Öffentlichkeiten innerhalb eines Feldes beobachten. Unter dem Stichwort der „Popularisierung“ etwa lassen sich Praktiken der Übertragung von Wissensbeständen aus dem akademischen Feld bzw. den fachlich begrenzten Feldern wissenschaftlicher oder ökonomischer Produktion ins journalistische Feld ebenso fassen wie Grenzüberschreitungen vom literarischen Feld her, die zugleich meist auch einen Wechsel medialer Orte implizieren und in historischer Perspektive bestimmte typische Schreibweisen und Genres ausgebildet haben: Essay, Feuilleton (als Genre) oder auch die Reportage zeichnen sich vielfach durch ihren interdiskursiven Status aus, der sie zugleich zwischen den Grenzen der Felder und letztlich auch zwischen den vom jeweiligen Nomos eines Feldes definierten Wertkategorien („high“ und „low“) oszillieren lassen. Auch hier kommen mithin die Fragen von Kanonisierung, Nicht- oder Dekanonisierung ins Spiel, zumal im Verlauf der Literatur- und Kulturgeschichte gleichsam als Gegenprogramm zur „Popularisierung“ auch umgekehrte Transformationsprozesse auszumachen sind, die etwa Phänomenen der Populärkultur Anerkennung und Aufmerksamkeit in den Feldern der Hochkultur zuteilwerden lassen und insofern eine Grenzüberschreitung in gegenläufiger Richtung illustrieren können.

Literatur wird somit nicht als statisches Gebilde, sondern als Prozess begriffen: von der Produktion und den Produzenten über die Vermittlung und Präsentation bis hin zu Rezeption und Verarbeitung. Es handelt sich um ein komplexes, nicht-lineares Geflecht von Kommunikation und Interaktion, das in seinen einzelnen Bestandteilen näher beleuchtet werden soll, wobei nicht zuletzt die erhöhte theoretische Aufmerksamkeit zu berücksichtigen ist, die Übertragungsprozesse in den letzten beiden Jahrzehnten erfahren haben. 

 

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