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Fünf Ausgaben "Literaturkritik in Zahlen"

Einige Beobachtungen aus Anlass der aktuellen Ausgabe für das Berichtsjahr 2020. Von Veronika Schuchter

 

Es ist ein kleines Jubiläum: Mit der Ausgabe für das Berichtsjahr 2020 legt das Innsbrucker Zeitungsarchiv die fünfte Jahresstatistik zu quantitativen Verhältnissen in der Literaturkritik vor. 2017 gab es außerdem eine Sondernummer zu Geschlechterverhältnissen in der Literaturkritik. Grund genug also, Rückschau darauf zu halten, was sich in den letzten Jahren getan hat, ob die Unkenrufe nach dem Verfall der Literaturkritik zumindest quantitativ berechtigt sind oder widerlegt werden können und welche auffälligen Entwicklungen zu konstatieren sind. Die Auswertung für das Jahr 2020 ist insofern besonders interessant, weil es sich um den ersten „Corona-Jahrgang“ handelt. Im Vorfeld gab es unterschiedliche Thesen, wie sich die Corona-Pandemie auf die Literaturkritik auswirken würde. Man konnte beispielsweise vermuten, dass die umfangreiche Corona-Berichterstattung der Literatur Raum wegnehmen würde, zum einen durch einen generellen Rückgang der Kulturberichterstattung, zum anderen durch Berichte über den Kulturbetrieb betreffende Corona-Maßnahmen, Subventionspolitik, ausgefallene Veranstaltungen usw. Gleichzeitung brachen durch die Schließung von Theatern und Kinos und den Wegfall anderer kultureller Veranstaltungen Theater- und Filmbesprechungen weg, was, so die gegenläufige These, durch Literatur kompensiert werden könnte – Lesen kann man schließlich immer.

25 überregionale Tages- und Wochenzeitungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz werden für Literaturkritik in Zahlen ausgewertet (vor 2018 waren es 23). Zu den erhobenen Werten gehört die Gesamtzahl der Belletristik-Rezensionen eines Jahres, aufgeschlüsselt in Tages- und Wochenpresse sowie lange und kurze Besprechungen, wobei die Grenze hier bei 500 Wörtern liegt. Schon von 2018 auf 2019 gab es einen Rückgang um insgesamt rund 200 Artikel, von 2019 auf 2020 sank der Wert nochmals um 267 Besprechungen, wobei die Wochenpresse konstanter blieb als die Tagespresse, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass weniger Wochenzeitungen im Korpus sind, aber auch darauf, dass Wochenzeitungen über ein strenger eingehaltenes Raster von Rubriken und vorgesehenem Raum für diverse Textsorten, darunter Besprechungen, verfügen.

Der Anteil langer Rezensionen ist seit 2015 fast gleichgeblieben und liegt meist knapp unter 60 %, der niedrigste Wert wurde mit 56,47 % im Jahr 2018 erreicht. Ein Blick auf die Verteilung nach einzelnen Periodika zeigt eindrucksvoll, dass es keinen kollektiven Trend in eine Richtung gibt, sondern dass die Entwicklungen der einzelnen Zeitungen sich sehr unterschiedlich gestalten, was wiederum auf sehr individuelle Gründe zurückzuführen ist und nicht auf allgemeine Umbrüche im Feuilleton. So gibt es bei der SZ deutliche Rückgänge, während die FAZ zulegt. Bei den Wochenzeitungen ist der Einbruch bei der Zeit und dem Spiegel auffällig, dafür bringen Freitag und WamS deutlich mehr Besprechungen als im Vorjahr, das sind Trends, die schon für das Berichtsjahr 2019 sichtbar waren, also nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zu stehen scheinen. Ein recht diffuses Bild herrscht bei den österreichischen Periodika, die insgesamt relativ wenig Veränderung zeigen, bis auf die Wiener Zeitung, die komplett einbricht und den Falter, der insgesamt ebenfalls deutlich weniger Besprechungen bringt, was sich aber nicht auf die langen Besprechungen auswirkt. Spannender fällt da der Blick auf die Schweiz aus, der einen starken Rückgang an Rezensionen bei der NZZ zeigt, was die Entwicklung aus den Vorjahren weiterführt. Erschienen in den Schweizer Periodika noch deutlich mehr Rezensionen als in den österreichischen, so sind die beiden Länder 2020 fast gleichauf. Mit 318 zu 317 hat Österreich die Schweiz, die bisher konstant deutlich vorne lag, zum ersten Mal überholt.

Meistrezensierte Titel

Interessante Entwicklungen sind bei den am meisten rezensierten Titeln für das Jahr 2020 zu konstatieren. Auf Michel Houellebecq (2015), Elena Ferrante (2016), Haruki Murakami (2018) und abermals Michel Houellebecq (2019) folgt Monika Helfer als am meisten rezensierte/r Autor:in im Berichtsjahr 2020. Damit führte Michel Houellebecq diese Liste genauso häufig an wie eine Frau. Wird diese Bemerkung natürlich augenzwinkernd getätigt, hat sie dennoch einen wahren Kern, waren weibliche Autor:innen bei den am meisten rezensierten Titel doch immer deutlich unterrepräsentiert (2018: 31,82 %, 2019: 38,18 %), 2020 dominierten hingegen erstmals die Frauen: Von den 47 meistrezensierten Titeln des Jahres 2020 stammen 26 von Frauen, was einem Anteil von 55,32 % entspricht und eine Zunahme um mehr als 17 Prozentpunkte bedeutet. Ob es sich dabei um einen statistischen Ausreißer oder einen längerfristigen Trend handelt, angestoßen durch wissenschaftliche Studien, Tagungen und breite Diskussionen in den Medien und sozialen Netzwerken, werden die nächsten Jahre zeigen.

Dass sich bei den Verlagen im Jahr 2020 in Hinblick auf den Gesichtspunkt der literaturkritischen Aufmerksamkeit etwas Grundsätzliches verändert hätte, lässt sich nicht feststellen. Das Feld des symbolischen Kapitals wird von denselben Verlagen bespielt, nur die Verteilung ist etwas anders, was aber am Erfolg von Einzeltiteln liegt. In Führung liegt abermals Hanser (mit Zsolnay), gleichauf mit Suhrkamp, Rowohlt sackt hingegen ab. Mit mehreren Titeln vertreten sind, ähnlich wie in den letzten Jahren, S. Fischer, DuMont, Kiepenheuer & Witsch und Luchterhand.

Ob mehr deutschsprachige Titel oder mehr Übersetzungen besprochen wurden, variierte von Jahr zu Jahr. 2020 dominieren mit 61,7 % wieder die deutschsprachigen Titel. Die Unterschiede fielen hier zum Teil über die Jahre sehr groß aus, so machten 2016 deutschsprachige Titel ganze 82,5 % der am meisten rezensierten Bücher aus, was insgesamt die These verfestigt, dass es sich hier nicht um grundsätzliche Vorlieben der Kritiker:innen oder Tendenzen am Buchmarkt handelt, sondern um die mehr oder weniger zufällige Stärke von Einzeltiteln.

Über die Jahre gleich geblieben ist allerdings, dass die Schweizer Literatur bei den am meisten besprochenen Titeln weit hinter der österreichischen zurückbleibt. Für das Jahr 2020 machen österreichische Autor:innen 34,48% aus, gegenüber 6,9% aus der Schweiz. Schon allein aufgrund der Größe des Buchmarktes dominieren hier natürlich deutsche Autor:innen mit 58,62%.

Genres und Textgattungen

Kaum etwas getan hat sich beim Anteil verschiedener Genres an der Gesamtzahl der Belletristik-Besprechungen. Seit Jahren bleiben hier die Prozentzahlen für den Bereich Krimi, Kinder- und Jugendliteratur sowie Comics weitgehend konstant. Traditionell am stärksten vertreten ist die Kriminalliteratur mit etwas mehr als 10% der Rezensionen. Der Krimi ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass die Literaturkritik nicht den Mark abbildet, machen Krimis laut Börsenverein des deutschen Buchhandels doch jährlich ein Viertel aller verkauften Belletristik-Titel aus.[*]

Eine auffällige Veränderung gilt es bei den besprochenen Gattungen zu verzeichnen. Zwar dominiert der Roman noch immer unangefochten den Markt vor kürzerer Prosa, Lyrik, und Textausgaben von Dramen. Allerdings gab es seit dem Vorjahr einen Abfall um 5 Prozentpunkte, konkret auf 61,11 % – ein Anteil, der in die Kategorie „Sonstiges“ gewandert ist, in dem Briefe, Essays, literarische Reportagen usw. erfasst werden. In dieser Kategorie gab es gegenüber 2019 eine Steigerung um 7 Prozentpunkte. Seit Beginn der Auszählungen für das Jahr 2015 gab es noch nie einen niedrigeren Wert an Romanbesprechungen! Mit 14,49 % etwas schwächer als in den Vorjahren fiel auch der Anteil der übrigen Erzählliteratur aus. Weshalb zwar literarische, aber nicht klassisch fiktionale Textsorten 2020 besonders gerne besprochen wurden, müsste noch genauer untersucht werden. Wie immer sollen die Zahlen auch ein Anstoß sein, Entwicklungen zu analysieren. Die Vermutung liegt nahe, dass pandemische Zeiten eine Hinwendung zu erklärenden, einordnenden Textsorten befördern und dass daher Essays und philosophische Publikationen stärker in den Fokus rücken.

Interviews und Porträts

Über die letzten Jahre gibt es – entgegen aller Vermutungen – keinen zeitungsübergreifenden Trend, dass Rezensionen von personalisierenden Artikeln, also Interviews und Porträtartikeln, ersetzt werden. Natürlich ist die Trennlinie hier nicht immer eindeutig, oft werden Porträt und Rezension auch vermischt. Insgesamt handelt es sich aber um Verschiebungen, die von der jeweiligen Blattlinie abhängen. So nahmen beim Freitag etwa Besprechungen zu, personalisierende Artikel hingegen leicht ab, während die Wiener Zeitung im Berichtsjahr 2020 Rezensionen deutlich zugunsten von Interviews und Porträts zurückfuhr. Bei der NZZ, um noch ein Beispiel aus der Schweiz zu nennen, sanken beide Formen, wobei Besprechungen aber stark zurückgingen, personalisierende Artikel nur leicht.

Entwicklung einzelner Zeitungen während der letzten 15 Jahre

Sehr aussagekräftig ist die Entwicklung der Belletristik-Besprechungen einzelner Zeitungen, für die es Daten seit 2006 und damit für einen Zeitraum von 15 Jahren gibt. Die Grafiken belegen hier abermals deutlich, dass es keine einheitlichen Entwicklungen am Markt insgesamt gibt, sondern dass hier Faktoren wirksam werden, die die einzelnen Periodika betreffen. Solche Faktoren können Änderungen in den Redaktionen sein, grundsätzliche Entscheidungen über die Blattlinie, Veränderungen der Literaturbeilagen usw. So unterscheiden sich die Kurven der einzelnen Zeitungen stark voneinander. Dazu nur einige Beispiele: Die FAZ startete 2006 bei 557 Besprechungen insgesamt, hatte 2008 mit über 800 einen absoluten Höhenflug (den auch die Kurven einiger anderer Zeitungen mitmachen – allerdings nicht alle, so gab es bei der Zeit hier sogar einen Knick nach unten). Von diesem Gipfel ging es dann stetig bergab bis zu einem Tiefstand mit 508 Rezensionen im Jahr 2014. Seither hat sich die Kurve stabilisiert mit kleinen Bewegungen nach oben oder unten und landet 2020 mit 558 Besprechungen fast genau auf dem Wert von 2006. Einen ganz anderen Verlauf nahm die Kurve der Welt, die seit 2008 drastisch absank, von 459 auf nur 112 Besprechungen 2020. Noch stärker abwärts ging es nur bei der NZZ, die von 2008 mit 714 Rezensionen kontinuierlich reduzierte bis auf 153 Besprechungen im Jahr 2020. Die österreichischen Zeitungen Presse und Standard blieben über die Jahre relativ konstant mit einigen Aufwärts- und Abwärtsbewegungen.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Literaturkritik das erste Corona-Jahr recht unbeschadet überstanden hat. Es gibt Schwankungen nach oben und unten, was auf die Blattlinien der jeweiligen Periodika zurückzuführen ist, aber keinen allgemeinen Abwärts- oder Aufwärtstrend. Erfreulich ist das ausgeglichene Verhältnis zwischen den Büchern von Autorinnen und Autoren unter den am meisten besprochenen Belletristik-Titeln des Jahres, wobei weiter zu beobachten sein wird, ob Bestrebungen zur Diversifizierung des Literaturbetriebs hier erste Früchte zeigen, oder ob es sich um einen Ausreißer handelt. Größere Entwicklungen sind allerdings für das nächste Berichtsjahr zu erwarten, da 2021 grundlegende strukturelle Umbrüche bei mehreren Periodika stattfanden.

 

Veronika Schuchter, 14.03.2022

 



[*] Siehe dazu auch: Kirsten Reimers: "Lieber etwas Neues entdecken, als etwas Etabliertes verreißen". Krimikritik in deutschsprachigen Medien , Anm. 5.