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Großes Theater ums Volkstheater

Überlegungen zu Felix Mitterers "Stigma" und zur Mitterer-Rezeption. Von Linda Müller

 

Inhalt: Vor 35 Jahren: Ein Skandal in TirolStigma – bereits vor der Veröffentlichung stigmatisiertReaktionen auf die VeröffentlichungDie Medienberichterstattung vor der PremiereDie Premiere und der geplatzte EklatEin „typischer“ Skandal?Zwanzig Jahre später: Die BeichteVom Publikum preisgekröntEin „erschütternd aktuelles Thema“Abnutzungserscheinungen?Felix Mitterer, ein arrivierter AutorDamals skandalisiert, heute gefragt und geschätzt

 

Vor 35 Jahren: Ein Skandal in Tirol

Im Herbst 1977, also vor knapp 35 Jahren, feierte ein damals noch relativ unbekannter Autor im Innsbrucker Wirtshaus Breinößl auf der Volksbühne Blaas seine Bühnenpremiere. Wo sonst fast nur Bauernschwänke aufgeführt wurden, spielte Felix Mitterer unter der Regie von Josef Kuderna selbst die Hauptfigur Sebastian in seinem ersten Stück Kein Platz für Idioten. Die Geschichte eines geistig behinderten Jungen, der von der Dorfgemeinschaft nicht akzeptiert wird, erwies sich als außerordentlich erfolgreich und brachte dem Autor ein Dramatiker-Stipendium sowie den Preis der Landeshauptstadt Innsbruck für dramatische Dichtung ein. Außerdem wurde das Stück bald in Wien nachgespielt, als Fernsehsendung aufgezeichnet und in andere Dialekte und Fremdsprachen übersetzt.

Kein Platz für Idioten ist dramaturgisch als Volksstück angelegt. Die Premiere des Stücks fiel in eine Zeit, in der kritische Heimatliteratur hoch im Kurs stand. Mitterer verzichtete jedoch darauf, die traditionelle, beschönigende Heimatliteratur einfach ins Gegenteil zu verkehren, wie es viele Autoren taten: Er „vertraut […]  auf die Kraft des Bildes und bemüht sich aus diesem Grund, die Tradition des theatralischen Theaters, die Ästhetik des alten Volksstücks weiterzuführen“[1] – deshalb auch die Wahl der Volksbühne Blaas als Spielort.

Während Kein Platz für Idioten „nach vielen kargen Literaturjahren […] in Tirol endlich wieder Grund zu Optimismus“[2] gab, erweckte Mitterers zweiter größerer Erfolg fünf Jahre später den Unmut vieler Tiroler. „Ich mach ja nicht Volkstheater, um dem Volk auf den Schädel zu hauen und es aus dem Theater zu vertreiben. Ich mache Theater nicht gegen, sondern für das Volk“[3] – so äußerte sich Felix Mitterer zum Wirbel um die Uraufführung seines Volksstücks Stigma. Trotzdem fühlte sich 1982, als Stigma veröffentlicht und uraufgeführt wurde, so mancher vor den Kopf gestoßen. Kein Stück hat in den letzten 30 Jahren in Tirol mehr Staub aufgewirbelt. Die Thematik – es geht um die Leidensgeschichte der Magd Moid, die die Wundmale Christi trägt – rührte bei der Uraufführung 1982 offensichtlich an Tabus und führte dazu, dass viele Menschen sich durch Stigma persönlich angegriffen fühlten.

Anlässlich der beiden Jubiläen in der Karriere Felix Mitterers – 35jähriges Bühnenjubiläum und 30 Jahre Stigma-Skandal –, hält dieser Artikel Rückschau. Wie es dazu kam, dass Stigma und die Auseinandersetzungen rund um das Stück derart hohe Aufmerksamkeit in den Medien und der Öffentlichkeit auf sich zogen und wie das Stück innerhalb und außerhalb von Tirol aufgenommen wurde, wird im ersten Teil des Beitrags dargestellt. Dazu werden der Skandal, die Medienmechanismen und die Dynamiken um Stigma skizziert.

Im Anschluss daran wird die Rezeption von Stigma der Rezeption von Die Beichte gegenübergestellt, einem weiteren Stück Felix Mitterers, das ungefähr zwanzig Jahre nach Stigma entstanden ist. Die Beichte stellt ebenfalls Religion bzw. Kirche im Zusammenhang mit Sexualität in den Mittelpunkt – in diesem Fall konkret den Missbrauch von Kindern durch Vertreter der Kirche. Von der Tiroler Bevölkerung und der Kritik wurde das Stück im Gegensatz zu Stigma zum Großteil mit Beifall aufgenommen. Der Vergleich der Reaktionen auf die Stücke soll einen Blick auf die Aufregung um Stigma aus einer distanzierten Perspektive ermöglichen, aufzeigen, wie sich die Positionen der Kritiker gegenüber Felix Mitterer verändert haben, und so neue interessante Fragen aufwerfen, für die es nach Antworten zu suchen gilt.

Stigma – bereits vor der Veröffentlichung stigmatisiert [nach oben] 

Nachdem 1981 die ersten Tiroler Volksschauspiele in Hall über die Bühne gegangen waren, sollte 1982 neben Karl Schönherrs Glaube und Heimat und Fritz von Herzmanovsky-Orlandos Kaiser Josef und die Bahnwärterstochter auch die Uraufführung von Stigma Teil des Spielplans werden. Nach der Lektüre des Stücks lehnte der Haller Bürgermeister eine Aufführung jedoch ab. Für das Team der Tiroler Volksschauspiele stand fest, dass es für sie nicht in Frage kommen würde, nur die beiden anderen Stücke allein aufzuführen. Man versuchte also, einen neuen Ort für die Volksspiele zu finden. Der Congress in Innsbruck signalisierte zunächst Interesse, entschloss sich dann aber ebenfalls, die Aufführung von Stigma abzulehnen. Auch ein Umzug ans Volkstheater nach Wien scheiterte, allerdings aus Kostengründen. Die Lage schien allmählich aussichtslos zu werden: „Nun sahen wir uns schon am Ende. Wenn schon die Landeshauptstadt, Europastadt, Olympiastadt Innsbruck mein Stück nicht akzeptieren konnte, welcher Ort in Tirol sollte sich dann noch trauen?“[4] Die unerwartete Rettung: Wolfgang Pfaundler, der Herausgeber der Kulturzeitschrift Das Fenster, initiierte, dass die Marktgemeinde Telfs zum Spielort wurde und die Volksschauspiele ein neues Zuhause fanden.

Die Herbergssuche des Volksschauspiel-Teams für Stigma war natürlich in Tirol nicht unbemerkt geblieben. Die Öffentlichkeit erfuhr von der Problematik erstmals durch den Haller Stadtanzeiger.[5] In diesem wurden die Leser über die Beschlüsse des Gemeinderats informiert und darüber, dass die zweiten Volksschauspiele nicht in Hall aufgeführt werden würden. Auf das Stück selbst wurde hier nicht näher Bezug genommen, man gab als Begründung lediglich an, dass vom ORF keine finanzielle Unterstützung sicher wäre, solange Stigma noch nicht fertig gestellt sei. Bald berichteten auch andere Medien, darunter mehrere Tageszeitungen, über die Suche nach einem Spielort für Stigma. Der Ton in diesen Berichten ist allerdings zu einem großen Teil dem Stück gegenüber noch sehr neutral, auch wenn bereits vereinzelt Kritik an den „beanstandeten“ Szenen laut wird und „ein Theaterskandal […] in der Luft“[6] lag (oder zumindest von den Reportern gewittert wurde).

Anfang Juni kam der Trubel um Stigma wirklich in Gang: Die Postwurfsendung eines gewissen Gerhard Niedegger beschimpft Stigma als „schmutziges porno-blasphemisch-anarchistisches Theater“[7] und warnt Telfs eindringlich vor der Aufführung dieses Stücks. Niederegger war der Erste, der Stigma öffentlich anprangerte. Außerdem wurden in seiner Postwurfsendung auch zum ersten Mal bestimmte Szenen aus dem Kontext gerissen und kritisiert. Wenn Stigma also der Stein des Anstoßes war, hat ihn Gerhard Niederegger erst richtig ins Rollen gebracht.

Reaktionen auf die Veröffentlichung [nach oben] 

Anfang Juni 1982 erschien Stigma im Fenster. Wenig später meldeten sich die Europäischen Bürgerinitiativen zum Schutze der Menschenwürde zu Wort und forderten die Österreicher auf, eine Unterstützungserklärung zu unterschreiben, die die Zensur – also die Streichung bestimmter Szenen – von Stigma forderte.[8] Auch sie gaben durch eine Postwurfsendung zu verstehen, was sie von Mitterers Stück hielten. Diese Aussendung enthielt unter anderem einen Brief von Martin Humer, der im Streit um Stigma eine tragende Rolle einnahm, an Fritz Prior, den Tiroler Landesrat für Kultur und Schule. In diesem Brief forderte Humer den Landesrat auf, öffentlich gegen Stigma Stellung zu beziehen. Als dieser nicht wie gewünscht reagierte, erstattete man Strafanzeige gegen ihn.[9] Die Maßnahmen der Bürgerinitiativen waren bereits weitaus drastischer als die Kritik von Niederegger, da sie durch das Einleiten von rechtlichen Schritten größeren Druck auf die Verantwortlichen ausüben sollten. Außerdem erreichten die Postwurfsendungen ein weit größeres Publikum als die Kulturzeitschrift Das Fenster und dadurch hatten deutlich mehr Menschen Zugang zu den aus dem Kontext gerissenen, kritisierten Szenen als zum ganzen Text.

Im Kreuzfeuer der Kritik standen vor allem zwei Szenen. Die erste findet sich am Anfang des Stücks: Moid opfert ein Tuch, das mit ihrem Menstruationsblut getränkt ist, vor einem Kruzifix: „Schau! I blüat a! Wenns dir recht is und nit zwider, möchte i dir mein Bluat aufopfern, so wia du dein Bluat für uns vergossen hast.“ (Mitterer: Stücke 1. Innsbruck 1992, S. 71). In der zweiten Szene, die auf besonders großes Missfallen gestoßen ist, kommt es zu einem Exorzismus, bei dem drei Dämonen zuerst aus Moid sprechen und dann in den Monsignore fahren, der den Exorzismus durchführt. Was die Dämonen von sich geben, lässt den Kirchenmann nicht unbedingt im besten Licht dastehen: „Kannst di no erinnern, vor zwoa Monat? Wie du in dem Haus gwesen bist … In dem Busenhaus, Arschhaus, Futhaus! […] du Hurenbock, du …“ (Ebd., S. 105)

Die Folge der Aktionen der Bürgerinitiativen, die sich vor allem auf diese beiden Szenen bezogen, war „eine Flut von Protestbriefen, anonymen Telefonanrufen und auch Bombendrohungen. Niemand blieb verschont“.[10] Felix Mitterer, seine Frau, der Bürgermeister von Telfs und andere wurden beschimpft und bedroht. Ende Juli schrieb sogar Bischof Reinhold Stecher eine Stellungnahme zu dem heiß umkämpften Stück: Stigma würde „zweifellos – unabhängig von den Intentionen des Autors – das religiöse Gefühl vieler Mitbürger verletzen“.[11] Stecher bemühte sich jedoch eher um Beschwichtigung als darum, die Fronten weiter zu verhärten.

Wenig später bezog auch die Pfarre Telfs kritisch Position zum Stück. Die Gemeinde stellte sich jedoch erneut hinter die Entscheidung, Stigma aufzuführen. Die Bürgerinitiativen reagierten verärgert, riefen kurz vor der Premiere nochmals auf, die Uraufführung platzen zu lassen und das Stück zu verbieten und drohten mit einer Protestkundgebung.[12]

Die Medienberichterstattung vor der Premiere [nach oben] 

Während die Zeitungen und Zeitschriften anfangs eher zurückhaltend und meist nur über die Suche nach einem neuen Spielort berichteten, sah die Lage im Juli schon deutlich anders aus. So erschien beispielsweise im Profil ein Artikel, der den Kampf um Stigma thematisiert und sich in spöttischem Ton über die erbitterten Gegner des Stücks äußert: „Die Sodom-und-Gomorrha-Laune der Tiroler Entrüstungsexperten und Sittenwächter wird angeheizt vom Pornojäger Martin Humer, der wieder einmal wonnigen Unflat wittert […]“[13]. Dem Stück selbst wendet sich der Text nur kurz zu.

Kurz vor der Premiere berichteten alle Printmedien, die sich mit Stigma auseinandersetzen, weit mehr über den Skandal als über das Stück; über die Ablehnung des Haller Bürgermeisters, Stigma auf die Bühne zu bringen, über den Telefonterror, die Bombendrohungen und die angekündigte Protestkundgebung, so etwa Robert Vinatzer in seinen Artikeln Skandal – aber vor der Premiere vom 19.6.1982 und Bomben bedrohen Tiroler „Stigma“. Wirbel um Mitterer-Stück in Telfs hält an vom 30.7.1982, die beide im Kurier erschienen sind. Auffallend ist außerdem, dass sich die Verwendung der beiden Wörter „Skandal“ und „Zensur“ in der Berichterstattung vor der Premiere häuft. Besonders in der Tiroler Tageszeitung finden sich viele Berichte über den Skandal um Stigma – nicht nur vor der Premiere. Auch als ein Jahr später das Buch veröffentlicht wurde, erschien dort ein Artikel, der den Skandal thematisiert. Der Autor oder die Autorin hält fest: „Man muss diese Ereignisse um die Tiroler Volksschauspiele 1982 nicht immer wieder aufwärmen, aber noch sind sie von ‚Stigma‘ schwer zu trennen.“[14] Offenbar fällt die Trennung auch 2010 noch schwer, denn als in diesem Jahr Stigma in Schwaz aufgeführt wird, erinnert die Tiroler Tageszeitung (wie auch in allen Berichten, die nach der Uraufführung zu anderen Stigma-Aufführungen erschienen sind) noch immer an den „Skandal, der österreichische Theatergeschichte schreiben sollte“[15].

Die Premiere und der geplatzte Eklat [nach oben] 

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, umfassend auf alle Medienreaktionen einzugehen, die nach der Premiere veröffentlicht wurden. Zu den Reaktionen auf die Premiere sei jedoch gesagt: Der aufmerksame Leser könnte beinahe den Anschein bekommen, die Medien seien über den ausgebliebenen Skandal enttäuscht gewesen. „[…] der Knall blieb aus im Rathaussaal der Tiroler Marktgemeinde Telfs“, berichtete Der Spiegel in einem ausführlichen Artikel, der sich spöttisch über die „warnende[n] Klagen, demagogische[n] Tiraden“ und die Bürgerinitiativen äußert und Stigma gegenüber eine positive Haltung einnimmt.[16] „Kein einziges Buh trübte den Premierentriumph“, bedauerte Jutta Höpfel in der neuen tiroler zeitung, die Stigma für eine „Anhäufung von unappetitlichen und gewalttätigen Ereignissen“ hält, „deren Mangel an innerer dramturgischer [sic] Logik sie als das erscheinen läßt, was sie sind: Effekthascherei auf Teufel komm’ raus […]“.[17] Elisabeth Senn lobt in der Tiroler Tageszeitung zwar die Schauspieler und die Regie von Ruth Drexel, kritisiert aber die „nicht zu übersehende Langatmigkeit der ersten Hälfte sowie die zur Farce ausartende Exorzismus-Szene“[18]. Eva-Elisabeth Fischer ist in der Süddeutschen Zeitung von der Regie weniger angetan, bezeichnet die Jagd auf Stigma als „Lokalposse“ und stellt fest: „Mitterers Pfeil scheint doch getroffen zu haben, warum sonst würden sich einige Kommentatoren so sehr darüber ereifern […]“.[19]

Auffallend ist, dass Stigma in den deutschen Zeitungen und Zeitschriften deutlich positiver bewertet wurde als in den meisten österreichischen. Felix Mitterer hielt ein Jahr nach der Uraufführung fest: „Während das Stück bei der bundesdeutschen Presse […] fast durchwegs positive Aufnahme fand, reagierte die österreichische Kritik zu einem erheblichen Teil mit Ablehnung oder zumindest mit wohlwollendem Unverständnis.“[20] Dieses „wohlwollende Unverständnis“ äußerte sich zum Beispiel so: „Man fragt sich, was Felix Mitterer […] an diesem ganz ins Historische verlegten Thema gereizt hat, das in seiner Vielschichtigkeit mit den naiv gestaltenden Mitteln des traditionellen Volksstückes, deren sich Mitterer bedient, heute nicht mehr plausibel gemacht werden kann.“[21]

Ein „typischer“ Skandal? [nach oben] 

Skandale funktionieren bekanntlich nach bestimmten Regeln. Voraussetzung für einen Skandal ist stets (massen-)mediale Öffentlichkeit. Diese konstruiert in den Köpfen der Rezipienten Realität. Außerdem konstruiert jeder Mensch im Laufe seines Lebens – abhängig von den Erfahrungen, die er gesammelt hat – bestimmte Auffassungen von seiner Umwelt, welche wiederum „bestimmte (Wert-)Haltungen nach sich ziehen“[22]. Nun ist es aber gerade ein Kriterium, welches von moderner Literatur gefordert wird, dass mit verfestigten Weltbildern bzw. tradierten Werthaltungen gebrochen wird. „Die moderne Literatur deckt die Unsittlichkeit geltender Sitten auf. Daher ist auch die unterstellte Obszönität der Hauptanlass für Skandale.“[23]

Der Regelbruch bzw. der Sittenverstoß an sich macht jedoch noch keinen Skandal – zum Skandal wird ein Kunstwerk dann, wenn eine breite Öffentlichkeit damit in Kontakt gerät. So geschehen ist es im Fall von Stigma – durch die Postwurfsendungen, die an viele Haushalte versandt wurden und die außerdem das Interesse der Medien verstärkten. Was die Ereignisse um Stigma aber von vielen anderen Literatur- und Theaterskandalen unterscheidet, ist, dass die Skandalisierung des Stücks zwar von den Medien aufgegriffen und verstärkt wurde, aber ursprünglich von Privatpersonen bzw. von Bürgerinitiativen ausging.

Laut Stefan Neuhaus[24] ergibt sich ein Skandal unter folgenden Voraussetzungen:

1. „Der inkriminierte Autor, der inkriminierende Kritiker und das Massenmedium, in dem letzterer sich äußert, müssen möglichst hohes symbolisches Kapital besitzen.“

Felix Mitterer war vor allem durch Kein Platz für Idioten bereits hinlänglich bekannt. Auch Kritiker und Medien, die an den Diskussionen um Stigma teilnahmen, waren – vor allem im Raum Tirol – mehr oder weniger namhaft. Auffällig ist, dass auch bekannte Persönlichkeiten, die kein Teil des Literaturbetriebs waren, in den Diskurs um Stigma eingriffen. Wie erwähnt, äußerte sich zum Beispiel der damalige Bischof Reinhold Stecher, und auch der sogenannte „Pornojäger“ Martin Humer hatte offensichtlich in Österreich einen gewissen Bekanntheitsgrad. Sie haben sicher neben den Aktionen der Bürgerinitiativen und den Postwurfaktionen, die sich gegen das Stück wandten, einen wesentlichen Teil dazu beigetragen, die Auseinandersetzungen um die Aufführung einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen und die Aufmerksamkeit der Medien über die Grenzen Tirols hinaus zu wecken.

2. „Die Selbstreferenz des literarischen Texts muß zugunsten der Fremdreferenz entweder ignoriert werden, oder es muß behauptet werden können, daß der Text gerade deshalb mißlungen ist, weil er selbst den Schwerpunkt auf die Fremdreferenz legt.“

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass es – wider einige Stimmen – auch kurz nach der Uraufführung von Stigma sehr wohl ernsthafte Auseinandersetzungen mit dem Volksstück sowie fachlich kompetente Kritiken gab. Trotzdem ist es so, dass nicht nur in den Postwurfsendungen, sondern auch in Zeitungstexten, die von Personen mit literarischem Fachwissen geschrieben wurden, die Autonomie des Textes zumeist völlig außer Acht gelassen wurde. Dafür spricht auch, dass sowohl in Postwurfsendungen als auch in den Texten der Presse immer wieder Passagen aus dem Kontext gerissen zitiert und kritisiert wurden. Dieses Phänomen kann man bei Literaturskandalen immer wieder beobachten, zum Beispiel in den Auseinandersetzungen rund um die Uraufführung von Thomas Bernhards Heldenplatz.

3. „Das Thema, um das es geht, muß an aktualisierbare Diskurse außerhalb des literarischen anknüpfen können.“

Stigma spielt zwar um 1830, thematisiert aber hierarchische Machtverhältnisse und stellt die katholische Kirche kritisch dar. Wie sehr das Stück offensichtlich besonders für seine Gegner aktuell war, spiegelt sich in deren heftigen Reaktionen wider. Interessanterweise wird gerade die Wahl der Handlungszeit des Stücks immer wieder zum Kritikpunkt: „Zeit und Schauplatz des Geschehens […] sind sehr unglücklich gewählt. In diesem Rahmen entsteht nämlich kein Modell, das […] unserer Zeit wesentliche Einsichten vermitteln könnte.“[25] Dieser Argumentation muss insofern widersprochen werden, als das Exorzismus-Thema keineswegs so inaktuell war, wie einige Kritiker vorgaben: Sechs Jahre vor der Uraufführung von Stigma sorgte etwa in Deutschland der Fall „Anneliese Michel“ für Aufsehen. Mangelnde Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, Unterdrückung und Ausbeutung von sozial und ökonomisch Benachteiligten sind außerdem Themen, die auf lange Sicht nie an Aktualität verlieren werden.

4. „Alternativ kann der literarische oder der literaturkritische Diskurs selbst zum Skandal werden. Dabei wird der Vorwurf zentral, daß die Eigengesetzlichkeit der Literatur nicht ausreichend beachtet wird. Nachdem die Fremdreferenz zunächst die Möglichkeit zur Skandalisierung bietet, kann sie also selbst zum Skandal werden.“

Auch diese Voraussetzung kann für Stigma voll bestätigt werden. Im Wirbel um das Drama gab es geteilte Lager: Während die einen Felix Mitterer als Blasphemiker verurteilten und das Stück erbittert bekämpften, belächelten andere diese Kritiker als rückständig und engstirnig. Vor allem bundesdeutsche Medien äußerten sich teilweise leicht belustigt bis herablassend über die Fehde, die in Tirol tobte, aber auch manche einheimischen Kritiker waren wenig begeistert von der Berichterstattung über das Stück: „Im Streit um ‚Stigma‘ sind“ – so Johann Holzner – „plausible Argumente höchst selten vorgebracht worden.“[26] Walter Methlagl bedauert „die fehlende Bereitschaft der Profis, sich in eine literarische Neuheit ohne Mitnahme des handlichen Klischee-Arsenals hineinzuversetzen […].“[27]

Zwanzig Jahre später: Die Beichte [nach oben]  

1999 sah Felix Mitterer im irischen Fernsehen eine Dokumentarfilmserie, in der es um die Zustände in kirchlichen Heimen für Waisen und Schüler ging. Häufig waren Schläge und sexueller Missbrauch an der Tagesordnung. Von dieser Dokumentation angeregt schrieb er, „überzeugt davon, dass auch in Österreich in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Kinder in der Obhut der Kirche geschändet wurden“[28], nach eingehender Recherche das Hörspiel Die Beichte, das 2003 als Livesendung produziert und vom Publikum zum „Hörspiel des Jahres“ gewählt wurde. 2004 wurde Die Beichte als Theaterstück in Telfs bei den Tiroler Volksschauspielen uraufgeführt – 22 Jahre nach Stigma stand also wieder ein Mitterer-Stück zu einem heiklen kirchlichen Thema auf der Volksschauspielbühne, erneut unter der Regie von Ruth Drexel. Man hatte Sorge, dass es wieder Aufruhr und Proteste geben würde wie seinerzeit in Telfs – diese erwies sich jedoch als unbegründet. Zuschauer und Presse zeigten sich zumeist neutral bis begeistert, nur selten kritisch.

Es drängt sich die Frage auf, warum Die Beichte so viel besser aufgenommen wurde, obwohl das Stück durchaus einigen Zündstoff enthält – so verurteilt Felix Mitter bereits in der Vorbemerkung „das alte Prinzip der Kirche“: „[u]nter den Teppich kehren, zudecken, mauern“.[29] Was ist also passiert in den 22 Jahren zwischen den beiden Uraufführungen? Warum führte Die Beichte zu keiner Aufregung, obwohl der Text doch – vielleicht sogar noch mehr als Stigma – die Voraussetzungen dafür bieten würde?

Mitterer war 2004 weitaus bekannter als 1982, er hatte bereits viel symbolisches Kapital akkumuliert, damit waren auch die Zeitungen, die über ihn berichteten, namhafter. Die Thematik von Die Beichte knüpfte außerdem um einiges offensichtlicher an einen aktuellen Diskurs an als die Thematik von Stigma: Kindesmissbrauch durch Priester war zum Zeitpunkt der Uraufführung in aller Munde bzw. in allen Zeitungen, es bot sich deshalb auch an, die Selbstreferenz des Textes zu ignorieren – in der Tat ist das in einigen Rezensionen auch geschehen. Warum Die Beichte trotzdem keinen Skandal verursachte, dazu folgen in den anschließenden Kapiteln einige Überlegungen.

Vom Publikum preisgekrönt [nach oben] 

Im Dezember 2003 wurde das Hörspiel Die Beichte im ORF-Kulturhaus uraufgeführt.[30] Kurze Zeit später, am 27. Februar 2004, wählte das Ö1-Publikum Die Beichte zum Hörspiel des Jahres.[31] Am 24. Juli 2004 schließlich wurde die Theaterfassung bei den Volksschauspielen in Telfs uraufgeführt.[32] Bis zu diesem Zeitpunkt sind – auch nach der Vergabe des Publikumspreises – kaum Medienreaktionen auf Die Beichte erfolgt. Doch von nun an wird in den Rezensionen häufig die Auszeichnung des Hörspiels erwähnt. Möglicherweise könnte man daraus den Schluss ziehen, dass ein Stück, das vom Publikum bereits für gut befunden wurde, sich nicht dazu eignet, von den Massenmedien skandalisiert zu werden. Interessant wäre zu wissen, wie das Stück aufgenommen worden wäre, wenn es vorher nicht als Hörspiel erschienen wäre. Man kann durchaus spekulieren, dass die Medien in diesem Fall einen Skandal gewittert hätten und die Berichterstattung teilweise anders ausgefallen wäre.

Im September 2004 wurde Die Beichte mit dem Prix Italia ausgezeichnet und Ende 2004 erhielt das Stück dann auch noch den Radiopreis für Erwachsenenbildung in der Sparte Kultur.[33] Auch darauf gab es mediales Echo. In späteren Rezensionen und Berichten finden sich immer wieder Formulierungen wie „Martin Sailers bereits vielfach ausgezeichnete Produktion“[34] oder das „Erfolgsstück ‚Die Beichte‘“[35]. Dies lässt den Schluss zu, dass die Berichterstattung über Die Beichte auch durch die Preise und Auszeichnungen, die das Stück erhielt, positiv beeinflusst wurde.

Ein „erschütternd aktuelles Thema“[36] [nach oben] 

2003 und 2004 häuften sich in Deutschland und Österreich Medienberichte über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche – nicht zuletzt wegen der Ermittlungen im Priesterseminar St. Pölten, bei denen von der Staatsanwaltschaft unter anderem Kinderpornografie sichergestellt wurde. Wie erwähnt war Mitterer durch eine Dokumentation im irischen Fernsehen auf die Idee gekommen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Als er das Hörspiel schrieb, war die Lage in Österreich jedoch noch ruhig. Als dann aber 2004 das Stück uraufgeführt wurde, traf es fast zeitgleich mit den Enthüllungen in St. Pölten zusammen. Kein Wunder also, dass beinahe alle Rezensionen auf die Aktualität des Stücks Bezug nehmen. So schreibt etwa Die Neue Südtiroler Tageszeitung: „Wundersam aktuell ist Felix Mitterers ‚Beichte‘, welche gleichsam parallel zu den perversen Vorgängen im Priesterseminar St. Pölten als Theaterstück realisiert worden ist.“[37] Gelobt wird Mitterers Sinn für das Thematisieren von gesellschaftlichen Missständen.[38] In kaum einer Besprechung wird die Frage aufgeworfen, ob es angebracht sei, auf die Bühne zu stellen, was nicht weit entfernt gerade immer mehr Opfer berichteten – ganz im Gegenteil. Laut der Furche ist Die Beichte sogar „nicht nur allen Katholikinnen und Katholiken im Allgemeinen, sondern den Herren der Kirchenleitung im Besonderen anzuempfehlen“, weil es „durch und durch mit der Realität zu tun“ [39] hat. Kritisiert wurden natürlich die Vorfälle in St. Pölten und auch die in Irland, die für Mitterer den Anstoß für das Stück gaben. Dem Stück und seiner Aktualität aber standen die Rezensenten weitestgehend positiv gegenüber. Häufig werden auch Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Zölibats laut, die Mitterer bereits in der Vorbemerkung zu seinem Stück festgehalten hat. Lediglich der Kurier sah in dem Stück eine „Grenzüberschreitung“ – und zwar der „Grenzen des (Volks-)Theaters“.

Offen bleibt, ob es mehr Entrüstung über das Stück gegeben hätte, wenn die Beweise dafür, dass das auf der Bühne Dargestellte durchaus im Bereich dessen liegt, was auch in der Realität denkbar ist, weniger offensichtlich gewesen wären. Vielleicht hätte man Mitterer wieder unterstellt, die katholische Kirche fälschlicherweise anzuprangern und die Zustände drastischer darzustellen, als sie sind.

Abnutzungserscheinungen? [nach oben] 

„Skandale nutzen sich […] ab: Peter Handke hat sein Werk mit richtigen und wichtigen Skandalen begonnen. Aber irgendwann rechnete sein beschimpftes Publikum damit, dass jedes neue Buch von ihm ein Weltbild zerbrechen wollte. Es hatte sich an den Skandal gewöhnt – und damit war dem Autor ein Gestaltungsmittel aus der Hand genommen.“[40]

Dieser Punkt ist es vielleicht, der den größten Unterschied zwischen Stigma und Die Beichte ausmacht. In den Jahren nach der Uraufführung von Stigma schrieb Mitterer Stücke, Drehbücher und Hörspiele, vieles davon als Auftragsarbeiten. Um einige seiner Arbeiten gab es Kontroversen, natürlich nicht zuletzt um die Piefke-Saga, wenn auch nie mehr so heftige wie um Stigma. Natürlich verfolgten die Medien das mit viel Interesse. Zwangsläufig setzte damit eine gewisse Erwartungshaltung ein und mit ihr auch eine gewisse Gewöhnung.

In den Werken Felix Mitterers ist, von Kein Platz für Idioten an bis heute, ein roter Faden deutlich erkennbar. Im Zentrum stehen Außenseiter und Ausgestoßene. Dem Publikum werden immer wieder, häufig mit drastischen Mitteln, die Missstände in unserer Gesellschaft vor Augen geführt – von der Bühne aus, als Hörspiel und am Fernsehbildschirm. Felix Mitterer weiß das, sein Publikum weiß das und die Kritiker wissen es auch. Dieses Wissen wird in Rezensionen auch angesprochen: „Es wäre nicht Felix Mitterer, würde das Stück nicht wehtun.“[41] Teilweise schätzt man seine Art der Zuspitzung:

„Und Mitterer wäre nicht Mitterer, wenn er nicht noch ein Scheit drauflegte, indem er mit aller Härte die leidvollen Folgen zölibatären Scheiterns schildert, und zugleich versuchte, auch für die Not des Gescheiterten Verständnis aufzubringen […].“[42]– Teilweise hat man sie auch satt: „[…] Mitterer kann auch nicht lassen von seinem Hang zum ‚Knall-Kompott‘.“ „Ein solcher Overkill an Gräuel stumpft ab.“[43] So oder so – schockiert ist wohl so leicht niemand mehr von „eine[m] echten Mitterer“[44], einer typischen Mitterer-Arbeit.

Felix Mitterer, ein arrivierter Autor [nach oben] 

Pierre Bourdieu unterscheidet Künstler und Künstlerinnen innerhalb des literarischen Feldes in drei Gruppen: Zur ersten Gruppe zählen Autorinnen und Autoren, die produzieren, was der Markt verlangt und damit materielle Erfolge verbuchen können. Die zweite Gruppe – die Avantgarde – erwirbt sich anfangs nicht ökonomisches, sondern lediglich symbolisches Kapital – also Ansehen und Prestige. Sie sprechen ein kleines, intellektuelles Publikum an und richten sich nicht nach dem, was mit dem Markt konform geht, sondern arbeiten innovativ. Wenn sich ihre Arbeiten durchsetzen, die Autoren einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht und sich etabliert haben, wird die Avantgarde zur arrivierten Avantgarde, materieller Erfolg setzt ein und eine neue Generation von Avantgarde-Künstlern rückt nach.[45]

Sieht man einmal von der Tatsache ab, dass Stigma großen Besucherandrang für sich verbuchen konnte, was ja, wie oben ausgeführt, auch der Skandalisierung in der Berichterstattung geschuldet ist, kann man davon ausgehen, dass Felix Mitterer 1982 noch der Avantgarde zuzuordnen war. Stigma war – wie gerade an den Reaktionen auf das Stück ersichtlich ist – alles andere als marktkonform und entsprach nicht dem, was das potentielle Publikum von den Volksschauspielen erwartete. An Bekanntheit und symbolischem Kapital konnte Felix Mitterer durch Stigma gewinnen. 1984 wurde das Stück vom Suhrkamp-Verlag in den aktuellen Band seiner Spectaculum-Reihe aufgenommen, wo es neben Texten internationaler Dramatiker stand.[46] Mitterer erhielt außerdem zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem sollte er 1991 das Ehrenzeichen des Landes Tirol erhalten, welches er jedoch ablehnte: „[…] es ist nicht allzulang her, da hat mich das offizielle Tirol wüst beschimpft und versucht, mein Stück Stigma zu verhindern – und jetzt plötzlich die große Umarmung. Also nein, das ist mir unheimlich.“[47] 1992 wurden die ersten beiden Bände der mittlerweile vier Bände umfassenden Mitterer-Gesamtausgabe veröffentlicht: Felix Mitterer war „bereits ein Lesebuch-Autor.

Die Beichte entstand also zu einem Zeitpunkt, an dem Mitterer längst zu einer festen Größe im deutschsprachigen Literaturbetrieb geworden war. Elisabeth Zanon nennt ihn im Programmheft zu den Volksschauspielen Telfs 2004 einen „arrivierten, altbekannten“[48] Autor, die Wiener Zeitung zählt ihn „zu den meistbeachteten österreichischen Dramatikern“[49]. Seine jüngeren Arbeiten sind nicht mehr so innovativ – sein Stil und seine Arbeitsweise, seine „typische […] Handschrift“[50], sind bekannt, sie lösen keine Überraschung mehr aus und damit natürlich auch keine Skandale.

Damals skandalisiert, heute gefragt und geschätzt [nach oben] 

Felix Mitterer wohnt seit Kurzem wieder in Österreich, nachdem er fünfzehn Jahre in Irland verbracht hatte. Er hat nach wie vor viel zu tun: Am 28. August 2011 flimmerte der neueste von ihm geschriebene Tatort-Krimi Lohn der Arbeit über die Fernseh-Bildschirme. Er erreichte einen Quotenrekord: 6,6 Millionen Menschen schalteten ein. Im September wurde das Stück Du bleibst bei mir im Volkstheater in Wien uraufgeführt. Auch für die Zukunft gibt es große Pläne: Im Sommer 2012 soll bei den Schlossbergspielen in Rattenberg ein Stück von ihm über Franz von Assisi aufgeführt werden. Mitterer arbeitet außerdem an einer Jubiläumspassion für das 400-Jahr-Jubiläum der Passionsfestspiele in Erl. Auch eine Fortsetzung der Piefke-Saga, eine zweiteilige Russen-Saga, ist geplant.

Die Tiroler Volksschauspiele feierten diesen Sommer ihr 30-jähriges Jubiläum. Die Zusammenarbeit zwischen Mitterer und den Volksschauspielen blieb nach Stigma aufrecht: Mitterer ist heute Mitglied des Vorstands, außerdem standen in der 30-jährigen Geschichte des Theaters 18 mal Stücke oder Übersetzungen von ihm auf der Volksschauspiel-Bühne, häufig handelte es sich dabei um Uraufführungen.

Stigma hat nicht nur für Felix Mitterer, sondern auch für die Volksschauspiele zu Bekanntheit und Prestige geführt – trotz oder gerade wegen der Ereignisse rund um das Stück: „Dass STIGMA schließlich so ein großer Publikumserfolg wurde, lag sicher zum Teil an der unfreiwilligen Propaganda der Gegner […]“[51]. Der hohe Bekanntheitsgrad, den das Stück erreichte, trug dazu bei, dass aus Felix Mitterer eine feste Größe im Literaturbetrieb geworden ist und dass man auch die Volksschauspiele inzwischen als arriviert bezeichnen kann.

Im Rückblick bleibt also festzuhalten: Die Ereignisse um Stigma mögen zwar 1982 für alle Betroffenen sehr unangenehm gewesen sein, für ihre Karriere waren sie aber durchaus förderlich. Mitterer ist gefragt und verkauft sich gut. Wo die Tiroler früher teilweise ihr Nest beschmutzt sahen, sind sie heute stolz auf Felix Mitterer und seinen „untrüglichen Spürsinn für aktuelle ethische und gesellschaftliche Problematiken“[52]. Aus diesen Gründen werden heute auch neuere Stücke von ihm, die durchaus Potential für Auseinandersetzungen und Kontroversen enthalten, zwar diskutiert, aber ohne große Entrüstung aufgenommen. Er selbst meint dazu: „[…] die Leute wissen mittlerweile, daß ich nicht ‚gegen sie‘ schreibe. Doch eines steht für mich fest: Kunst muß auch weh tun, sonst bewegt sie nichts!“[53]

 

Linda Müller, 19.12.2011
Linda.Müller@student.uibk.ac.at

 


Anmerkungen:

[1] Johann Holzner: [Rezension zu] Felix Mitterer, Stücke 3. Innsbruck: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, 2002. (Abgerufen: 19.12.2012)

[2] Wenn Beklemmung kein schlechtes Gewissen weckt. Tiroler Tageszeitung, 17.8.1977.

[3] Felix Mitterer: Die Tiroler Volksschauspiele und der Wirbel um Stigma. In: [Ders.]: Stigma. Eine Passion. Feldafing: Brehm, 1983. S. 101–103, hier S. 103.

[4] Ebd., S. 101.

[5] Aus dem Gemeinderat. In: Haller Stadtanzeiger, 6.4.1982, zit. nach Gudrun Priester: Der Skandal um Felix Mitterers „Stigma“. Eine Analyse der Medienmechanismen. Universität Innsbruck, Diplom-Arbeit, 2006, S. 44.

[6] G.K.: Mitterers religiöses Volksstück „Stigma“ zwar gut gemeint, aber schlecht gemacht. In: Tiroler Tageszeitung, 13.5.1982.

[7] Niederegger, Gerhard: Zu Stigma von Felix Mitterer, zit. nach Priester: Der Skandal um Felix Mitterers „Stigma“, S. 48.

[8] Nachrichten der Europäischen Bürgerinitiativen zum Schutze der Menschenwürde, Nr. 5 (1982), zit. nach Priester: Der Skandal um Felix Mitterers „Stigma“, S. 49.

[9] Nachrichten der Europäischen Bürgerinitiativen zum Schutze der Menschenwürde, Nr. 27 (1982), zit. nach Priester: Der Skandal um Felix Mitterers „Stigma“, S. 49.

[10] Mitterer: Die Tiroler Volksschauspiele und der Wirbel um Stigma, S. 102.

[11] Bischof Stecher über „Stigma“, Wiener Kirchenzeitung, 8. August 1982, S. 9, zit. nach Franz Loidl: Über „Stigma“ von Felix Mitterer. (Für und wider). Wien: Arbeitskreis für Kirchliche Zeit- und Wiener Diözesangeschichte, 1983. (Miscellanea, N. R. 108).

[12] Vgl. Priester: Der Skandal um Felix Mitterers „Stigma“, S. 51–52.

[13] S. L.: Blutige Windel. In: Profil, 26. Juli 1982.

[14] Mitterers „Stigma“: Illustrierter Text. In: Tiroler Tageszeitung, 30.8.1983. 

[15] Passion als Psychothriller. In: Tiroler Tageszeitung, 24.7.2010.

[16] Passion einer Magd. In: Der Spiegel, Nr. 34 (1982), zit. nach Loidl: Über „Stigma“ von Felix Mitterer.

[17] Höpfel: Dem Mitterer graust halt vor gar nix. In: Neue Tiroler Tageszeitung, 20.8.1982.

[18] Senn: Skandal um Mitterers „Stigma“ blieb aus. In: Tiroler Tageszeitung, 20.8.1982.

[19] Fischer: Eine Passion wird zur Lokalposse. In: Süddeutsche Zeitung, 21./22.8.1982.

[20] Mitterer: Die Tiroler Volksschauspiele und der Wirbel um Stigma, S. 103.

[21] Senn: Skandal um Mitterers „Stigma“ blieb aus. In: Tiroler Tageszeitung, 20.8.1982.

[22] Stefan Neuhaus, Johann Holzner [Hrsg.]: Literatur als Skandal. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 2007, S. 13.

[23] Volker Ladenthin: Literatur als Skandal. In: Neuhaus, Holzner [Hrsg.]: Literatur als Skandal, S. 23.

[24] Die folgenden Zitate (1.–4.) nach Stefan Neuhaus: Wie man Skandale macht. Akteure, Profiteure und Verlierer im Literaturbetrieb. In: Matthias Freise, Claudia Stockinger [Hrsg.]: Wertung und Kanon. Heidelberg: Winter, 2010. (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, 44), S. 29–41, hier S. 40.

[25] Johann Holzner: Zur neueren und zeitgenössischen Literatur in Tirol. In: Sturzflüge (1982),  2, S. 58.

[26] Ebd.

[27] Walter Methlagl: Fragment über „Stigma“. In: Felix Mitterer: Stigma. Eine Passion, S. 108.

[28] Mitterer: Die Beichte (Vorbemerkung). In: [Ders.]: Stücke 4. Innsbruck: Haymon, 2007, S. 353.

[29] Ebd.

[30] Vgl. Mach: Die Frage nach der Absolution. In: Tiroler Tageszeitung, 10.12.003.

[31] Vgl. Hörspiel des Jahres: „Die Beichte“. In: Wiener Zeitung, 1.3.2004.

[32] Vgl.: Die Volksschauspiele werden tirolerischer. In: Tiroler Tageszeitung, 30.4.2004.

[33] Vgl.: Aktuelle Beichte. In: Oberösterreichische Nachrichten, 3.12.2004.

[34] Hörspiel-Preis für „Die Beichte“. In: Tiroler Tageszeitung, 27.1.2005.

[35] Theater im Schloss Vomp. In: Tiroler Tageszeitung, 8.4.2008.

[36] Passion als Psychothriller. In: Tiroler Tageszeitung, 24.7.2010.

[37] Helmut Schönauer: Die Beichte. In: Die Neue Südtiroler Tageszeitung, 27.7.2004.

[38] Vgl. Seyr: Frieden durch Vergebung und Einsicht. In: Dolomiten, 7.8.2004.

[39] Friedrich: Kirchen-Katharsis. In: Die Furche, 25.11.2004.

[40] Ladenthin: Literatur als Skandal, S. 26.

[41] Hinschauen. In: FF, 12.8.2004.

[42] Seyr: Frieden durch Vergebung und Einsicht. In: Dolomiten, 7.8.2004.

[43] Petsch: So geht es nun einmal zu in Knaben-Heimen! Wirklich? In: Die Presse, 16.4.2007.

[44] Theater im Schloss Vomp. In: Tiroler Tageszeitung, 8.4.2008.

[45] Vgl. Stefan Neuhaus: Literaturvermittlung. Wien: UVK, 2009. (UTB, 3285), S. 78–82.

[46] Vgl. Teuffenbach: Mitterer im illustren Kreis von Weltautoren. In: Tiroler Tageszeitung, 6.9.1984.

[47] Zit. nach Hubert Patterer, Gerhard Steiner: Verwüstete Landschaft, verwüstete Seelen. In: Felix Mitterer: Materialien zu Person und Werk. Innsbruck: Haymon, 1995 , S. 76.

[48] Tiroler Volksschauspiele Telfs 2004 (Programmheft).

[49] Hörspiel des Jahres: „Die Beichte“. In: Wiener Zeitung, 1.3.2004.

[50] Mach: Die Frage nach der Absolution. In: Tiroler Tageszeitung, 10.12.2003.

[51] Mitterer: Die Tiroler Volksschauspiele und der Wirbel um Stigma, S. 103.

[52] Seyr: Frieden durch Vergebung und Einsicht. In: Dolomiten, 7.8.2004.

[53] Scheuermann: „Gute Kunst muß auch weh tun!“ In: Arbeiter Zeitung, 9.12.1989.

 


Abbildung: Forschungsinstitut Brenner-Archiv