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Der "Heldenplatz"-Skandal von 1988

Ein Rückblick aus Anlass des verflossenen Bernhard-Jahres 2011. Von Michael Lenhart

 

Inhalt: Gestern und Heute - Die Skandalisierung eines noch unautorisierten Manuskripts - „Kulturkampf“ in Österreich - Die Provokateure Bernhard und Peymann - Das Burgtheater - Die Rolle der Medien - Fazit

 

Gestern und Heute

Als im September 2010 über die Premiere der Neuinszenierung von Thomas Bernhards Heldenplatz durch Philip Tiedemann am Theater in der Josefstadt berichtet wird, nimmt die eigentliche Theater-Kritik nur einen verhältnismäßig geringen Teil der Rezensionen ein. Stattdessen wir vor allem an die Uraufführung von 1988 erinnert – und damit an den wohl „größten Theaterskandal der 2. Republik“ (Dorothea Nikolussi-Salzer im Standard vom 6.10.2010). In der Frankfurter Rundschau vom 14.9.2010 heißt es dazu: „Vor 22 Jahren erregte eine unheilvolle Allianz aus aufgekratzten Medien und erbosten Politikern ein ganzes Land. Am Abend der Premiere wurde eine Fuhre Mist vor dem Burgtheater abgeladen, immer wieder unterbrachen Pfeif- und Klatschkonzerte die Vorstellung.“ Im Übrigen wird die Frage erhoben, wie aktuell das Stück nach nunmehr 22 Jahren überhaupt noch ist. Vielfach wird dabei die Ansicht vertreten – vor allem in den österreichischen Medien –, dass zumindest ein Teil der Österreich-Kritik Bernhards bzw. von dessen Figuren noch heute legitim sei. In der Kleinen Zeitung vom 8.9.2010 etwa ist zu lesen:

„Dass vielen gelernten Österreichern noch heute der Pawlowsche Geifer rinnt, wenn sie nur Bernhards Namen klingeln hören, wird den Virtuosen der Über­treibungskunst freuen. Ebenso, wie es ihn erschrecken wird, dass sein krasser Österreichbefund in ‚Heldenplatz’ immer noch Gültigkeit hat.“

Auch Norbert Mayer in der Presse meint: „Der ‚Heldenplatz’ ist würdig gealtert, […] im Kern aber ist er noch immer treffend wie einst.“ Margarete Affenzeller weist im Standard darauf hin, dass das Stück nach wie vor vom Skandal um die Uraufführung verdeckt wird, streicht allerdings auch die noch immer vorhandene Brisanz des Stücks heraus: „Das einst unter einem von aufgeregten Volksvertretern und Journalisten losgetretenen ‚Skandal’ meterdick verschütt gegangene und seither davon kaum abzulösende Theaterstück […] erzeugt heute […] immer noch seine Wirkung.“ Peter Kümmel in der Zeit  dagegen meint, die Schimpftiraden hätten mittlerweile an Wirkung eingebüßt, und auch Dirk Schümer (FAZ) stellt heraus, dass Helden­platz längst zu einem allgemein verträglichen „Klassiker“ geworden sei:„Da kommt der öster­reichische Bundespräsident […], um sich die erste Neuinszenierung vom ‚Helden­platz’ gemütlich aus der Loge anzuschauen und die Hasskanonaden gegen debile und national­sozialistische Sozialdemokraten matt zu beklatschen.“

Tatsächlich erregten die Neuin­szenierungen – auch das Tiroler Landes­theater Innsbruck brachte das Stück erneut auf die Bühne – keiner­lei öffentliches Aufsehen oder gar Empörung, geschweige denn einen Skandal.

Sieht man das Stück über die aus dem Exil ins „Waldheim-Österreich“ zurückgekehrte jüdische Familie Schuster heute auf der Bühne oder liest man es neu, fallen in der Tat einige Stellen auf, die sich auch als (stark übertriebene) Kritik an der aktuellen politischen Lage in Österreich lesen lassen. Die immense Empörung, mit der man Helden­platz im „Bedenk­jahr“ 1988 seitens der Medien, der Politik sowie großer Teile der Bevölkerung begegnete, lässt sich jedoch aus der bloßen Lektüre des Stücks nicht nach­voll­­ziehen. Im Gegenteil: Es war vor allem die fehlende Textkenntnis, die den Skandal erst möglich machte.

Die Skandalisierung eines noch unautorisierten Manuskripts [nach oben]

Schon zwei Monate vor der Kronen Zeitung druckt das Wochenmagazin Profil Aus­schnitte des eigentlich geheim zu haltenden, noch unautorisierten Stücks ab (und wenige Wochen darauf noch einmal). Allerdings erst durch die Veröffentlichung wiederum nur einzelner Ausschnitte in der mit großem Abstand auflagenstärksten Tageszeitung Öster­reichs wird Helden­platz auch einem breiten Publikum ein Begriff. Das Stück wird dabei prompt zum „Skandalstück“ deklariert. Als Beweis werden öster­reich­kritische bzw. die Nation (scheinbar) diffamierende Zitate („eine geist- und kultur­lose Kloake“) angeführt, freilich aber ohne den Zusammen­hang der Textstellen zu klären sowie ohne weitere Informationen zum ansonsten als „Übertreibungskünstler“ etikettierten Autor und dessen frühere Werke zu geben. Ironische Textstellen und solche, mit denen sich die Erregung der Figuren erklären ließen, bleiben ebenso unerwähnt wie die im Stück enthaltenen kritischen Bemerkungen zur österreichischen Medienland­schaft. Durch die selektive Auswahl von Zitaten und der Unterschlagung von Informationen, die die „Skandalträchtigkeit“ des Stücks relativieren würden, wird statt­dessen der Eindruck erweckt, das Stück bestehe aus­schließlich aus Öster­reich-Beschimpfungen, wobei auch noch bewusst darauf verzichtet wird, zwischen Figurenrede und Autormeinung zu unterscheiden, wenn etwa unter einer Abbildung Bernhards zu lesen ist: „‚Österreichs unmündiges Volk’: Bernhard.“ (Kronen Zeitung, 7.10.1988)

Zwei Tage später ist auf dem Titelblatt der Krone zu lesen: „Steuerzahler soll für Öster­reich-Besudelung auch noch bezahlen!“ Eine Vielzahl von PolitikerInnen hatte sich, befragt von der Kronen Zeitung, zur „Causa Heldenplatz“ geäußert: Vor allem ÖVP- und FPÖ-Abgeordnete sprechen sich gegen die Aufführung des Stücks (an einem Bundestheater) aus, etwa wenn Vize-Kanzler Mock der Linie der Kronen Zeitung folgt und es für „unakzeptabel“ hält, „diese Auf­führung mit Steuergeldern zu finanzieren“ (Kronen Zeitung, 9.10.1988); oder wenn FPÖ-Obmann Haider ein Karl-Kraus-Zitat gegen Burgtheater­direktor Peymann richtet: „Hinaus mit diesem Schuft aus Wien!“ (Kronen Zeitung, 12.10.1988). Ebenso lassen sich Alt-Kanzler Kreisky („Das darf man sich nicht gefallen lassen!“ Kronen Zeitung, 10.10.1988) und der selbst äußerst umstrittene Bundes­präsident Waldheim („Ich halte das Stück für eine grobe Beleidigung des öster­reichischen Volkes und lehne es daher ab!“ Kurier, 11.10.1988) dazu hinreißen, die Stimmung gegen Bernhard und Peymann anzuheizen. Was folgt, ist eine von der Kronen Zeitung initiierte Debatte um die „Freiheit der Kunst“, die von Peymann/Bernhard nur als eine Art Deckmantel miss­braucht würde, um Österreich ungestraft beschimpfen zu können (vgl. Peter Gnam: Kloake. In: Kronen Zeitung, 12.10.1988; Richard Nimmerrichter: Aber nicht auf unsere Kosten! In: Kronen Zeitung, 13.10.1988). Der damalige Krone-Heraus­geber Hans Dichand erhebt gar den Vorwurf, bei den abge­­druckten Zitaten handle es sich um „Ehrenbe­leidigungen, Schmähungen und Verleumdungen […], also Gesetzesverletzungen.“ (Vor Sonnenuntergang. In: Kronen Zeitung, 11.10.1988).

Die Wirkung der Hetze zeigt sich prompt in Form zustimmender, mitunter die Empörung noch verstärkender Leserbriefe, aber auch direkt gegen Peymann und Bernhard gerichteter, mitunter Drohungen enthaltender Verleumdungsschreiben. Auch wird der entfachte Skandal schnell in den übrigen österreichischen Medien aufgegriffen; in den meisten allerdings wird darauf verzichtet, sich von der Vorgehensweise der Kronen Zeitung zu distanzieren – oder aber man schließt sich der Kampagne sogar an. So etwa schließt auch die bürgerlich-konservative Tages­zeitung Die Presse aus den wenigen veröffentlichten Textstellen auf einen Skandal und zeichnet das (Feind-)Bild eines „Nest­beschmutzers“ Bernhard, dem von einem „ausländischen“ Burg-Direktor gestattet würde, im „altehr­würdige[n] einstige[n] deutsche[n] National­theater“ eine „Öster­reich-Beschimpfung“ aufzuführen (Hans Werner Scheidl: „Heldenplatz“ und die Folgen. In: Die Presse, 12.10.1988). Wird doch einmal darauf hinge­wiesen, dass noch niemand das ganze Stück kenne, folgt die tendenziöse Ein­schätzung, „die veröf­fentlichten Fragmente lassen Übles erwarten, auch in politischer Hinsicht.“ (Thomas Chorherr: Ganz falsche Töne. In: Die Presse, 13.10.1988).

Wie kunst- und künstlerfeindlich die Stimmung im Vorfeld der Premiere in Österreich ist, zeigt schließlich auch der Umstand, dass sich selbst die liberale Tageszeitung Der Standard der Kampagne anschließt: Zwar wird anfangs durchaus die Fragwürdigkeit des Umgangs mit den noch unautorisierten Textstellen thematisiert und der Skandal damit – jeden­falls implizit – als Medienskandal (und nicht als Literaturskandal) einge­ordnet:

„Man kümmert sich nicht um das Ganze und veran­staltet vor den an langen Texten so wenig interessierten Österreichern das, was ihnen am meisten liegt: ein theatralisches Palaver. Verhindert wird eine Bewertung der künstlerischen Qualität, weil die plakativen Schlagzeilen die Debatte bestimmen.“ (Gerfried Sperl: Politiker sollten schweigen lernen. In: Der Standard, 13.10.1988)

Am Vortag der Uraufführung allerdings meldet sich Standard-Kulturressortleiter Peter Sichrovsky zu Wort und tritt mit seinem Kommentar Stürmt den Heldenplatz! vom 4.11.1988 für einen Helden­platz-Boykott ein: Um seinem Urteil, das Stück sei „[b]anal, polemisch, einfältig, verfälschend, dumm und gefährlich“ Autorität zu verschaffen, gibt Sichrovsky einerseits an, den Text zu kennen (auch wenn eine endgültige Fassung zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen ist), und beruft sich anderer­seits auf seine jüdische Abstammung. Dabei sieht sich Sichrovsky „benutzt“ und verun­glimpft; jüdische Heimkehrer würden nicht adäquat portraitiert, stattdessen „läßt ein Bochumer Theaterdirektor mit Hilfe eines öster­reichischen Schriftstellers einen Wiener Juden bellen wie einen deutschen Schäfer­hund.“ Sichrovsky erinnert an den Boykott des Fassbinder-Stücks Der Müll, die Stadt und der Tod drei Jahre zuvor in Frankfurt am Main und endet mit den Worten: „Das Stück wurde nicht verboten. Bei der Premiere wurde allerdings die Bühne besetzt und das Stück konnte nicht gespielt werden. Schön, was in einer Demokratie alles möglich ist….!“

Den Skandal selbst skandalisieren dagegen nur wenige österreichische Medien. Sigrid Löffler etwa schreibt im Profil:

„Österreich [ist] gegenwärtig mit nichts so sehr beschäftigt wie damit, Bernhards schlimmste Übertreibungen und gemeinste Verzerrungen nicht Lügen, sondern Wahrheit zu strafen. Österreich führt sich auf, als sei es eine Bernhard-Inszenierung.“ (Sigrid Löffler: Farce. Tobsuchtsanfall. Weltblamage. In: Profil, 17.10.1988)

Vorwiegend aber ist es die ausländische, vor allem die deutsche Presse, die sich mit dem Skandal kritisch auseinandersetzt. Michael Frank beispielsweise schreibt in der Süddeutschen Zeitung vom 13.10.1988: „Man ist sich in Wien gut genug dafür, aufgrund einiger weniger bruchstückhafter Zitate […] die nationale Ehre besudelt zu sehen.“ Und Peter Iden (Frankfurter Rundschau) meint:

„[E]rschreckend ist der spürbare Haß in den Äußerungen der Gegner zu dem ihnen unbe­kannten ‚Heldenplatz’, jämmerlich der Opportunismus fast aller Politiker […], schmerzlich wird sichtbar, daß in Wien keine Presse existiert, die als Korrektiv wirken könnte.“ (Peter Iden: Ein Jubiläum als Schlachtfest. In: Frankfurter Rundschau, 14.10.1988)

In der Kronen Zeitung dagegen kontert Kurt Seinitz mit Verweis auf die zwei Jahre zurückliegende Waldheim-Affäre:

„Welches Ausland bitte? Es handelt sich doch wohl wiederum nur um jene ausländischen […] Kreise, die sich bis heute nicht schämen, daß sie mit gefälschten Dokumenten und Verleumdungen eine Anti-Waldheim- und Anti-Österreich-Kampagne inszeniert haben.“ (Kurt Seinitz: Das Ausland ist empört. In: Kronen Zeitung, 15.10.1988)

Die Heldenplatz-GegnerInnen lassen sich nicht abbringen. Um zu verhindern, dass es zu einem Boykott kommt, sieht man sich veranlasst, die Uraufführung durch den Einsatz von PolizistInnen in und um das Burgtheater zu schützen. Zuvor hatten sich schon einige Gruppen angekündigt, um Demonstrationen und Gegen­demonstrationen abzu­halten. Noch einmal schießt sich deshalb die Kronen Zeitung auf Burgdirektor Peymann ein, da dieser die Proteste (womöglich von Neo-Nazis) nicht verhindern wolle, um damit nur noch einen Skandal auszulösen, der Österreich im Ausland lächerlich machen könnte (vgl. Peter Gnam: Bei „Heldenplatz“-Premiere Polizeischutz für die Burg und Warten auf Peymann. In: Kronen Zeitung, 4.11.1988). Zudem wird auf die Kosten des Polizeieinsatzes hinge­wiesen, zugleich aber eine Krone-Werbung inseriert, die das brennende Burgtheater zeigt; darunter ist zu lesen: „Uns ist nichts zu heiß!“

Nach der Premiere plötzlich aber ist der Skandal, so heftig die Auseinandersetzungen im Vorfeld auch waren, weitgehend verflogen; das Stück hat sich als weit weniger skandalös erwiesen als angenommen. Von Seiten der RezensentInnen wird in den darauf folgenden Tagen schon auf die öffentliche Empörung während der vergangenen Wochen zurückgeblickt: Im Standard etwa ist der Artikel zur Premiere mit dem Satz Wir waren besser überschrieben. In seinem satirischen Einstieg fragt Peter Huemer, ob die Wirklichkeit durch das Stück eigentlich noch hätte übertroffen werden können, und verneint: „Kunst, die sich auf das wirkliche Leben einläßt, muß sich hüten: Sie könnte von diesem überholt werden. So ist es Bernhard ergangen.“ (Der Standard, 7.11.1988)

Peter Iden dagegen bemerkt: „Es ist ein Verdienst Bernhards und der Theaterpolitik von Claus Peymann, für alle sichtbar gemacht zu haben, wie verkommen das Diskussionsvermögen in Wien heute wirklich ist.“ (In der Falle, die Österreich heißt. In: Frankfurter Rundschau, 7.11.1988).. Die Kronen Zeitung beklagt hingegen, dass der große Skandal ausgeblieben ist, was Oliver Bentz wie folgt kommentiert: „Es war, als ob der Zauberlehrling, der die Geister rief, die aber nicht kamen, nun einen Schuldigen für sein Versagen suchte.“[1] In der Presse schließlich ist ein Totalver­riss zu lesen, in dem noch einmal implizit die als Vorwurf gemeinte Frage gestellt wird, warum man ausgerechnet „Österreich-Hasser“ Bernhard mit einem Stück zum Bedenkjahr beauf­tragen musste; Rezensent Hans Haider resümiert: „Verloren, verspielt ist alles, womit das Bedenkunternehmen begonnen hat.“ (Geistesadel – so banal wie geschwätzig. In: Die Presse, 7.11.1988).

Weitgehend einig aber ist man sich darin, dass Heldenplatz nicht zu Bernhards besten Stücken gehört, und auch, dass dieses von selbst einen solchen Skandal nicht hätte auslösen können.

Doch auch die Skandalisierung von aus ihrem Zusammenhang gerissenen Textstellen allein erklärt die große öffentliche Aufregung um Heldenplatz nur teilweise. Es kommen noch weitere Faktoren bzw. Voraussetzungen hinzu: die österreichische Medienlandschaft, die gesell­schaftliche Bedeutung des Burgtheaters, Habitus und symbolisches Kapital von Thomas Bernhard und Claus Peymann sowie die politische Stimmung in Österreich nach der Waldheim-Affäre.

„Kulturkampf“ in Österreich [nach oben]

Man muss weitere zwei Jahre zurückblicken, um die politische Stimmung in Österreich im Premierenjahr 1988 zu erklären: Im Zuge der Waldheim-Affäre wird offenkundig, dass noch vier Jahrzehnte nach der Befreiung Österreichs vom Hitler-Regime eine gründliche Aufarbeitung der eigenen NS-Vergangen­heit durch die allgemein vertretene These behindert wird, lediglich das „erste Opfer“ der deutschen Eroberungsfeldzüge gewesen zu sein. Die öster­reichische Bevölkerung ist infolge der aufkommenden Ausein­andersetzung um die Vergangenheit Österreichs bzw. um den „richtigen“ Umgang damit stark polarisiert; verschärft wird die Stimmung durch Proteste aus dem Ausland. Wer Kritik am eigenen Land übt, gilt infolgedessen schnell als „Nestbeschmutzer“ oder „Vater­lands­ver­räter“. Die ÖVP reagiert mit einer Art Trotz-Wahl­kampf („Wir wählen, wen wir wollen!“), in dem – als gelte es eine Bestätigung für die unterbliebene Aufarbeitung der NS-Zeit zu liefern – zunehmend antisemitische Vorurteile zutage treten.[2] Schließlich wird Waldheim entgegen aller Einwände und Be­denken zum neuen Bundes­präsidenten gewählt, was laut Peter Kreisky maßgeblich erreicht wird durch die „Nutzung verbreiteter Ressentiments und para­nazistischer Stereo­typien, die in Österreich bis heute hegemonial sind, und gegen die wenig Einwände erhoben werden.“ [3]

Außenpolitisch bedeutet die Wahl Waldheims eine weitgehende Isolation des österreichischen Staatsoberhaupts; innerhalb Österreichs dagegen gehen die Kämpfe um die Deutungshoheit weiter. Allerdings verlagert sich die Auseinandersetzung mehr und mehr auf Fragen der Kulturpolitik – reagieren mittlerweile doch zahlreiche KünstlerInnen mit gesellschaftskritischen Arbeiten auf das politische Klima in Österreich. Sigrid Löffler unterscheidet in der Folge zwischen zwei Ebenen eines im Anschluss an die Waldheim-Affäre entbrannten „Kulturkampfs“:

„Auf der untersten, der grauslichsten Ebene geht’s um die günstige Gelegenheit, unter dem Deckmantel der moralischen Entrüstung ungestraft dem Haß gegen Juden, Ausländer, Kummerln – und Künstler ganz allgemein – freien Lauf zu lassen. […] Binnen knapp einem Jahr ist es gelungen, alle gängigen Vorurteilsstereotypen mit passenden Haßfiguren aus der Kunstszene zu besetzen und der Öffentlichkeit einzuprägen.“ (Sigrid Löffler: Über und unter der Budel. In: Profil, 1.8.1988) [4]

Auf einer „höheren“ Ebene handelt es sich jedoch um den „Kampf um die kulturelle Vor­herrschaft“ in Österreich: Eine Art „Stellvertreterkrieg“ also, in dem insbesondere die ÖVP ihre Ablehnung gegenüber (autonomer) Kunst kundtut, um somit nicht nur die eigene Position im Macht-Feld – gegen gesellschaftskritische und daher gerade die Herrschenden im Macht-Feld infrage stellenden KünstlerInnen – zu verteidigen, sondern auch, um diese gegenüber der (liberaleren) Konkurrenz vor allem der SPÖ zu verbessern. Unterstützung findet die politischen Rechte, zu der auch die populistische, seit Ende der 1980er mehr und mehr erstarkende FPÖ gehört, von der in Österreich übermächtigen konservativen Presse, allen voran der Kronen Zeitung, die zum kunstfeindlichen Klima erheblich beiträgt, indem sie dem „Volkszorn“ Argumente liefert bzw. diesen mit ihrer (rechts-) populistischen Künstlerhetze entfacht und der SPÖ eine zu tolerante Haltung vorwirft. Folglich sieht sich die stärkste Partei im Parlament auch immer mehr in die Defensive gedrängt und erweist sich schließlich als unfähig zu verhindern, dass „der Freiraum der Kunst immer mehr eingeschränkt“ wird (vgl. Siegfried Löffler: Über und unter der Budel. In: Profil, 1.8.1988).

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die durch die Kronen Zeitung sowohl initiierte als auch emotionalisierte Kunst-Debatte um Heldenplatz als Wahlkampfthema im Vorfeld der Landtagswahlen in Niederösterreich aufgegriffen wird.[5] Doch abgesehen vom Wahlkampf scheint es angesichts der kunstfeindlichen Stimmung in Österreich und des hohen „Erregungswerts“ der Auseinandersetzung um den österreichischen Nationalsozialismus nicht ganz unwahrscheinlich, dass nach der Aufregung um die Inszenierung des Franz-Schmidt-Oratoriums Das Buch mit sieben Siegeln in der Salzburger Universitätskirche durch Tabori und der Errichtung des NS-Mahnmals Hrdlickas in Wien auch noch weitere Skandale möglich sind. Was es dafür braucht, sind vor allem KünstlerInnen mit möglichst hohem symbolischem Kapital bzw. Bekanntheitsgrad, ein angesichts des Bedenkjahrs brisantes Werk und dessen öffentlichkeitswirksame Platzierung.

Die Provokateure Bernhard und Peymann [nach oben]

1988 ist nicht nur ein „Bedenkjahr“ (50 Jahre Anschluss Österreichs ans „Dritte Reich“); es soll auch das 100jährige Jubiläum des Neuen Burgtheaters am Michaelerring gefeiert werden. Burgdirektor Peymann gibt zu diesem Anlass bei Bernhard – mittlerweile eine Art „Hausautor“ des Burgtheaters – ein Stück in Auftrag. Waren die Festivitäten zum Gedenken an den Anschluss noch vorwiegend von der ÖVP dominiert, soll jetzt möglichst öffentlichkeitswirksam ein Gegendiskurs geschaffen werden.

Kaum jemand scheint dafür besser geeignet als Thomas Bernhard, der schon seit Beginn seiner Karriere einer österreichkritischen Tradition angehört, die von Nestroy über Karl Kraus bis zu Ödön von Horváth reicht und mit Turrini, Jelinek, Felix Mitterer und einigen anderen auch in der Gegenwartsliteratur fortgeführt wird. Zwar nimmt Bernhard damit zunächst in Kauf, nur ein kleines Publikum innerhalb des literarischen Feldes anzusprechen, das vor allem seine literarischen Qualitäten erkennt. Doch bereits mit seinem ersten Roman Frost von 1963 bzw. durch dessen Originalität, einer erstmals breiteren (und durchaus positiven) Besprechung seines Werks, dem Lob von KonkurentInnen (vor allem durch Carl Zuckmayer und Ingeborg Bachmann) und dem baldigen Wechsel zum renommierten Suhr­kamp-Verlag erwirbt Bernhard einiges symbolisches Kapital. Darauf basierend steigt folglich auch sein Bekanntheitsgrad außerhalb des literarischen Feldes: Vor allem durch Interviews, Leserbriefe oder Dankesreden bei Preisverleihungen, in denen er sich gegen den österreichischen Staat, Teile seiner Bevölkerung, den Katholizismus, die unzulängliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus oder auch gegen KonkurrentInnen richtet, löst Bernhard trotz (oder wegen) der Undifferenziertheit und Übertreibungen in seinen Äußerungen öffentlichkeitswirksame Skandale aus.[6]

Beides, die durch die nachfolgenden Werke bestätigte und vielfach gesteigerte Anerkennung im literarischen Feld (auch im Ausland) sowie die Bekanntheit und Wirkung in externen Feldern (vor allem in Österreich), führen dazu, dass Bernhard in den 1980er Jahren längst der arrivierten Avantgarde angehört und zu den wichtigsten AutorInnen im deutschsprachigen Raum gezählt wird.[7] Eine Neuerscheinung oder (Ur-)Aufführung eines Bernhard-Werks wird deshalb automatisch in allen wichtigen, überregionalen Feuilletons und – zumindest in Österreich – mitunter auch in Kulturthemen geringer gewichtenden Medien besprochen. Damit verändern sich auch die „soziale Qualität des Publikums“[8] und in der Folge die öffentliche Wahrnehmung bzw. Bewertung des Autors: Während anfangs professionelle bzw. den „intellektuellen Fraktionen“[9] angehörende LeserInnen Bernhards Werk konsumieren und dieses an Kriterien wie „literarische Qualität“ und „Irritationspotenzial“ messen, kommen nun auch Jene direkt oder indirekt damit in Kontakt, die über diese Bewertungsmaßstäbe nicht verfügen (und stattdessen vor allem moralische Kriterien ansetzen) bzw. deren jeweiliger Geschmack mit autonomer Literatur (noch) inkompatibel ist. Dementsprechend wird Bernhard trotz seines Ranges im literarischen Feld von vielen – vor allem mit konservativer Weltanschauung – negativ, als Provokateur, bisweilen auch als „Nestbe­schmutzer“ gesehen.

Mit Heldenplatz legt Bernhard nun ein Stück vor, in dem er dieses Bild bei seinen GegenerInnen ein weiteres Mal bestätigt: Wie schon in früheren Werken stehen auch diesmal sogenannte „Geistesmenschen“ im Mittelpunkt – intellektuelle, vom gesellschaftlichen Leben weitgehend isolierte, monologisierende, mit zahlreichen Spleens behaftete Figuren, die aus einer Greisen-Perspektive heraus undifferenziert und hyperbolisch auf die Welt schimpfen und sich dabei teils selbst in Widersprüche verwickeln. Im Fall der Familie Schuster richtet sich die Erregung ein weiteres Mal vor allem gegen Österreich: So ist die Rede von „sechseinhalb Millionen Debile[n]“ im „gemeingefährlichsten aller europäischen Staaten“ und von „mehr Nazis in Wien / als achtunddreißig“. Die im Stück zumeist generalisierenden Urteile verweisen durchaus auf die Geschehnisse während und nach der Waldheim-Affäre (Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit und Vergangenheitsverklärung). Durch Übertreibung und Pauschalisierung allerdings werden die Vorwürfe unpräzise, durchaus auch komisch, und sagen letztlich mehr über Persönlichkeit und Psyche der Figuren aus als über die tatsächlichen gesellschaftlichen Zustände in Österreich. Die eigentliche Kritik liegt dagegen vielmehr in der grundsätzlichen Verbitterung und Verzweiflung der Intellektuellen an der Ignoranz ihrer Umwelt bzw. umgekehrt in der offenbar zerstörerischen Wirkung der „geistlosen“ Umwelt auf die – von Bernhard durchaus ironisierte – Geisteselite. Der Freitod Josef Schusters bzw. die Schlussszene des Stücks lassen sich demgemäß als Sinnbilder für das Zugrundegehen der Intelligenz am herrschenden, die NS-Vergangenheit verdrängenden Diskurs respektive an der dahinter stehenden, von der Masse gestützten und ausgeübten Macht interpretieren. Das Einspielen von Originalaufnahmen des Jubels Tausender ÖsterreicherInnen bei der Heldenplatz-Rede Adolf Hitlers anlässlich des so genannten „Anschlusses“ von 1938 fungiert schließlich als provokante Erinnerung für ein uneinsichtiges Publikum.

Mit Claus Peymann nimmt sich in der Folge ein Regisseur des Stücks an, der – bereits vor seiner Berufung nach Wien als einer der profiliertesten Theatermacher im deutschsprachigen Raum geltend – ebenfalls über hohes symbolisches Kapital verfügt. Durch teils kontroverse (Klassiker-)Inszenierungen und die Förderung zeitgenössischer AutorInnen wie Peter Handke, Peter Turrini, Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard, die sich besonders durch gesellschafts- und österreichkritische Stücke auszeichnen und/oder ein bürgerliches Theater ablehnen, hat sich Peymann außerdem auch den Ruf eines Provokateurs erarbeitet. Wiederum vor allem konservative Kreise bzw. RepräsentantInnen der herrschenden Schicht im Macht-Feld hat Peymann durch seine Inszenierungen, aber auch durch Äußerungen in den Medien immer wieder vor den Kopf zu stoßen verstanden und somit für Skandale gesorgt, die nicht zuletzt immer auch den eigenen Bekanntheitsgrad steigerten.[10] Peymanns Berufung ans staatliche Burgtheater wird deshalb gerade von den Verantwortlichen der bürgerlichen ÖVP kritisch gesehen, deren Einwände allerdings vom damaligen Kulturminister Zilk (SPÖ) übergangen werden. Eine Konfrontation zwischen Peymann und Teilen der politischen VertreterInnen Wiens und Österreichs bzw. der einflussreichen, konservativen Wiener Presse ist somit im Grunde schon von Anfang an absehbar. Als tatsächlich im August 1988 in der Zeit ein „Skandal-Interview“ erscheint, in dem Peymann Präsident Waldheim der Lüge bezichtigt, dessen Lob eine „Vergewaltigung“ nennt, den ÖsterreicherInnen „Kadaver-Gehorsam“ vorwirft und meint, „[m]an müßte [das Burgtheater] von Christo verhüllen und abreißen lassen“, wird auch Peymann Zielscheibe des von Sigrid Löffler konstatierten „Kulturkampfs“. Die große Aufregung in Presse, Politik und Bevölkerung ist allerdings nicht allein durch die politische Stimmung in Österreich zu erklären; die Empörung hätte sich wahrscheinlich in Grenzen gehalten, wäre Peymann nicht Direktor des Burgtheaters gewesen.

Das Burgtheater [nach oben]

Im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Bühnen gilt das zu den Bundestheatern gehörende und damit staatlich subventionierte „österreichische Nationaltheater“– jedenfalls vor Peymanns Direktion – als ein besonders konservatives Haus[11], das zu jenen „klassischen Theatern“ zu zählen ist, die nach Bourdieu

„neutrale Stätten bilden und ihr Publikum in etwa gleich stark aus allen Bereichen des Macht-Feldes schöpfen; ihr Angebot sind neutrale und eklektische Programme, ‚Avantgarde-Boulevard‘ […] oder kanonisierte Avantgarde.“[12]

Allerdings ist der Begriff „neutral“ etwas irreführend, lässt sich darunter doch auch die Freiheit von Ideologie verstehen. Durch die ursprünglich von Adel und Bürgertum erzeugte gesellschaftliche Bedeutung des Burgtheaters und die Bevorzugung von (österreichischen) „Klassikern“ entstand jedoch vor allem für die bürgerlichen Schichten durchaus ein Symbol zur Abgrenzung von kritisch-linkem und/oder avantgardistisch-experimentellem Theater sowie von einem dem (populären) Geschmack der „Masse“ angeglichenen Boulevard-Theater. Die große Bedeutung des Burgtheaters als einstiges Nationaltheater, als traditionell wichtiger gesellschaftlicher Treffpunkt, wie auch als beliebtes Gesprächsthema innerhalb der herrschenden Klasse ließ die „Burg“ allerdings auch zu einem auch auf andere Gesellschaftsschichten ausstrahlendes Wahrzeichen (vermeintlicher) kultureller Identität werden. Folglich stellt das Burgtheater auch eine weithin sichtbare Projektionsfläche für öffentliche Auseinandersetzungen um kulturelle Werte dar, weshalb auch vor allem der Wahl des Burgtheaterdirektors stets große Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Im Fall Peymann löst die Bekanntgabe der Vergabe des Intendantenpostens großes Unverständnis in der bürgerlich-konservativen Presse, den Boulevardblättern, bei zahlreichen PolitikerInnen und in Teilen der Bevölkerung aus. Der Unmut steigert sich noch, als Peymann SchauspielerInnen aus Bochum mit nach Wien bringt und mehrere Reformen anstößt.[13] Vor allem Die Presse attackiert Peymann – d. h. die bevorzugte Tageszeitung eines Burgtheaterpublikums, das durch den Einsatz deutscher SchauspielerInnen die traditionelle Bühnensprache am Burgtheater gefährdet sieht sowie die verringerte Präsenz von „Klassikern“ zugunsten zeitgenössischer bzw. zeitkritischer Stücke beklagt. Dabei sind die Vorlieben des bürgerlichen Publikums einigermaßen klar definiert:

„Während die ‚intellektuellen’ Fraktionen vom Künstler eher einen symbolischen Protest gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihre dogmatische Darstellung in der ‚bürgerlichen’ Kunst erwarten, verlangt der ‚Bourgeois’ von seinen Künstlern, Schriftstellern und Kritikern […] Distinktionsattribute, die zugleich als Instrumente zur Verleugnung der gesellschaftlichen Wirklichkeit taugen.“[14]

Die Ansetzung eines Bernhard-Stücks – und nicht eines Klassikers à la Grillparzers König Ottokars Glück und Ende – zum Anlass der Jubiläumsfeier sowie die Absicht, den Inhalt des Stücks bis zur Uraufführung geheim zu halten (um damit möglicherweise die Sensationsgier der Presse zu wecken), werden folglich prompt als Indizien für einen angestrebten Theater-Skandal bewertet.[15]

Die Rolle der Medien [nach oben]

Tatsächlich bemühen sich einige JournalistInnen darum, den Text noch vor der Uraufführung zu erhalten, um möglichst exklusiv berichten oder aber einen Skandal entfachen zu können. Dabei hängt das Gelingen einer kunstfeindlichen Kampagne – abgesehen von den bereits genannten Faktoren – wesentlich mit den Eigenheiten der österreichischen Medienlandschaft zusammen:

„Nach dem Niedergang der ehemals mächtigen sozialistischen und liberalen Blätter fehlt es […] an einem Korrektiv zu den sich in der Hand von konservativen Eignern konzentrierten Pressekonzernen, die den Medienmarkt dominieren.“[16]

Allen voran ist hier die Initiatorin des Skandals, die Kronen Zeitung, zu nennen: Aufgrund ihrer Reichweite von rund 40 % in Österreich ist der politische Einfluss des Boulevardblatts nicht zu unterschätzen – wie auch die Bereitwilligkeit der PolitikerInnen, sich der Skandalisierung von Heldenplatz anzuschließen, zeigt. Dabei erreicht die Krone mit ihrer konservativen, bisweilen auch reaktionären Linie einen Großteil der österreichischen Bevölkerung mit geringem kulturellem Kapital, die an Kunst eher „kulinarische“ Ansprüche stellt und autonomer bzw. avantgardistischer Kunst mit Unverständnis oder Abneigung begegnet. Folglich nützen die RedakteurInnen der Kronen Zeitung zum Zweck der Heldenplatz-Skandalisierung die Unkenntnis ihrer LeserInnen bzw. folgen deren bereits vorhandenen Vorurteilen gegenüber KünstlerInnen – Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang gar von einem „ethischen Abscheu vor dem Künstler“[17] bzw. vor dessen ästhetischer (und daher vor allem dem „kleinbürgerlichen Moralismus“ zuwiderlaufender) Einstellung, die sich sowohl im Werk als auch im Lebensstil manifestiert.

Die Vorgehensweise der Kronen Zeitung ist dabei einigermaßen simpel: Nachdem zunächst das patriotische Ehrgefühl jedes/r Einzelnen aufgrund der ausgewählten Heldenplatz-Zitate für beleidigt erklärt wird, greift man als nächstes ein ebenso emotional aufgeladenes Thema auf, nämlich das „sauer verdiente“ Steuergeld: Das (angebliche) ökonomische Interesse von KünstlerInnen an einem öffentlichen Skandal wird gegen die Geldsorgen der an ökonomischem Kapital armen, gegenüber (autonomer) Kunst skeptisch eingestellten Unter- und Mittelschicht aufgerechnet.[18]

Weiter aufgebauscht wird der Fall durch die Kriminalisierung Peymanns und Bernhards, deren angebliche Beleidigung der österreichischen Bevölkerung als Straftatbestand ausgegeben wird – womit erneut die Unwissenheit der LeserInnen ausgenützt wird. Die damit angestoßene Diskussion um die „Freiheit der Kunst“, die implizit auch eine Debatte um „gute“ Kunst ist, wird zugunsten der „beleidigten“ BürgerInnen ausgelegt. Die eigentlich folgerichtige Forderung nach Zensur wird allerdings nicht ausdrücklich erhoben, wohl auch angesichts der zu erwartenden negativen Wirkung über Österreich hinaus.

Zwar ist die Kampagne darauf ausgelegt, vor allem LeserInnen mit geringerem Bildungsgrad gegen die Aufführung des Stücks aufzubringen; es darf allerdings durchaus davon ausge­gangen werden, dass die fragwürdige Berichterstattung der Kronen Zeitung auch bei LeserInnen mit höherem kulturellem Kapital Zustimmung finden kann: Jene nämlich, die eine Beibehaltung der vorhandenen Ordnung im Macht-Feld oder gar eine Veränderung der politischen Verhältnisse im Sinne eines Umschwungs „von rechts“ befürworten und deshalb einer gesellschafts- und heimatkritischen Kunst ablehnend gegenüberstehen, sehen in einer solchen Kampagne ihre Interessen vertreten.

Weitaus typischer allerdings ist eine konservative Leserschaft mit vergleichsweise hohem kulturellem, aber auch mit hohem ökonomischem Kapital für die bürgerliche Tageszeitung Die Presse, die wie in den Fällen Tabori und Hrdlicka nun erneut Interesse an der Verteidigung der gesellschaftlichen Verhältnisse bzw. an der Verunglimpfung kritischer Literatur zeigt. Gemäß der primären Zielgruppe der Presse aber wird dabei weniger mit ökonomischen Argumenten vorgegangen, sondern vielmehr die Unterscheidung von autonomer und „guter“, in diesem Fall bürgerlicher Kunst hervorgehoben:

„Es wird also wieder einmal ein Fest für Austromasochisten geben, wobei, wie bei allen ähnlichen Diskussionen, eine Frage unbeantwortet bleiben dürfte: Hat das alles nicht auch mit gutem Geschmack zu tun? Oder, anders formuliert: Könnte das neue Stück nicht am Ende geschmacklos sein?“ (Thomas Chorherr: Ganz falsche Töne. In: Die Presse, 13.10.1988)

Es wird also angedeutet, Heldenplatz sei einer bürgerlichen Kultur-Institution wie dem Burgtheater nicht angemessen. Die „bekannte Bernhard-Suada“ wird als plump abgetan, sie gleiche dem „Echo aller Biertischrevolten gegen alles und jeden im Lande Österreich.“ (Hans Haider: Zu billig, dieses letzte Wort. In: Die Presse, 11.10.1988). Zudem wird das „Peymann-Publikum“, das eher den „intellektuellen Fraktionen“ angehört und sich damit im Geschmack vom bürgerlichen Burgtheater-Publikum unterscheidet, als „anders“ und damit tendenziell negativ gesehen: „Daß das Premierenpublikum, im besonderen jenes der Peymann-Inszenierungen, eines von – nun, sagen wir: eigener Art ist, darf als bekannt vorausgesetzt werden.“ (Thomas Chorherr: Kulturdebatte. In: Die Presse, 21.10.1988)

Um die Stimmung gegen Heldenplatz zu bekräftigen, wird offensichtlich auch nicht davor zurückgeschreckt, Aussagen zu verfälschen, wie im Fall von ÖVP-Kultursprecher Erhard Busek geschehen (vgl. Busek fordert Publikumsboykott der neuen Burgtheaterinszenierung. In: Die Presse, 13.10.1988):

„Meine Aussage war: Wenn jemand hingehen will, soll er es sich anschauen, wenn jemand etwas dagegen hat, braucht er nicht hinzugehen. […] Die Presse hat aus ihrer grundsätzlichen Position zu Thomas Bernhard das gebraucht und – wie mir der Chefredakteur der Presse, Thomas Chorherr, dann in einem Gespräch nachträglich zugegeben hat – sozusagen in die Richtung hin geschrieben, in der er es haben wollte.“[19]

Allerdings steht mindestens genauso sehr wie der Autor Bernhard selbst Burgtheaterdirektor Peymann im Fokus der Presse-Kampagne; mehr noch als die Auswahl der Stücke jedoch werden interne Querelen zwischen Direktion und Ensemble sowie die Theaterpolitik Peymanns gegen dessen Intendanz eingewendet. Der Uraufführung von Heldenplatz wird daher – wie bereits in einigen Fällen zuvor – „Endspielcharakter“ zugesprochen (vgl. Hans Werner Scheidl: „Heldenplatz“ und die Folgen. In: Die Presse, 12.10.1988)

Weitaus differenzierter dagegen berichtet Der Standard, dessen mit vergleichsweise hohem kulturellem (und auch ökonomischem) Kapital ausgestattete Zielgruppe eher liberale Wertvorstellungen vertritt und sich darin von den „typischen“ Krone-, wie auch Presse-LeserInnen unterscheidet: Es wird sowohl mit einer toleranteren Haltung gegenüber KünstlerInnen, einer ablehnenden Haltung zur Einmischung der Politik in Kunstbelange (vgl. Gerfried Sperl: Politiker sollten schweigen lernen. In: Der Standard, 13.10.1988) wie auch aus größerer (und damit sachlicherer) Distanz als in den beiden genannten Tageszeitungen berichtet – wobei das Werk bzw. die Debatte selbst in den Fokus gerückt wird. Wird dennoch gegen die Heldenplatz-Aufführung eingetreten, dann mit dem Versuch, gezielt die (wohl nur idealtypische) Liberalität der Standard-LeserInnen an ihre Grenzen stoßen zu lassen: So versucht Kulturressort-Leiter Sichrovsky – späterer Abgeordneter der reaktionären FPÖ sowie selbst Schriftsteller (und damit weit weniger erfolgreich als Konkurrent Bernhard) – eine Leserschaft, die sich tendenziell gegen Waldheim und den von Antisemitismus gefärbten ÖVP-Wahlkampf gestellt hat[20], mit dem Vorwurf, Bernhard würde Juden für seine Österreichkritik „benutzen“,  zur Verhinderung des Stücks aufzurufen.[21]

Wie in anderen gegen Peymann/Bernhard Stellung beziehenden Kommentaren wird somit auch in diesem Aufruf versucht, die Textunkenntnis der LeserInnen auszunützen, um diese für die Parteinahme gegen Heldenplatz zu gewinnen. Was jedoch bei LeserInnen, die ohnehin gegen gesellschaftskritische Kunst oder konkret gegen Peymann/Bernhard eingestellt sind bzw. sich die Meinungen der JournalistInnen unhinterfragt zu eigen machen, durchaus gelingen mag, ruft bei liberalen Standard-LeserInnen eher Unmut gegenüber der „eigenen“ Zeitung hervor, zumal Passagen aus Sichrovskys Artikel in der aus Sicht der primären Standard-Zielgruppe negativ bewerteten Kronen Zeitung als eine Art Bestätigung für deren Kampagne durch ein ansonsten autonomer Kunst aufgeschlossenes Medium angeführt sind.[22]

Als eine der wenigen LiteraturkritikerInnen bewertet lediglich Sigrid Löffler Heldenplatz bereits im Vorfeld der Uraufführung nach Kriterien, wie sie innerhalb des literarischen Feldes üblich sind: künstlerische Qualität und vor allem Originalität. Dabei schließt sich Löffler den längere Zeit zuvor schon erhobenen Vorwürfen gegen Bernhard an, sich zu wiederholen und vorhersehbar geworden zu sein, also an Produktionsweisen festzuhalten, an die man sich allmählich gewöhnt hat. So habe Bernhard „mit Heldenplatz bloß ein weiteres Mal dasselbe Bernhard-Stück geschrieben – das gleiche Personal, die gleichen Ressentiments, die gleichen Schimpfexzesse gegen Nazis, Sozis, Katholiken und ‚die geist- und kulturlose Kloake’ namens Österreich […].“(Sigrid Löffler: Platz für Helden. In: Profil, 19.9.1988). Damit ist im Wesentlichen angedeutet, was Pierre Bourdieu als die „Abnutzung des Erneuerungseffekts“[23] bezeichnet hat. Für Löffler steht daher schon knapp drei Wochen vor der durch die Kronen Zeitung lancierten Kampagne fest, dass aufgrund der Ähnlichkeit von Heldenplatz zu früheren Bernhard-Stücken ein Überraschungseffekt ausbleiben und wegen der sich daraus ergebenden Harmlosigkeit auch kein Skandal zustande kommen würde.

Tatsächlich lässt sich davon ausgehen, dass Heldenplatz ohne den dazugehörigen Skandal nicht zu den mittlerweile bekanntesten Stücken Thomas Bernhards gezählt würde. Das Interesse, mit dem Heldenplatz in der Literaturwissenschaft begegnet wird, liegt vor allem an seiner Wirkung und weit weniger an der Qualität des Stücks. So erwähnt z. B. Manfred Durzak Heldenplatz zwar in der bei C. H. Beck verlegten Geschichte der deutschen Literatur, schreibt aber auch, dass

„Bernhards Stück […] zu einer monologischen Nummern-Oper verkommt, in der ein misanthropischer saurer Dauer-Regen auf alles niederrieselt und zu verätzen und zu zersetzen bemüht ist, aber sich letztlich doch nur als dünner Salzburger Schnürlregen erweist.“[24]

All jene, die sich so vehement gegen das Stück, gegen Bernhard und auch gegen Peymann gerichtet haben, haben also letztlich die Kanonisierung des Werkes mit bewirkt.

Fazit [nach oben]

Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Heldenplatz nicht Anlass für einen Skandal innerhalb des literarischen Feldes, sondern in externen Feldern gab, wobei nicht das Stück selbst, sondern die Präsentation des Stücks in den Medien den Skandal auslöste.[25] Als die ausschlaggebenden Gründe für die Skandalisierung in der Presse sind sowohl das Interesse an erhöhten Auflagenzahlen als auch die Abneigung gegenüber kritischer Literatur vonseiten der jeweiligen Redaktionen anzusehen. Der Skandal wurde dabei von den Medien kreiert, indem ausschließlich Informationen gegeben wurden, die für die (moralische) Anstößigkeit des Stücks sprechen. Neben den (konservativen) Medien geht es aber auch den (konservativen) Parteien bzw. PolitikerInnen darum, die Einflussnahme von KünstlerInnen im Feld der Macht zu unterbinden.[26] Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich zahlreiche PolitikerInnen der Pressekampagne anschlossen und versuchten, die Empörung in großen Teilen der Bevölkerung für sich zu nützen. Diese wiederum ist abgesehen von der einschlägigen Berichterstattung der Presse durch deren große Reichweite zu erklären[27]: So kamen LeserInnen – indirekt – mit autonomer und kritischer Kunst in Kontakt, der sie aufgrund ihrer (bürgerlichen oder populären) Geschmackspräferenzen, fehlender Kenntnis der Kriterien zur adäquaten Beurteilung autonomer Literatur bzw. ihrer grundsätzlichen Ausgeschlossenheit aus dem literarischen Feld tendenziell mit Abneigung gegenüberstehen. Hinzu kam die ohnehin beträchtliche Empfindlichkeit großer Teile der Bevölkerung gegenüber jeder Österreich-Kritik im Zuge der immer noch nachwirkenden Waldheim-Affäre.

Ob vonseiten Bernhards und Peymanns ein Skandal geplant war, lässt sich nicht eindeutig sagen. Sicher aber ist, dass die Aufführung von Heldenplatz anlässlich des Burgtheaterjubiläums im „Bedenkjahr“ 1988 zumindest eine öffentlichkeitswirksame Entgegnung auf die politische Atmosphäre in Österreich darstellte. Erklären lässt sich dies einerseits durch das hohe symbolische Kapital Thomas Bernhards und Peymanns sowie die große Bedeutung des Burgtheaters in Österreich (und den damit verbundenen Nachrichtenwert), andererseits durch die konstitutive Differenz zwischen autonomer Literatur und bürgerlichen bzw. populären Geschmäckern. Auch lässt sich feststellen, dass der Skandal die Kanonisierung sowohl von Bernhards als auch von Peymanns Werk begünstigt hat.

Michael Lenhart, 19.12.2011
Michael.Lenhart@student.uibk.ac.at

 

Anmerkungen:

[1] Oliver Bentz: Thomas Bernhard. Dichtung als Skandal. Würzburg, 2000,  S. 95.

[2] So wurde etwa das Ergebnis eines unabhängigen, internationalen Gremiums zur Prüfung von Waldheims Biographie mit dem Hinweis angefochten, dass drei von fünf Gremiums-Mitgliedern jüdisch seien. Vgl. Hagen Fleischer: Erinnerungen an die „Causa W.“. In: Von der Kunst der Nestbeschmutzung. Dokumente gegen Ressentiment und Rassismus seit 1986. Wien 2009, S. 38.

[3] Peter Kreisky: „Neues Österreich“ – Ein Einblick. In: Von der Kunst der Nestbeschmutzung, S. 97.

[4] Gemeint sind George Tabori („Jude“), Claus Peymann („Piefke“) und Alfred Hrdlicka („Kommunist“), gegen deren Projekte (bzw. öffentliches Auftreten) die konservativen Kräfte vehement protestieren und sich im Fall Tabori auch durchsetzen können.

[5] Vgl. Andreas Razumovsky: Ausländische Infektion. In: FAZ, 15.10.1988

[6] Erstmals für Aufregung sorgt Bernhard durch seine Rede bei der Entgegennahme des Österreichischen Staatspreises für Literatur 1966. Vgl. Josef Donnenberg: Thomas Bernhard (und Österreich). Studien zu Werk und Wirkung 1970-1986. Stuttgart 1997, S. 5-8.

[7] Spätestens zu Anfang der 1970er Jahre kann Bernhard bereits sein symbolisches Kapital – v.a. durch Preisgelder (u. a. Büchner-Preis 1970) und Theatereinnahmen sowie steigende Verkaufszahlen seiner Bücher – in vergleichsweise hohes ökonomisches Kapital konvertieren. Vgl. Wilfried Barner: Das Jahrzehnt der Ungleichzeitigkeiten und der langgezogenen „Tendenzwende“. Literarisches Leben im Westen. In: [Ders.]. [Hrsg.]: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2. Aufl. München 2006, S. 599.

[8] Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/Main 1999, S. 404.

[9] Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/Main 1987, S. 458.

[10] 1977 etwa löst Peymann einen Skandal aus, indem er öffentlich um Spenden für einen Zahnersatz für die damals in Stammheim inhaftierte RAF-Terroristin Gudrun Ensslin wirbt. Vgl. Benjamin Heinrichs: Hexenjagd, schwäbisch. In: Die Zeit, 30.9.1977.

[11] Vgl. Hellmuth Karasek: Ein Piefke läßt die Sau raus. In: Der Spiegel, 6.6.1988.

[12] Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 261.

[13] Peymann ändert u.a. das Preissystem, setzt das Premierenvorrecht für PolitikerInnen bzw. für Mitglieder der „Gesellschaft der Freunde des Burgtheaters“ außer Kraft und rüttelt an der so genannten „Zehnjahresklausel“, der zufolge SchauspielerInnen nach zehnjährigem Engagement auf Lebenszeit am Burgtheater bleiben dürfen. (Vgl. Der künftige Burgtheaterdirektor Peymann hat schon jetzt Angst. In: Der Spiegel, 17.3.1986).

[14] Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 458.

[15] Vgl. Sigrid Löffler: Platz für Helden. In: Profil, 19.9.1988

[16] Oliver Bentz: Thomas Bernhard. Dichtung als Skandal, S. 36.

[17] Ebd., S. 91.

[18] In dieses Muster fällt auch die (geschätzte?) Angabe der Höhe von Bernhards Honorar und Tantiemen. Vgl. Totale Verwirrung: Bernhards Stück jetzt ent- oder verschärft? In: Kronen Zeitung, 14.10.1988.

[19] Zit. nach Maria Fialik: Der konservative Anarchist. Thomas Bernhard und das Staatstheater. Wien 1991, S. 111 f.

[20]  Die Gründung des Standard 1988 ist durchaus als Reaktion auf die Waldheimaffäre zu bewerten.

[21] Auch in der Presse wird – trotz fehlender Textkenntnis – kritisch angemerkt, dass Bernhard jüdische Figuren gegen Österreich schimpfen lasse und sich daher „mit fremdem Leid […] das letzte Wort arrogiere.“ (Hans Haider: Zu billig, dieses letzte Wort. In: Die Presse, 11.10.19 88).

[22] Vgl. Erschreckend schlecht. In: Kronen Zeitung, 5.11.1988

[23] Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 401f.

[24] Manfred Durzak: Nach der Studentenbewegung. Neue literarische Konzepte und Erzählentwürfe in den siebziger Jahren. In: Wilfried Barner [Hrsg.]: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. 2. Aufl.. München 2006, S. 633.

[25] Nach Friedrich handelt es sich im Gegensatz zu einem autonomen also um einen heteronomen Skandal. Vgl. Hans-Edwin Friedrich [Hrsg.]: Literaturskandale. Frankfurt/Main 2009, S. 16–19.

[26] Vgl. Neuhaus: Skandal im Sperrbezirk? In: Stefan Neuhaus, Johann Holzner [Hrsg.]: Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 45.

[27] In diesem Zusammenhang spielt natürlich auch die in Österreich besonders hohe Medienkonzentration eine große Rolle.

 



Abbildung: Archiv Spiegel online