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Misstraut den Formen!

Über die Kunst der Interviewführung und jene, sich nicht führen zu lassen. Von Gerhard Scholz


I.

In einer Zeit, in der die Inquisition abgeschafft ist, die Beichte nur noch sehr eingeschränkte Relevanz besitzt und der Trend zur Psychoanalyse abgeflaut ist, scheint allein noch das unmittelbare und direkte Verhör geeignet, einem Subjekt Geständnisse abzuringen. Auch wenn zuweilen die genervte Leserin anderes herbeisehnen mag, so regiert doch in der Welt um die Bücher herum nicht der Wunsch, und so werden Autoren auch kaum je gefoltert und nur in Ausnahmefällen gerichtlich verhört, weshalb das Herauskitzeln spannender Details über das Privatleben der Zunft der Schreibenden und ihrer Figuren1 als Sonderbereich der Literaturkritik fast ausschließlich in den Aufgabenbereich des Journalismus fällt. Die literarische Gattung, der er sich zu diesem Zweck bedient, nennt man: das Interview.

Die Unterschiede zur (buch-)handelsüblichen Kritik sind augenfällig: Während der Rezensent direkt mit dem Text in Dialog tritt, findet das Gespräch beim Interview eine Ebene höher zwischen dem Journalisten und der Verfasserin statt, wobei im besten Fall auch manchmal von ihren Texten die Rede ist. Da das Verhältnis zwischen Autor und Kritiker zumeist ein gespanntes ist oder zumindest sein sollte – sofern die gute Kritik es sich auch herausnimmt, solche zu üben – bietet also das Interview den Buchschreibern die Möglichkeit, sowohl ihr Geschriebenes als auch ihre Person gegen die Angriffe der Öffentlichkeit zu verteidigen, d. h., wie es in Kampfsituationen so üblich ist, Stellung zu beziehen.

Es kollidieren in dieser Situation aber eben nicht nur verschiedene Schreibende, sondern auch verschiedene (mit der jeweiligen Position im Literaturbetrieb verknüpfte) Ansichten: Jene der Literaturkritik und -wissenschaft, die tendenziell dafür eintritt, dass dem mehr oder weniger professionellen Leser das letzte Wort über den Text zusteht, und jene des Literaturproduzenten, die dieses letzte Wort gern für sich beansprucht. Die konkurrierenden Ideen, so widersprüchlich sie auch vorderhand auftreten, treffen sich allerdings dort, wo der Produzent, von seinem Text entbunden, sich selbst in die Reihe der Rezipienten einzureihen gezwungen ist.

In jedem Fall sind dort, wo der Stolz der Dichterin und das (Vor-)Urteil der Leserin aufeinanderprallen, zweifellos jene Passagen die faszinierendsten, in denen der Fragen- und der Schriftsteller je zum Fallensteller des anderen werden. Wie jedes Gespräch gewinnt auch das Interview durch den verbalen Schlagabtausch, das gegenseitige In-die-Irre-Führen und In-den-Wahnsinn-Treiben, das auch das gelegentlich eingefügte Lob, das Interesse an der bevorzugten Bleistiftstärke, das wohlwollende „Gute Frage“ als Manöver enttarnt – zu nichts anderem ersonnen, als eine Lücke in der Deckung des anderen zu provozieren oder zumindest abzuwarten.

Die größte Gefahr des Interviews liegt gerade in der Abwesenheit solchen Kampfgeists. Sobald an seine Stelle die huldigende Anbetung und das phantasielose Herunterspulen von Standardfragen treten, wenn sich also der Herausforderer dem Titelverteidiger als nicht gewachsen erweist, kann man nur hoffen, dass letzterer nicht mit einfällt ins Loblied auf die eigene Größe, sondern entweder als fleißiger Leser seines eigenen Werks mit interessanten Lesarten aufwartet oder zumindest seinerseits den Kampf aufrecht und damit die Spannung am Leben erhält.

Sonst geschieht es nämlich allzu leicht, dass sich ein Gespräch nicht über Literatur, sondern über Literaten entspinnt und neues Futter produziert für die, die statt an gelungenen Sätzen und Gedanken sich lieber an privaten Details aus dem Leben ihrer Verfasserinnen laben. Nicht nur geraten diese so in die Fänge einer Berichterstattung, die darauf abzielt, Künstler (wie Politiker) nach ihren privaten Auf- und Fehltritten zu beurteilen (anstatt danach, wo sie wen mit welchen Waffen aus welchem Grund angegriffen haben), sondern sie lassen es zu, dass ihr Werk nicht mehr als Spiegel der Welt, sondern als Spiegel der Autorinnenseele gelesen wird, wodurch die darin verhandelten Probleme den Leser nur noch dann betreffen, wenn es sich bei ihm zufällig um den Psychotherapeuten der Autorin handelt.

Anders gesagt: Das Interview ersetzt die Distanz zwischen Leser und Autor durch eine Nähe, die es mir ermöglicht, mich präzise darauf vorzubereiten, wo, wie schnell und in welchem Winkel die Axt das gefrorene Meer in mir aufzuspalten versucht.2

In diesem Sinn schreibt auch Hubert Winkels über die von ihm konstatierte Verwandlung der Literaturkritik in Literatur-Events, d. h. von Kultur in Eventkultur: „Sie wollen die Übersetzung und den Untergang des in der Literatur immer noch mitgeschleiften Wahrheitsanspruchs in die einzelne Person, die dort sitzt, vielleicht schwitzt, sich räuspert, leicht verunsichert das Wort erhebt und so viele Eigenschaften schon aus anthropologischen Gründen mit dem Zuschauer teilt, dass der keine Angst mehr haben muss vor der Wahrheit, so dass er sich ihm und ihr nähern kann mit allzumenschlichen Spekulationen – ja wie sieht der denn aus? wie kann man mit dieser wilden Frisur solche gestochen scharfen Sätze schreiben? […]“3 An die Stelle der Frisur treten im Fall des schriftlichen Interviews eben das Geständnis des Alkoholkonsums, die Schrulle, der Narzissmus usw.

Ebendiese Geständnisse zu verweigern, zu umgehen, oder sie im Halb- bis Ganzfiktionalen aufzulösen, darin liegt die Aufgabe der Autorin im Interview.


II.

Anlass zu diesen Überlegungen bot mir der kürzlich in deutscher Übersetzung erschienene erste Band gesammelter Interviews aus der Paris Review.4 Drei weitere Bände, die im Englischen bereits vorliegen, sind bei entsprechenden Verkaufszahlen noch zu erwarten. Übersetzung und Lektorat trüben dabei ab und an das Lesevergnügen, weshalb der des Englischen Kundige zur Originalausgabe5 greift.

Dennoch bieten die Texte alles, was man von der Gattung erwarten darf – im Guten wie im Schlechten. Wenn es so etwas wie eine Erzählung gibt, die sich durch den Band zieht, so ist es die vom Autor, der doch auch nur ein Mensch ist, der hart, hart arbeitet, dafür, dass er sich am Ende eine Seite leidlich lesbaren Texts aus dem Fleisch gerissen hat. Die Arbeitswut der Bölls, Hemingways und Philip Roths wird dabei nur übertroffen von der eines Truman Capote, der von sich behauptet, er tippe hundert Wörter in der Minute und lese einen Roman innerhalb von zwei Stunden. In solchen Momenten kippt das Bild vom hart arbeitenden Menschen wie du und ich in jenes des Helden an der Schreibmaschine, des Genies mit dem selbstkonstatierten Super-IQ.
Auf dieses Wechselspiel von Selbst- und Fremdinszenierung gilt es zu achten, wenn man das eigentlich Spannende an diesen Texten sucht. Beachtenswert ist dabei die Entstehungsgeschichte der Texte, die manchmal aus einem einzigen, zum Teil aber aus mehreren Interviews bestehen, vom Autor im Nachhinein überarbeitet, verfeinert (bereinigt?), bis hin zu dem Punkt, an dem Kurt Vonnegut sich selbst sagen lässt:

Vier verschiedene Interviews mit mir wurden der Paris Review vorgelegt. Diese wurden zusammengeschustert, um ein einziges Interview zu ergeben, das mir gezeigt wurde. Dieser Plan ging nur bedingt auf, also berief ich noch einen Interviewer, der das Ganze formen sollte. Diese Person war ich. Mit größtem Einfühlungsvermögen interviewte ich mich selbst. (S. 146)

Ist Kurt Vonnegut dann überhaupt noch Kurt Vonnegut und ist er es je gewesen? Ist der Interviewer vielleicht nur die Karikatur eines Interviewers, humorlos bis in die kleinste Faser, immer auf der Jagd nach einer kleinen persönlichen Anekdote, ein bisschen versaut, aber bitte nicht anstößig? Vonnegut ist auch der, der offenbar die innigste Lust am Erzählen hat, den fundamentalsten Trieb, seine Anekdoten und Abschweifungen loszuwerden:

Wir taten die Granate da rein und dann warfen wir Taschen mit sehr langsamem und geduldigem Sprengstoff hinterher. Das waren feuchte Hundekuchen, glaube ich. Wir verschlossen die Ladevorrichtung, lösten einen Bolzen aus, der auf Knallquecksilberzündhütchen aufschlug, die Feuer auf die feuchten Hundekuchen spuckten. Dabei ging es, glaube ich, hauptsächlich darum, Dampf zu erzeugen. Wir schlossen die Ladevorrichtung. Nach einer Weile konnten wir brodelnde Geräusche hören. Es war sehr so, als kochte man einen Truthahn. In völliger Sicherheit hätten wir, glaube ich, die Ladevorrichtung von Zeit zu Zeit öffnen und die Granate mit Bratensaft übergießen können. Am Ende wurde die Haubitze aber immer unruhig. Und letztendlich ächzte sie auf ihren Einrastmechanismus, der dann die Granate auswarf. Sie kam wie ein kleiner Goodyear-Zeppelin gesegelt. Hätten wir eine Fußleiter gehabt, hätten wir auf die Granate ‚Fuck Hitler‘ pinseln können, während sie die Kanone verließ. Helikopter hätten hinter ihr herfliegen und sie abschießen können. (S. 109 f.)

Giert Vonnegut tatsächlich danach, seine Geschichten loszuwerden, oder ist das schon eine Form der Interview-Satire?

INTERVIEWER: Sie haben da gerade über etwas gelacht.
VONNEGUT: Es war etwas Albernes über die Highschoolzeit, an das ich mich gerade erinnerte. Es hat mit Schreiben nichts zu tun.
INTERVIEWER: Hätten Sie etwas dagegen, es trotzdem mit uns zu teilen? (S. 123)

Gerade das „Alberne aus der Highschoolzeit“ interessiert den halbfiktionalen Interviewer. Dennoch entringt ihm Vonneguts kleine Anekdote – sie endet mit den Worten „Ich baue Flugzeugmodelle und hole mir einen runter“ – nur ein „Ah ja“ (S. 124). Vonnegut hat erfolgreich die Schlüpfrigkeitsgrenze überschritten und ganz nebenbei sich selber und den Interviewer zu seinen eigenen literarischen Figuren gemacht. Realität und Fiktionalität berühren sich nicht nur, sie wachsen zusammen wie in Vonneguts wiederholter Antwort auf biografische Fragen: „Stell ich mir so vor.“

Ich hatte einen Freund, der ein schwerer Trinker war. Wenn jemand ihn fragte, ob er die Nacht vorher betrunken gewesen sei, pflegte er immer nonchalant zu sagen: ‚Stell ich mir so vor.‘ Ich mochte diese Antwort immer. Sie erkennt das Leben als einen Traum an. (S. 125)

Ein anderes Spiel spielt Ernest Hemingway. Sein Kampfstil – kommt man daran vorbei, ihn sich als Boxer vorzustellen? – ist defensiver als jener von Vonnegut. Er bleibt die ganze Zeit über in Deckung, wehrt alle Angriffe seines Gegenübers ab, nur um dann zum Gegenschlag auszuholen: „Dies ist eins der staubigsten Klischees, die es gibt, und ich entschuldige mich dafür. Aber wenn Sie müde, alte Fragen stellen, können Sie damit rechnen, müde, alte Antworten zu erhalten.“ (S. 66) (Jedenfalls ist es nicht der Aficionado Hemingway, der hier spricht, denn zum Stierkampf fehlt ihm die Eleganz.)

INTERVIEWER: Wie benennen Sie Ihre Charaktere?
HEMINGWAY: So gut ich kann. (S. 79)

Ähnlich ist das Verfahren und damit die Selbstinszenierung Vladimir Nabokovs, wenn er auf die Rolle der Literaturkritik zu sprechen kommt: „Kritik ist insofern aufschlussreich als sie Auskunft erteilt über die Intelligenz oder Ehrlichkeit des Kritikers oder beide.“ (S. 91)

INTERVIEWER: Was haben Sie von Joyce gelernt?
NABOKOV: Nichts. (S. 100)

Angesichts der Banalität der repetitiven Fragen, dem fortwährenden Beharren der Interviewer darauf, mit welcher Bleistifthärte denn auf welchem Papier wieviele Korrekturen vorgenommen würden und woher die AutorInnen denn die Namen ihrer Figuren nähmen, kann man solchen Antworten nichts anderes als Sympathie entgegenbringen.

Ein anderer Strang der Erzählung berichtet von der Emanzipation der Frau als Autorin, von den bescheidenen, „menschlichen“ Dorothy Parkers und Françoise Sagans zur selbstbewussten Toni Morrison. Daneben die „medialen Frauen“ (Theweleit) eines Böll und Nabokov: Schreibmaschinistinnen, Lektorinnen im Dienste der Großen …

Von Toni Morrison kommt auch die vernichtendste Äußerung über die Literaturkritik. Weniger direkt und aggressiv als Nabokov oder Hemingway und daher auch etwas weniger plump, spricht sie (schlechte) Literaturkritik und -wissenschaft kurzerhand schuldig, den unmittelbaren Zugang zu den Texten zu verstellen, anstatt Wege dazu zu öffnen:

Ich las Finnegans Wake nach der Uni und hatte das sehr große Glück, es ohne jede Hilfe zu lesen. Ich weiß nicht, ob ich es auf die richtige Art gelesen habe, aber es war köstlich! Ich habe andauernd gelacht! Ich wusste über weite Passagen nicht was vor sich ging, aber das machte nichts, weil ich darüber nicht geprüft wurde. Ich glaube, der Grund dafür, dass jeder immer noch so viel Spaß an Shakespeare hat, ist, dass es keine Literaturkritiker gab. Er hat es einfach gemacht, und es kam da keine Kritik außer von den Leuten, die Sachen auf die Bühne warfen. Er konnte es einfach tun. (S. 242)

Vielleicht spricht aus den Tricks und Fallen, die die Befragten anwenden, um sich aus dem Gestrüpp von Banalität, mit dem sie konfrontiert werden, zu befreien, ja einfach nur der Wunsch nach einem besseren Gesprächspartner, einem, der nicht von Bleistiften redet. Vielleicht spricht aus ihnen aber auch die Wut auf eine wenig produktive Gattung, die – unabhängig davon, wer spricht, – zu nichts führt, als zu den immer gleichen Fragen und den immer gleichen Antworten, es sei denn man spielt mit ihr und zerstört sie von innen.

Hin und wieder, wenn ich dazu gezwungen bin, dann führe ich ein Interview, aber das ist meist pro forma, um mir Glaubwürdigkeit zu verschaffen als jemand, der mitmischen darf. Es spielt für mich keine Rolle, was mir jemand in einem Interview sagt, weil ich der Form nicht traue. Manchmal führt man Interviews, wo man eine Menge herausbekommt. Aber diese Interviews bekommt man nicht von Personen, die in der Öffentlichkeit stehen. (S. 303)

Gut möglich, dass Joan Didion recht hat; denn gerade dann, wenn man der Form des Interviews misstraut, werden die Gespräche aufschlussreich. Und ebensogut möglich, dass wir allen Formen auf diese Art begegnen sollten; allem, was gesagt und geschrieben und gemalt und gefilmt wird. Vielleicht gehört auch das zu den Wahrheiten, die uns die verlogene Kunst des (halb)fiktionalen Schreibens – und dazu zähle ich die Form des Interviews – vermitteln will. Sie fordert uns auf, von der Überzeugungskraft ihrer Lügen auf die Verlogenheit alles Überzeugenden zu schließen.

Da soll noch einer sagen, man könnte aus Interviews nichts über Literatur lernen.

Gerhard Scholz, 5.9.2011

Gerhard.Scholz@uibk.ac.at

 

Anmerkungen:

[1] Albus Dumbledore z. B., seines Zeichens Mentor von Harry Potter, ist laut seiner Schöpferin Joanne K. Rowling – ein gewitzter Interviewer kitzelte es aus ihr heraus – schwul. Man stelle sich vor, wie viele Figuren ihr Dasein immer noch in the closet fristen …

[2] Der Literaturwissenschaft und ihren intensiven Bemühungen sei Dank ist ja inzwischen klar erwiesen, dass es sich bei den Texten Kafkas nur um den Versuch einer Aufarbeitung seines unbewältigten Vaterkomplexes handelt. Unbegründet die Befürchtung, es bestünde irgendein Bezug zum Justizwesen, der Bürokratie, dem Verhältnis der Menschen zueinander oder gar zur eigenen Existenz.

[3] Hubert Winkels: Den Autor umarmen. Was macht die Literaturkritik? In: Volltext, 2011, 2, S. 29–30.

[4] Die Paris Review Interviews – 01. Düsseldorf: Leske 2011. (Edition Weltkiosk).

[5] The Paris Review Interview: Volume 1. London: Picador 2006; Edinburgh: Canongate 2007. Die vier Bände sind auch gesammelt im Schuber bei Picador erhältlich.