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Listen to the novelist, not the novel

Michel Houellebecqs Roman "La carte et le territoire" ist vor Kurzem auf Deutsch erschienen. Recht still und ohne Skandal, weil es sich dieses Mal nur um ein exzellentes Buch ohne Ausfälle handelt, weil man dieses Mal dem Buch, nicht dem Autor zuhört. Bei "Plattform" war dies noch genau umgekehrt. Ein Rückblick von Willi Kozanek.

Was ist passiert?

Plattform ist in seiner Originalfassung 2001 auf Französisch erschienen. Ein Jahr später kamen die Übersetzungen in Englisch und Deutsch auf den Markt. Das Buch enthielt, unter anderen, folgende kontroversen Passagen:

"Ein paar Schafe beendeten ihren Tag. Auch sie sind dumm, vielleicht noch dümmer als Aichas Bruder; aber in ihren Genen ist keine Gewaltreaktion programmiert. [...]
Auf der einen Seite hast du mehrere hundert Millionen Menschen in der westlichen Welt, die alles haben, was sie sich nur wünschen, außer dass sie keine sexuelle Befriedigung mehr finden. […] Und auf der anderen Seite gibt es mehrere Milliarden Menschen, die nichts haben, kläglich verhungern […] und nichts anderes mehr zu verkaufen haben als ihren Körper und ihre intakte Sexualität. […] Das ist die ideale Tauschsituation." [1]

Houellebecq bezeichnete in einem Interview anschließend den Islam als dümmste aller Religionen und wurde von mehreren französischen Islamverbänden, einer Antirassismusvereinigung und der Französischen Liga für Menschenrechte wegen Anstiftung zum Rassenhass und zur religiösen Gewalt verklagt. Die Klage wurde später aber abgewiesen, da Houellebecq das Recht zugesprochen wurde, Religionen öffentlich zu kritisieren. Das kontroverse Ende des Buches (die Geliebte des Erzählers Michel wird bei einem islamistischen Attentat getötet) wurde von manchen Lesern nach dem 11.9.2001 und den terroristischen Attentaten von Bali 2002 als Prophezeiung gesehen. 

 

Erzählfigur vs. Autor

Sich die Literaturkritik von Plattform vor Augen führend, können alle Germanistik-StudentenInnen aufatmen. Auch ein Jens Jessen, Ressortleiter des Feuilletons der Zeit, irrt manchmal. In seiner Rezension [2] zu Michel Houellebecqs Plattform verwechselt er Autor und Erzählfigur und meint: Nicht etwa, dass Houellebecq den Sextourismus für verwerflich hielte. "Diese kleinen Thai-Nutten sind ein wahrer Segen, sagte ich mir; wirklich ein Geschenk des Himmels." An dieser Stelle, diesem Ausschnitt aus einer der angesehensten deutschen Zeitungen, erkennt man bereits das Dilemma der Rezensionen rund um das französische Enfant terrible der gegenwärtigen Literatur: die Verwechslung von Autor und Erzählfigur. In nahezu allen Rezensionen aus dem deutschsprachigen Raum wird nicht (nur) Plattform besprochen, sondern vor allem der Autor dieses Buches, der es geschafft hat, sich durch bewusst provokante und simple Äußerungen ins Rampenlicht zu stellen und der einen Hype um seine Person auslöste, der sein Buch fast schon in den Schatten stellte.

 

Rezensieren wir Houellebecq oder Plattform?

Ob in Der Freitag, Der Standard oder The Guardian: In den Rezensionen und  Besprechungen über Plattform geht es immer auch um den Autor des Buches, manchmal vor allem um den Autor. Dies wurde später durch die Klage muslimischer Organisationen nur verstärkt. Meist werden Houellebecqs Beleidigungen rund um die Aussage "Die dümmste Religion ist doch der Islam" als Orientierung für den Leser verwendet, was einerseits notwendig ist, um die Skandale der Buchveröffentlichung zu verstehen, andererseits aber auch verzerrt, weil der Islam nur eines von vielen Themen des Buches ist.

"Auf das Konto seiner Lust am Herunterreißen wird man auch das Interview in der Zeitschrift Lire buchen, in der er kürzlich vom Islam als der ‚dämlichsten Religion‘ sprach und behauptete, der Islam sei ‚eine gefährliche Religion und dies von allem Anfang an‘",

schreibt ein Rezensent im Freitag. [3] Viele deutschsprachige Rezensionen begnügen sich eher damit, über Houellebecq und seine komplizierte Persönlichkeit zu sprechen als über sein Buch. Vor allem der Rezension im Freitag ist vorzuhalten, dass sie nicht die Information zu einem zentralen Punkt der Literaturkritik macht. Am befremdlichsten ist aber die Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung. Rezensent Milo Rau verwechselt nicht nur Thailand mit Indonesien und beginnt mit dem unglücklichen bis frauenfeindlichen Einleitungssatz "Michel Houellebecq besitzt ein Haus in Irland mitsamt Ehefrau [...]". Er orientiert, informiert und unterhält die Leserin auch kaum. Außerdem verzettelt er sich in unlesbaren Passagen wie:

"Mit leichter Hand schliesst Houellebecq so auch im vorliegenden Roman die Notausgänge der spätbürgerlichen Lebensumstände: Während bei Emmanuel Bove, einem andern grossen Vertreter der französischen Einzelgängerliteratur, dem Menschen sein Scheitern an der Welt immerhin im dichten Fangnetz einer präzise notierten Wirklichkeit widerfährt, ist Houellebecqs Michel wirklich nur ein frei fliegendes Elementarteilchen, nichts weiter." [4] 

 

Wenn schon Personenkult, dann richtig

Es fehlt in allen untersuchten deutschsprachigen Rezensionen ein Puzzleteil zur Person Houellebecq, das von Wichtigkeit ist, wenn man schon über ihn und seine Ausfälle über den Islam sprechen will: Houellebecqs Mutter verließ ihren Ehemann und Sohn, um mit einem muslimischen Partner zu leben und konvertierte zum Islam. Diese Information findet sich in englischsprachigen Besprechungen und bedeutet für den Leser, der etwas über die Person Houellebecq wissen will, eine wichtige Kontextualisierung.

Im Allgemeinen ist festzuhalten, dass die englischen Rezensionen sachlicher, unterhaltsamer und unaufgeregter Plattform besprechen als ihre deutschen, österreichischen und schweizerischen Kollegen. In diesen englischen Besprechungen geht es ebenfalls oft um die Person, was aber auch daran liegt, dass zu dieser Zeit bereits eine Klage gegen den diplomierten Landwirtschaftsingenieur Houellebecq lief. In The Guardian wird die Leserin im Einleitungssatz besser orientiert als bei vielen deutschsprachigen Journalisten in ganzen Artikeln: "Michel Houellebecq is the first French novelist since Albert Camus to find a wide readership outside France." Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass alle deutschsprachigen Rezensionen schlechter geschrieben sind als die englischen, aber die Rezensionen in The Guardian und The Independent stellen die besseren Fragen.

 

Listen to the novel, not the novelist

John Lichfield spricht in seinem exzellenten Artikel im Independent über einige Aspekte, die in anderen Rezensionen fehlen. Als die englischen Rezensionen erschienen, im Spätsommer und frühen Herbst 2002, erholte sich Frankreich gerade vom Schock, dass Jean-Marie Le Pen, Kandidat der rechtsextremen Front National, in eine Stichwahl zum Präsidenten gelang und den Sozialisten Lionel Jospin in der Wählergunst überflügelte. Lichfield meint also ganz richtig: "If you wish to understand the forces which have driven the rise of populist movements in Europe in recent years, read Houellebecq." Einen Absatz vorher erklärt er ergänzend, dass das Buch abstoßend und eine tour de force sei. Und während in vielen Rezensionen als Themen des Buches bloß Sextourismus und der Islam angeführt werden, bringt Lichfield auch noch den Verlust der Sexualität als Schlüssel zur Entfremdung des modernen Mannes ins Spiel.

Lichfield unterstützt die Aussagen des Buches also nicht, sondern betrachtet das Buch aus einer Distanz, die einer Rezension gerecht wird. Er erklärt, dass Houellebecq Züge eines Teenagers hat, der es den Erwachsenen, dem politisch korrekten Establishment, zeigen will und dass das Buch dumme Passagen enthält. Er erwähnt, dass Houellebecq nicht die islamische Welt, sondern vor allem den moralisierenden, aber moralisch defekten Westen kritisiert und erkennt Houellebecqs Spiel mit der Öffentlichkeit. Am wichtigsten ist aber, dass er erwähnt, dass es notwenig ist, zwischen einem Autor und seinen Werken zu unterscheiden. 

 

Autonomy of the literary text

Genau dieser Punkt steht im Zentrum der Rezension von Salman Rushdie im Guardian. Der indisch-britische Schriftsteller erklärt in acht kurzen Absätzen eloquent und unterhaltsam die Verbindungen zwischen Houellebecq, der Provokation, einer offenen Gesellschaft und Plattform. "In our personality-cultist age, in which a writer’s biography is firmly believed to hold the key to the meaning of his novels [...]", schreibt Rushdie über den Aha-Effekt, der bei vielen auftritt, sobald sie erfahren, dass Houellebecqs Mutter ihren Sohn und Mann für einen muslimischen Mann verließ. Es ist verlockend, dieses Verlassen-werden als Schlüssel zum Buch zu betrachten, missachtet aber die Selbstständigkeit des Texts. Rushdie meint, dass ein literarischer Text so gelesen werden sollte, als wäre der Autor anonym.

Sich diesen Anspruch vor Augen haltend, erscheint die deutschsprachige Rezeption von Plattform als sehr dürftig. Äußerst selten behandelt sie nämlich die vielen Themen des Buches – von der Entfremdung westlicher Menschen durch eine Automatisierung der Arbeit, die "sinnlose" Suche nach Individualität und Exotik oder die Beeinflussung der Menschen durch die Sprache der Werbe- und Marketing-Experten. Viel zu oft findet eine Beschränkung auf die zwei Themen religiöse Beleidigung und Verherrlichung von Sex-Tourismus statt. "Offenbar gibt man sich aber heute nicht mehr mit einem guten Buch zufrieden, es muss auch noch skandalös sein", merkt Radek Knapp im Standard [5] richtig an. Houellebecq wird’s freuen. Je mehr über den vermeintlichen Skandal eine Religion als "die dümmste" zu bezeichnen diskutiert wird, umso höher werden seine Verkaufszahlen liegen. 

 

Ignorieren?

"Das gesellschaftskritische Denken ist mit diesem Roman jedenfalls nicht voranzubringen", urteilt Dirk Knipphals in der Tageszeitung. [6] Dem könnte man brüsk entgegnen: "Warum nicht?" Vordergründig ist klar, dass man jemanden nicht bestätigt sehen will, dessen Erzählfigur Sextourismus verherrlicht und sich freut, wenn schwangere muslimische Frauen getötet werden. Das Buch ist auch aus Sicht der Heldin des Buches fragwürdig, wie in The Independent festgestellt wird: "Yes, the heroine Valérie – although she can earn ₤ 100,000 pa as a tour planner – improbably loves nothing better than to give pleasure to the mousy civil servant, Michel, who tells his tale."  

Plattform ist in Teilen anitmuslimisch, biologistisch und verharmlost Sextourismus. Es ist aber auch ein Werk, welches wachrüttelt und zu Diskussionen anregt, vor allem Menschen, die sich ansonsten womöglich wenig um Literatur scheren. In vielen Rezensionen wird angemerkt, dass Plattform Einblicke gibt in die Identitätsprobleme vieler Europäer, die nicht mit Jens Jessen übereinstimmten würden, dass Houellebecq "die multikulturelle Übereinkunft" aufkündigt, "wonach Verbrechen individuell sind und keiner kollektiven Identität zugerechnet werden dürfen." Rushdie meint dagegen, dass Plattform das richtige Buch sei, wenn man Einblicke in das französische Innenleben beyond the liberal intelligentsia haben will.

Es wäre falsch, wenn die Literaturkritik Houellebecq ignorieren würde. Der bei seiner kommunistischen Großmutter aufgewachsene Franzose und sein Buch Plattform mögen für viele Leser unappetitlich, rassistisch, frauenverachtend und literarisch durchschnittlich bis schlecht sein. Die Reflexion über Autor und Buch bringt aber auf jeden Fall gesellschaftskritisches Denken voran. Will man nämlich wissen, warum zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Plattform wieder der Name Le Pen, diesmal ist es die Tochter, in der Gunst vieler Franzosen steht, so muss man sich auch mit den durchschnittlichen, Privatfernsehen konsumierenden und aus verschiedensten sozialen Gründen frustrierten Menschen auseinandersetzten. 

 

Was bleibt?

Was können wir mitnehmen aus den Diskussionen rund um Plattform und den Umgang der Literaturkritik mit dem dritten Werk Houellebecqs?

Erstens ist es unrichtig, einen Roman zu bezichtigen, gesellschaftskritisches Denken nicht voranzubringen, bloß weil er Denkmuster und Ideen einer Erzählfigur skizziert, die quer zum "guten Geschmack" und "gesellschaftlichen Konsens" einer intellektuellen Elite steht. Es kann und sollte auch Aufgabe von Literatur sein, Einblicke zu geben in eine Figur, in der so viele Probleme des 21. Jahrhunderts verhandelt werden und die uns erlaubt, die dunklen Phantasien eines Mannes mitzulesen, der rassistisch ist, Sextourismus auslebt und den es wenig interessiert, ob er den Übereinkünften zur Ablehnung von Sextourismus und religiöser Toleranz folgt. Als Leser muss man die Figur des Michel im Buch nicht mögen, Houellebecq hat möglicherweise auch bewusst eine Person gezeichnet, die abstoßend wirken soll. Zu überlegen, wieso diese Person so denkt wie sie denkt, das bringt gesellschaftskritisches Denken sehr wohl voran.

Zweitens sollte die Literaturkritik versuchen, sich mehr auf das Werk als auf den Autor zu konzentrieren. Michel Houellebecq eignet sich freilich ganz wunderbar als Figur für Feuilletonklatsch und -tratsch, es sollte aber trotzdem gemäß der möglichen Kriterien, die Literaturkritik erfüllen kann (orientieren, informieren, kritisieren und unterhalten [7]), mehr um den Inhalt eines Buches gehen als um die Art, wie Houellebecq seine Zigaretten raucht. Zwar leuchtet ein, dass es den Verkaufszahlen einer Zeitung mehr dienen kann, über die Ausfälle eines Provokateurs zu schreiben als über sein Werk, es ist aber genauso möglich, bissig, unterhaltsam und in verständlicher Sprache über Literatur zu schreiben, wie es uns der Blick nach England gezeigt hat.

Drittens ist es äußerst interessant zu lesen, was eine Person zum Thema "provokative Literatur" zu sagen hat, die selber schon in der Position war, von einem großen Teil der Leserschaft gehasst zu werden. Natürlich war es wenig überraschend, dass sich Salman Rushdie mit Houellebecq solidarisierte, er war aber auch der einzige der Rezensenten/Kommentatoren, der wusste, wie es ist, wegen Beleidigung einer Religion durch einen literarischen Text attackiert zu werden. In diesem Sinne ist Rusdhies Kommentar objektiv und subjektiv zugleich.

Viertens ist es ironisch, dass Houellebecq selbst sein bester Kritiker ist:

"Im Interview mit Lire staunt er über die Lust und das Verlangen von Kindern, immer wieder ein und dieselbe Geschichte zu hören; und über die ungebrochene Begeisterung, mit der sein Welsh Corgy auch nach drei Stunden noch jedesmal aufs neue dem Ball hinterhersaust, den er ihm wirft. Daß ihm selber das weniger Spaß bereite, könne doch nicht bloß mit dem größeren menschlichen Gehirn zu tun haben. – Vielleicht doch. Was nämlich wirklich verwundert: Houellebecq wirft das Hölzel, und die Meute apoortiert, jedesmal aufs neue – schwanzwedelnd."[8]
 

Willi Kozanek, 29.4.2011
Willi.Kozanek@student.uibk.ac.at

 

Anmerkungen

[1] Houellebecq: Plattform. Roman. Köln: DuMont, 2002, S. 27 und S. 230

[2] Jessen, Jens: Der große Jammer. In: Die Zeit, 7.2.2002, S. 37-38

[3] Schlocker, Georges: Selbstquäler. In: Der Freitag, 21.9.2001, S. 13

[4] Rau, Milo: Erniedrigte und Beleidigte. In: Neue Zürcher Zeitung, 10.4.2002, S. 35

[5] Knapp, Radek: Willst du wahr sein, sei gemein. In: Der Standard, 2.2.2002, S. 9

[6] Knipphals, Dirk: Letzte Ausfahrt Bangkok. In: Die Tageszeitung, 2.2.2002, S. 13

[7] Neuhaus, Stefan. Literaturvermittlung. Konstanz: UVK, 2009, S. 229

[8] Schübler, Walter: 239 bis 242!. In: Die Presse, 02.02.2002, S. 5