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Das Kinderbuch in der Literaturkritik. Eine Stiefkindgeschichte

Im schlimmsten Fall ignoriert, bestenfalls „auf spezielle Seiten oder in entsprechende Beilagen verbannt“ (Neuhaus 2004, S. 80), die nur zu oft kommerziellen Zwecken, sprich der Ankurbelung des Weihnachtsgeschäfts dienen, führt das Kinderbuch im Feuilleton und dort ganz besonders in der Literaturkritik ein ungeliebtes Stiefkinddasein.

Das Gros der Neuerscheinungen wird von den Kritikern keines Blickes gewürdigt, nur dann und wann lässt sich ein Rezensent dazu herab, doch etwas zu einem Kinderbuch zu sagen, meist jede sich bietende Möglichkeit ergreifend, eine unauffällige Bemerkung über den eigenen Nachwuchs fallen zu lassen und so die Beschäftigung mit der offenbar als wenig prestigeträchtig erachteten Literatur unverlangterweise zu legitimieren. Da heißt es zum Beispiel: „Eltern, deren Kinder lieber Handlungssträngen folgen, seien gewarnt. Finger weg! Ihrem Kind wird wahrscheinlich langweilig. Zu Hause war es ähnlich. Während Papa und Mama begeistert das Buch durchblättern, tat sich die Tochter schwer.“ (Mayer 17.10.2009). Dem gleichen Zweck dient es wohl, die eigenen, ‚erwachsenen’ Interessen zu erwähnen: „An dieser Stelle muss ein kleiner Einschub erlaubt sein: Grün ist per se toll – vor allem wenn man an Fußball denkt. Wie auch immer.“ (Mayer 31.10.2009). Der Autor will damit offensichtlich die Begeisterung für den Fußballclub Rapid ausdrücken, was das mit dem Buch zu tun hat, bleibt allerdings ein Rätsel.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Gemeint ist nicht die Literaturkritik im weitesten Sinne, so wie sie Dolle-Weinkauff und Ewers fassen und dabei „keinen Mangel“ an „Theoretisierungen des Gegenstandes“ konstatieren können (vgl. Dolle-Weinkauff/Ewers 1996, S. 6). Die dabei miteinbezogene Kinderbuchforschung ist in der Tat gut aufgestellt. Auch spezielle Seiten im Internet liefern Rezensionen zuhauf. Im Vergleich mit der ‚Erwachsenenliteratur‘ ist dies dennoch wenig. Entlarvend ist nicht nur die Quantität von Beiträgen, sondern vielmehr die Separierung der Kinderbuchkritik aus dem allgemeinen Wertungsdiskurs, wodurch eine implizite Abwertung von Kinderbüchern deutlich und gleichzeitig der Umstand verkannt wird, dass Literatur für Kinder und ihre Bewertung eben nicht nur für Eltern interessant sein sollte, sondern von gesellschaftlicher Relevanz ist.

Dass das Kinderbuch zu den Marginalien der Kritik zählt, ist die logische Konsequenz, die dem generellen Sonderstatus von Kinder- und Jugendbüchern im Literaturbetrieb zu verdanken ist. Ähnliches trifft auf die Unterhaltungsliteratur zu, denn was rezensiert wird, hat nichts mit dem ökonomischen Stellenwert als Indikator für das, was tatsächlich gelesen wird, zu tun, sondern mit dem Prestige der potenziellen Leser, welches auf den Kritiker abfärben soll. Unterhaltungs- und Kindbuchliteratur sind damit schon fast aus dem Rennen, haftet an ihren Zielgruppen doch das Etikett des Defizitären.

Wird dann doch mal rezensiert, bleibt die ästhetische Qualität des besprochenen Textes völlig im Dunkeln, stattdessen wird mit dem pädagogisch-didaktischen Rohrstock der Moral und der Political Correctness hantiert. Der Status eines autonomen Kunstwerks wird einem Kinderbuch nicht zugestanden. Dabei wird offenbar übersehen, dass gerade bei Literatur, die so bewusst auf ihre Leser zugeschnitten sein muss wie die Kinder- und Jugendbuchliteratur, ein Zusammenspiel von Textproduktion und Kritik den ästhetischen Standard heben könnte. So könnte die Aufwertung des Formalen durch die Kritik die Konzentration der Autoren vermehrt auf diesen Aspekt ihrer Texte lenken, freilich ohne dabei eine Abwertung des Sujets anzustoßen. Solange das Kinderbuch in der Literaturkritik marginalisiert bleibt, gibt es jedoch nur wenig Anreiz zu einer stilistischen Verbesserung, soweit diese nicht sowieso dem Bemühen des Autors selbst entspringt. Und noch etwas wird übersehen: Der von Rezensentenseite so favorisierte pädagogische Ansatz, den Kinderbuchliteratur hat und haben sollte, schließt den ästhetischen Wert der Texte mit ein, ob von den Autoren beabsichtigt oder nicht. Ästhetisch anspruchslose Texte schaffen auf Dauer ästhetisch anspruchslose Leser. Es ist kein Zufall, dass die großen Klassiker der Kinderbuchliteratur, zumindest der von Erwachsenen gebildete Kanon, sich fast ausschließlich aus Texten zusammensetzt, die sich stilistisch vom ‚gewöhnlichen’ Kinderbuch abheben und von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen gelesen werden, oder sogar in erster Linie für Letztere geschrieben wurden, man denke an Jonathan Swifts Gullivers Reisen oder Lewis Carrols Alice im Wunderland. Ein Kanon des Kinderbuches, das tatsächlich nur von Kindern gelesen wird, konnte sich hingegen noch nicht so recht etablieren.

Nun verstehen sich die ohnehin schon spärlich gesäten Rezensionen großteils als Lese- bzw. Kaufempfehlung, ohne tatsächlich Kritik zu betreiben. Zwar ist es zweifellos positiv zu werten, dass potenziellen Käufern, sprich Eltern und anderen Konsumenten (im ökonomischen Sinn) von Kinderbüchern, Tipps gegeben werden. Die Möglichkeiten der Literaturkritik werden so aber nicht ausgeschöpft. Dass der große MRR das Kinderbuch demnächst für sich entdeckt, steht nicht zu befürchten, nichtsdestotrotz würde etwas Schärfe nicht schaden. Doch je mehr Rezensionen man liest, umso stärker wird der Eindruck, dass Verrisse einfach nicht vorgesehen sind. Die Scheu der Kritiker vor dem Verriss ist verständlich, besteht doch die Gefahr, dass ein Werturteil fälschlicherweise nicht nur auf den Text, sondern auch auf seine Leser übertragen wird; da gibt man sich doch lieber gönnerhaft. Gleichzeitig ist diese unsichtbare Grenze kontraproduktiv, denn wieso sollte ausgerechnet die mangelhafte Qualität dessen, was den Kindern als unerfahrenen Lesern vorgesetzt wird, nicht beanstandet werden? Gerade Kinderbücher sollten streng kritisiert werden, sind sie es doch, die am Beginn der Lesesozialisation stehen, und während man von erwachsenen Lesern genug Mündigkeit erwarten können sollte, selbst ein Urteil zu fällen, kann man das vom kindlichen Leser nicht. Der Einwand, es gebe zu wenig Platz für Kinderbücher, um ihn für schlechte Texte zu verschwenden, klingt plausibel, verkennt aber die Funktion von Kritiken. Ein Verriss ist keine Verschwendung. Welches Buch man lieber nicht kaufen/lesen sollte, ist als Information genauso wichtig wie eine Leseempfehlung. Der Gedankengang entspringt einem Verständnis, das Kritik mit Pädagogik gleichsetzt, und ignoriert dabei, dass Rezensionen einen Eigenwert haben. Ein Eigenwert, der weder an der Qualität des besprochenen Textes noch am Zielpublikum festgemacht werden kann. Und doch wird immer wieder der Versuch unternommen, den eigenen Wert durch die Verknüpfung mit großen Namen und anspruchsvollen, wenn auch kaum gelesenen, Texten zu potenzieren. Dazu eignet sich das Kinderbuch naturgemäß nicht, außer es handelt sich zufälligerweise um eines von Silvia Plath (vgl. Howald 1996). Gerne rezensiert werden auch Bearbeitungen von kanonisierten Texten für Kinder, denn so wird das eigene Interesse an der Weltliteratur doch noch deutlich (vgl. mar 2009).

Wir halten fest: Das auffallendste Merkmal der Rezension im Bereich des Kinderbuches ist ihr exotischer Charakter. Um Platz zwei streiten sich die Vernachlässigung ästhetischer Maßstäbe und der Legitimierungszwang der Kritiker. Vom Motto „Du bist, was du liest“ bis zu „Du bist, was du rezensierst“ ist es nur ein kleiner Schritt, der dem Ego des selbstdarstellerischen Kritikers gar nicht gut bekommt. So hat leider Erich Kästners pessimistische Einschätzung über fünf Jahrzehnte nicht an Gültigkeit verloren: „Vielleicht kümmert sich die Jugend zu wenig um die Literatur. Bestimmt aber kümmert sich die Literatur zu wenig um die Jugend.“ (Kästner 1953). Das Argument, dass Kinder selbst ja keine Rezensionen lesen, greift nicht, abgesehen davon, dass man dies auch als Anstoß nehmen könnte, kindergerechte Rezensionen zu verfassen. Der kritische Umgang mit Kinderbüchern sollte vielmehr ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Wichtigkeit von guter Literatur für die jüngsten Lesegenerationen schaffen und zwar gerade nicht nur dafür, was gut ist, sondern auch für das, was nicht so gut ist.


Nicht nur das Kinderbuch hat eine Aufwertung im Literaturbetrieb verdient, auch für die Kritik selbst kann eine Erweiterung des eigenen Spektrums nur ein Gewinn sein. Es birgt nicht zuletzt die Möglichkeit, auf Qualität zu setzen, die eigene Kompetenz zu beweisen, statt auf der Jagd nach prestigeträchtigen Büchern und Themen zu sein, an deren Ruhm man sich anhängt, oder die dazu dienen, sich selbst zu inszenieren, indem man das ohnehin schon Anspruchsvolle wieder einmal bemängelt.

Veronika Schuchter

Veronika.Schuchter@uibk.ac.at



Zitierte Literatur:

Dolle-Weinkauff/Ewers 1996
Bernd Dolle-Weinkauff, Hans-Heino Ewers (Hg.): Theorien der Jugendlektüre. Beiträge zur Kinder- und Jugendliteraturkritik seit Heinrich Wolgast. Weinheim, München: Juventa 1996 (Jugendliteratur – Theorie und Praxis)

Howald 1996
Stefan Howald: Max Nix aus Winkelburg und sein Anzug. Frankfurter Rundschau, 16.4.1996

Kästner 1953
Erich Kästner: Nur Jugendliteratur? Bemerkungen zum Jahrhundert des Kindes. Rede anlässlich der Züricher Internationalen Jugendbuchtagung. Zitiert nach: Hamburger Echo, 31.10.1953.

mar 2009
mar: Funkelnde Klangkaskaden. Klassiker. Franz Fühmann erzählt Shakespeares „Wintermärchen“ für junge Leser nach. In: Stuttgarter Zeitung, 13.10.2009, S. 10

Mayer 17.10.2009
Peter Mayer: Über Daisy und andere Namen. In: Der Standard, 17.10.2009, S. A 9

Mayer 31.10.2009
Peter Mayer: Der Junge mit dem Spitznamen Klobürste. In: Der Standard, 31.10.2009, S. A 9

Neuhaus 2004
Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 (UTB2482)