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Lobst du mich, dann lob' ich dich

12 Anmerkungen zur Literaturkritik von Rainer Moritz

Mit Krisen bin ich groß geworden. Kaum hatte ich 1973 die Ölkrise und die „autofreien“ Sonntage hinter mich gebracht, begann ich zu studieren und hoffte, dass zumindest die geisteswissenschaftlichen Disziplinen eine halbwegs krisenfreie Zone darstellten. Weit gefehlt, denn schon in den ersten Semestern lernte ich – etwa mit Dietrich Scheunemanns Buch Romankrise (1982) –, dass es auch dem Roman nicht gut gehe und man, so schon mein progressiver Deutschlehrer, nach Beckett ohnehin keine Romane mehr schreiben könne. Dann fing ich an, Literaturkritiken zu schreiben, auf der Suche nach einer Ruheoase im Medienzeitalter – erneut ein absurdes Ansinnen, da ich alsbald begriff, in welch misslicher Situation sich auch diese Disziplin befand.

Seitdem ist alles schlimmer geworden, und gerade in den letzten beiden Jahren mehren sich die Stimmen – am meisten die von Literaturkritikern –, die vorhersagen, dass die Kritik ihre Daseinsberechtigung verloren habe und dem Untergang geweiht sei. In München und Leipzig fanden zuletzt Symposien zum Thema statt. Gregor Dotzauer, Alfred-Kerr-Preisträger 2009, sieht in seiner Preisrede die „Literaturkritik am Wendepunkt“ und sich selbst als „lebenden Leichnam“. Felix Philipp Ingold konstatiert (in Volltext, 5/2008) im Rundumschlag, dass es der Kritik heute an „Armatur und Methode, an Kompetenz und Konsequenz“ fehle, und wenn man Helmut Böttigers Beitrag Literaturkritiker im neu aufgelegten Band Literaturbetrieb in Deutschland liest, stelle sich wenig Zuversicht in die Zukunft der Kritik ein.

Wie immer man zu diesen oft vom branchenüblichen Kulturpessimismus getragenen Unkenrufen stehen mag – ein Bedarf, über die aktuelle Funktionen der Kritik und ihre etwaigen Verfallserscheinungen zu debattieren, besteht offenkundig. Im Folgenden seien deshalb einige kurze Anmerkungen formuliert, die den Stand der Literaturkritik beleuchten. (Und wer nicht gern Stakkatothesen liest, den verweise ich auf meinen Beitrag zum Phänomen Daniel Kehlmann: Der Avantgardist in der Medienfalle, in: Stuttgarter Zeitung, 21.2.2009, wo einiges vom Folgenden resümiert wird.)

1. Die Literaturkritik leidet unter dem ökonomischen Druck, der verstärkt seit Ende 2008 auf der Medienbranche lastet. Die Möglichkeiten, Kritiken zu veröffentlichen, sind weiterhin groß, wenngleich der Platz, den „Kultur“ und „Feuilleton“ einnehmen, schmilzt. Die finanzielle Notlage zwingt zunehmend fest angestellte Redakteure dazu, mehr Texte zu schreiben und weniger an freie Mitarbeiter zu vergeben. Deren Honorare sinken nicht selten. Eine Qualitätseinbuße der Kritiken in den Printmedien ist nicht festzustellen. Die Legende, dass in den Sechziger- und Siebzigerjahren substantiellere Kritikern veröffentlicht worden seien, lässt sich durch ein Nachschlagen in den Zeitungsarchiven rasch widerlegen. Längere Kritikern werden seltener, außerhalb von Zeit, Volltext oder Literaturen; die Tendenz zur „Häppchenkritik“ mit Empfehlungscharakter steigt.

2. Der Einfluss der Kritik auf den Buchabsatz geht stetig zurück. Die Vertriebsabteilungen der Verlage konstatieren auch nach großen überregionalen Besprechungen oftmals keinerlei Effekt – es sei denn die Leitmedien reagieren (wie zuletzt bei den Neuerscheinungen von Daniel Kehlmann, Judith Hermann oder Ferdinand von Schirach) nahezu gleichzeitig (und euphorisch). Da die Verlage kaum noch Publikumsanzeigen für ihre literarischen Titel schalten und seit längerem auf den Erfolg ihrer Presseabteilungen setzen, markiert diese nachlassende Wirkung der Kritik ein erhebliches Problem.

3. Das rege Internetrezensionswesen führt dazu, dass Aversionen gegenüber der professionellen Literaturkritik zunehmen und sich eine „Community“ bildet, die mit literarischen Kriterien nichts am Hut hat und sich ein eigenes Propagandasystem schafft. Charlotte Roches Feuchtgebiete waren dafür ein Musterbeispiel.

4. Auch aufgrund dieses Phänomens sinken die Verkaufszahlen für anspruchsvolle Belletristik. Die Absätze bewegen sich unterhalb der Wahrnehmungsgrenze, so dass größere Verlage kaum noch in der Lage sind, Titel solcher Autoren kontinuierlich zu publizieren.

5. Die Kritik ist ungebrochen wichtig für das literarische Renommee eines Autors, für seine Chancen, Preise oder Stipendien zu erhalten.

6. Auch Literaturkritiker schielen, angefeuert von ihren Chefredakteuren, zunehmen auf große Namen. Der Zwang, möglichst früh über verheißungsvolle Novitäten – der neue Walser, der neue Mankell etc. – zu berichten, bringt es mit sich, dass literarische Qualität zweitrangig wird. Stattdessen kommen auch gestandene Kritiker nicht umhin, aufsehenerregenden Neuerscheinungen allein deshalb Wohlwollen entgegenzubringen, um sich gleichsam den ersten Zugriff zu sichern. Wollen Der Spiegel oder die TV-Sendung druckfrisch einen Autor vorab besuchen und interviewen, wird dies kaum möglich sein, wenn der Spiegel- oder druckfrisch-Redakteur das Buch des Autors geringschätzt. Unumgängliche Selbstverleugnung?

7. Literaturkritik ist, so Gregor Dotzauer, häufig „rhetorische Kraftmeierei“. Bücher werden, um Aufmerksamkeit zu erregen, über Gebühr gelobt, als Jahrhundertwerke gefeiert. Tränen der Rührung werden vergossen, Skandale künstlich geschürt. „Emphatiker“ dominieren das Feld, zumal sich Zitate aus deren Hymnen gut für Schutzumschläge eignen.

8. Wird, wie Sigrid Löffler anmerkte, die Kritik so zum verlängerten Arm der Verlagswerbeabteilungen? Zumindest besteht die Gefahr einer zu engen Verzahnung. Wer Autoren in Rezensionen kraftvoll lobt, erhöht seine Chancen, diese Autoren bei Lesungen zu moderieren, Interviewpartner zu werden und zu Pressereisen der Verlage eingeladen zu werden. Diese Einbindung von Kritikern stellte eine gezielte Strategie der Verlage dar. Nur charakterlich starke Journalisten entziehen sich dem konsequent.

9. Verrisse sind keineswegs, wie Ingold behauptet, „noch immer die beliebteste Textsorte in diesem Geschäft“. Im Gegenteil, Empfehlungen dominieren das Feld, mit der fadenscheinigen Begründung, dass der geringe zur Verfügung stehende Platz nicht an schlechte Bücher verschwendet werden dürfe. In manchen Rundfunkformaten sind Verrisse bewusst nicht mehr vorgesehen.

10. Dass Literaturkritik zur Vetternwirtschaft und zum Gefälligkeitsjournalismus tendiere, ist kein neuer Vorwurf und keineswegs auf diese Berufsgruppe beschränkt. Dennoch häufen sich die Fälle, in denen von Unabhängigkeit keine Rede sein kann. Das Motto „Lobst du mich, dann lob ich dich“ waltet überall, und oftmals müht sich niemand mehr darum, einen schlechten Beigeschmack zu vermeiden. Einige Beispiele: Warum rezensiert Verleger Jochen Jung, keineswegs nur in lobender Hinsicht, permanent Neuerscheinungen konkurrierender Verlage in der Zeit und anderswo? Wenn Bernhard Schlink einen Preis von der Welt erhält – wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass seine Bücher dort fortan kritisch rezensiert werden? Gibt es Werke von Marcel Reich-Ranicki, die in der Frankfurter Allgemeinen unfreundlich aufgenommen wurden? Obschon man nicht, wie in Deutschland gern geschehen, vorschnell Voreingenommenheiten unterstellen sollte, schaden diese Seilschaften der Seriosität und Unabhängigkeit von Literaturkritik. Auch vermeintlich unantastbare „Bestenlisten“ lassen sich von gewieften Juroren geschickt steuern.

11. Literaturkritiker kommen oftmals nicht umhin, über den Literaturbetrieb und, etwa bei personellen Wechseln, über das Arbeiten der Verlage Mutmaßungen anzustellen. Kaum einer dieser Versuche basiert auf Recherche, kaum einer dieser Versuche ist von  der Kenntnis ökonomischer Kenntnisse gekennzeichnet. Was im Wirtschaftsteil keiner Zeitung denkbar wäre, ist im Feuilleton an der Tagesordnung.

12. Literaturkritik vergisst zunehmend, wovon sie eigentlich handeln sollte. Wenn Literatur eine besondere Rede ist, die mit pragmatischen Redeformen nicht in eins zu setzen ist, dann muss die Kritik die sprachlichen, stilistischen und erzählerischen Besonderheiten herausstellen. Stattdessen entledigt sich die Kritik immer häufig dieser Aufgabe und liest Romane danach, ob sie dem Zeitgeist genügen, neue Strömungen erkennen lassen oder das Totschlagetikett „Langeweile“ tragen. Dem – gern beim Kaffeetrinken beobachteten – Autor gilt das Primärinteresse, nicht seinem Werk. Welcher Kritiker nimmt sich heute noch die Zeit, die Qualität einer Übersetzung zu prüfen, am Original?

Sind das Argumente, die für oder gegen eine Krise sprechen?

Dr. Rainer Moritz

Leiter des Literaturhauses Hamburg e.V.
Schwanenwik 38
22087 Hamburg
rmoritz@literaturhaus-hamburg.de