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Das Buch und die Kritik: Theorie versus Praxis

Im deutschsprachigen Raum versteht man unter Literaturkritik die nichtwissen­schaft­liche Auseinandersetzung mit Literatur in den Medien (in Anlehnung an Anz in Heß: 2 1997, 59). Diese sehr allgemein ge­hal­tene Definition trägt dem Umstand Rechnung, dass Kritik an sehr unterschiedlichen Or­ten und in verschiedensten Formen geübt wird.

Als Schauplatz der Kritik sind Ra­dio, Fernsehen und Internet mindestens so wichtig wie Zeitungen und Literatur- bzw. Kulturzeit­schriften, wenn nicht sogar inzwischen wichtiger. Dabei handelt es sich um ein relativ junges, aber keinesfalls neues Phänomen: Die Zeitrechnung in der mo­dernen Literaturkritik beginnt nicht mit der bekanntesten Sendung, dem Lite­ra­rischen Quartett, das regelmäßig von 1988 bis 2001 ausgestrahlt wurde, sondern die ersten Literatur­fern­seh­sen­dungen datieren Ende der 1950er bzw. Anfang der 1960er Jahre und sind eng mit der Gruppe 47 verknüpft, deren Werkstattgespräche, Arbeits­tref­fen und Preisver­leihungen erstmals medial begleitet wurden (Vgl. Loquai: 1995, 11f).

Rein äußerlich prä­sen­tiert sich Literaturkritik, wenn man einen Blick ins Feuilleton wirft, in Form von Rezensionen, Porträts, Inter­­views, An­kündigungen, Reportagen, Bestseller­listen, Berichten, Nachrichten, Essays sowie Ver­­­mischungen aus den genannten Gattungen. Diese Formen könnte man noch näher spezifizieren: Neben Büchern, und zwar sowohl Primär­texten als auch ger­ma­ni­s­­tischen Fachbüchern, dienen der Litera­tur­kritik Literaturver­filmungen und The­a­ter­­­­­­auf­führungen als Rezensionsobjekte. Por­träts werden Schrift­stelle­rIn­nen, Schau­spiele­­rInnen, Regisseu­rInnen, Verlege­­rIn­nen und Verlagen, Zeitschriftenhe­raus­­gebe­rIn­nen und Zeit­schrif­ten, Lite­ra­tur­wissen­schaftlerInnen und Literatur­kri­tike­rInnen ge­­widmet. Ähn­liches gilt für Interviews: Nicht nur AutorInnen, son­dern alle im Li­tera­­tur­betrieb Tä­tigen kommen als poten­ziel­le Interviewpartne­rIn­nen in Frage. Be­richte und Nach­rich­ten be­treffen v. a. Ereignisse im Literaturbetrieb, wie Jubi­läen und Todesfälle, Preis­­­­ver­lei­hungen, Buch­mes­sen und Literatur­veranstal­tungen in Form von Le­sungen, Li­tera­turtagen und Wett­bewerben.

Selbstverständlich sind nicht alle genann­ten Formen in allen Medien vertreten: Li­te­ra­­tur­­­kritikportale im Internet konzentrieren sich v. a. auf Buchbesprechungen, Radio­for­­­­­­mate auf Lesungen, Besprechungen, Interviews und Porträts, Fernseh­for­mate auf Wett­­­­­bewerbe wie den Ingeborg-Bachmann-Preis, Literaturmagazine, Talkshows (Loquai: 1995, S. 15-30), aber auch Features über AutorInnen und Literaturströmungen. Nur in der Zei­tung und mit Einschränkung in Zeitschriften sind alle genannten Formen der Lite­ratur­kri­tik zu finden. Die Literaturkritik in den neueren Medien ist aber deshalb keines­­falls är­­­mer: Was ihr an Formenvielfalt abgeht, kompensiert sie mit akus­tischen und op­tischen Reizen – eine Praxis, die mittler­weile auch die Print­medien so­weit möglich über­­­­nommen haben: Kein Porträt oder Interview erscheint ohne reich­lich Bild­ma­te­rial und selbst Buchbesprechungen werden häufig mit Bildern des ent­sprech­enden Buch­­­covers oder des Verfassers/der Verfasserin aufgepeppt. Der Germanist Franz Lo­­­quai ver­mutet so­gar einen „Paradigmenwechsel in der Kritik“ aufgrund der Sym­bio­se von Literatur und Fernsehen, den er allerdings nicht näher bezeichnet (Loquai: 1995, 9).

Interessanterweise wird diesem Umstand in der Forschung kaum Rechnung getra­gen: Wenn es sich nicht um Spezialuntersuchungen z.B. zu literarischen Talkshows im Fernsehen handelt (z.B. Loquai: 1995; Koch, Pütz: 1990, Kuhl: 2003, Mühlfeld: 2006), konzentriert man sich auf Literaturkritik in Printmedien und hier v. a. auf die Königsdisziplin Buchkritik (z.B. Anz in Heß: 21997, 59ff). Gerade letzteres ist nur dann ver­ständ­lich, wenn in historischen Dimensionen gedacht wird, nicht aber, wenn man aktuelle li­teratur­kritische Artikel auf ihre Textsortenzugehörigkeit unter­sucht. Eine solche Untersuchung ist mittels der Dokumentation des Innsbrucker Zei­tungs­ar­chivs (http://www.uibk.ac.at/iza/) mög­lich. Dort werden nämlich nicht nur literaturkritische Artikel aus 35 ver­schie­­denen deutschsprachigen Tages- und Wochen­zei­tungen ge­filtert, gescannt und in Form von pdfs ar­chi­viert, sondern auch mit Schlagwörtern zum Inhalt versehen und Text­typen zu­ge­­ord­net. Es ist also möglich, ganz gezielt in definierten Zeit­räu­men nach Buch­kri­ti­ken bestimmter Zeitungen zu suchen. Im Jahr 2005 beispiels­wei­se er­schienen in der öster­reichischen na­tionalen Qualitätszeitung Der Standard 1000 die Li­teratur und ver­wandte Gebiete be­treffende Artikel. 169 davon waren Buchkritiken. In der über­na­tionalen Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen im selben Zeitraum 3.138 Artikel über Literatur, davon 575 Buchbesprechungen. Der Anteil an Buch­re­zen­­­sio­nen beläuft sich in bei­den Zeitungen auf 17 bzw. 18%. Weit­aus höher, nämlich 27%, ist dieser An­teil in ge­wissen Schweizer Zei­tungen: In der Neuen Zürcher Zeitung er­schienen im Jahr 2005 2.329 die Li­tera­tur und verwandte Gebiete betreffen­de Ar­tikel, wobei es sich bei 634 Artikeln um Buch­be­sprech­ungen handelte. Buch­rezen­sio­nen machen also zwischen einem knap­­pen Fünftel und im besten Fall einem guten Vier­­tel der literaturkritischen Ar­tikel aus­, nichtsdestoweniger gibt es offenbar kei­ne Vor­­behalte, sie mit Literaturkritik synonym zu setzen.

Wie Literaturkritik beschaffen ist, welche Funktionen die Literaturkritik überhaupt und auch im Vergleich zur Lite­ratur­­­wissenschaft inne hat, ist Thema sowohl in der Pu­­blizistik-, Medien- und Literatur­wissen­schaft als auch unter Literatur­kritike­rInnen selbst, sei es anlässlich von einschlägigen Symposien (z.B. „Kritik 2000“ am 18.-20.1.2001, Wannsee, und „Was vom Tage bleibt. Das Feuilleton und die Zukunft der kritischen Öffentlichkeit in Deutschland, 18.-20.9.2003, Halle an der Saale. Die Beiträge sind gedruckt in Miller, Stolz: 2002 und Steinfeld: 2004), sei es aufgrund von Ein­la­dungen an JournalistInnen, Bei­träge zu praktischen Journalismushand­büchern zu lei­sten (z.B. Jessen in Schalkowski: 2005, 207-219). Ob sich WissenschaftlerInnen oder KulturjournalistInnen Gedanken über Li­te­ra­turkritik machen, ist ein Unterschied. LiteraturkritikerInnen teilen subjek­tive Er­fah­rungs­werte mit: Es handelt sich bei ihren Aussagen um Einzel­beo­bach­tungen aus der Arbeitspraxis, die weder den Anspruch auf Vollständig­keit noch Syste­ma­tik er­he­ben. Das Urteil kann durchaus sehr kritisch ausfallen und ist nicht frei von per­sön­lichen Wert­ur­teilen, besonders wenn es darum geht, gegen die Kon­kur­renz im ei­ge­nen Metier anzutreten. Als Beispiel sei hier Matthias Altenburgs kri­tischer Kommen­tar in der Zeit anlässlich der Einstellung des Literarischen Quartetts im Jahr 2001 ange­führt. Altenburg begrüßte diese Nachricht als „gute Nachricht“ und nahm sie zum An­lass, im Speziellen mit dem Format und Marcel Reich-Ranicki sowie im Allge­mei­nen mit Literaturkritik im Fernsehen ins Gericht zu gehen:

„Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher“, sagte Albert Einstein. Genau das aber ist die Maßgabe des Fernsehens und seiner Kultursendungen: alles immer noch einfacher zu machen. Egal, ob Aspekte oder Kulturzeit, ob Kulturweltspiegel oder Das Literarische Quartett, was man hier geboten bekommt, ist selten mehr als Klatsch für die gehobenen Stände, Futter für die Trottel mit Abitur. Jedem Gegenstand nähert man sich mit dem Vokabular einer gängigen Allerweltsästhetik. Und so verwundert es nicht, dass die Moderatoren ein Kunstwerk am liebsten mit den Attributen „provozierend, irritierend, ver­störend“ beschreiben. Als würde man derweil nicht in jedem Volkshochschul­kurs lernen, dass diese drei Worte niemals einem klugen Kopf entspringen, aber seit Jahrzehnten auf alle breiten Ärsche des Kulturbetriebes tätowiert worden sind. Dass man, wie Paul Valéry es forderte, sich bei den Malern entschuldigen müsse, wenn man es wage, über Malerei zu sprechen, diese Demut ist den Fernsehleuten wesensfremd." (http://www.zeit.de/ar­chiv/2001/35/200135_lit.quar­tett.xml?page=all)

Im Gegensatz zu den LiteraturkritikerInnen beschränken sich die WissenschaftlerIn­nen auf die Beschreibung der Funktionen von Literaturkritik, wobei in Sache und Be­nen­nung auf den ersten Blick erstaunlicher Konsens herrscht. Als erster hat Thomas Anz 1992 fünf Funk­tio­nen von Literatur­kritik ermittelt, er spricht von der „in­for­mierenden Orien­tierungsfun­ktion“, der „Selek­tions­funktion“, der „didaktisch-vermitteln­den Fun­ktion für das Publikum“, der „didaktisch-san­­ktionierenden Funktion für Literatur­pro­du­zenten“, der „re­flexions- und kommu­ni­kations­stimulierenden Funktion“. 2004 hat er die­se Reihe um eine weitere Funktion er­gänzt, und zwar um die „Unterhaltungsfunk­tion“ (Anz in Heß: 1992, 51f bzw. Heß: 21997, 60f sowie in Anz, Baasner: 2004, 195f sowie in Klein, Klettenhammer: 2005, 32). Aus dem Jahr 2001 datiert die Beschreibung der Funktionen der Literaturkritik von Wolfgang Al­brecht. Er hat früher als Anz der Literaturkritik eine Unterhaltungs­funk­tion zuge­schrie­ben und unterscheidet nicht wie Anz zwischen zwei verschie­de­nen didak­tischen Funktionen, sondern bei ihm entspricht ihnen in etwa die so genannte „Wer­­tungs­funktion“ (Albrecht: 2001, 28-35). Eine dritte Funktionsbeschreibung stammt von Ste­­­fan Neu­haus aus dem Jahr 2004: Er führt mit der Orientierungs-, Infor­­ma­tions-, Kri­tik- und Unter­hal­tungs­­funk­tion vier Funktionen an, wobei seine Kritik­funk­tion der Al­brecht’schen Wer­tungs­funktion entspricht (Neuhaus: 2004, 167-169). Damit verzichten bei­de im Gegen­satz zu Anz darauf, den didaktischen Anspruch der Literaturkritik zu be­to­nen. Nichts­­destoweniger sind auch die von ihnen ermittelten Funktionen für Re­zen­sionen maß­­ge­schneidert und passen nur sehr bedingt auf andere Textsorten, mit denen Li­te­ra­tur­­kritik ar­bei­tet.

Diese Phänomene, die Erwähnung von Didaktik und Räsonnement sowie die Be­schrän­kung auf Re­zen­sionen, haben ihre Ur­sache in der Ge­schichte der Literatur­kri­tik: Die Rezension als eine der ältesten For­men der Kri­tik ist ein Geisteskind der Auf­klä­rung. Bedenkt man, dass Ende des 17. Jahr­hun­derts einer­seits eine regelrechte Publikationsflut einsetzte und sich an­de­rer­seits auf­­grund ge­sun­­kener Analpha­beten­rate und staatlich gefördertem Interesse an Lek­türe eine zahl­reiche Leserschaft aus allen Ständen und Bildungs­schichten for­miert hatte, die durch verbesserte Infra­struk­tur wie Einrichtung von Lesegesellschaften, Leih­biblio­the­ken, Buch­handlungen und Kolportagehandel auch tatsächlich Zugang zu Lese­­stoff bekam (Wehler: 1987, 520), so erklärt sich schnell die Notwendigkeit einer Instanz, die orien­tier­te und selektierte, aber auch durch ästhetische und moralische Wertung die so genan­nte Leserevolution in geord­nete Bahnen leitete und garantierte, dass Lesen, den Wün­schen der Aufklärer ent­sprechend, zur Erbauung und Bildung beitrug. Ins­be­sondere war es ein Ziel der Auf­klä­rung, die Bürger zum Räsonne­ment anzu­re­gen, das man­gels politischem Mit­sprache­recht und politischer Öffent­lichkeit zu­nächst als Ge­spräch über Literatur im Privaten bzw. Halbprivaten stattfand (Hölscher: 1978, 435ff). In die­sem Sinn sind die Orien­tierungs-, Infor­­ma­tions-, und Kritikfunktion nicht nur hi­sto­risch be­grün­dete Funk­tionen, sondern auch imperative Funktionen.

Heute muss man sich fragen, ob sich Ist und Soll noch decken. Um diese Frage zu beantworten, wird es not­wen­dig sein, die AdressatInnen da­rüber zu befragen, ob sie über­­­haupt Rezensionen lesen und welchen Wert sie für sie ha­ben. Be­stimmt die Lek­türe von Rezensionen wirklich das Kaufverhalten in der Buch­­­hand­lung, ja, werden denn überhaupt Rezensionen gelesen, bevor Bücher ge­kauft wer­­den? Oder ist viel­mehr die Bestenliste oder der Bestsellertisch, den Buchhandlungen gerne im Ein­gangs­bereich platzieren, Leitfaden beim Kauf? Haben Bücher eine Chance gelesen zu wer­­den, die es nicht in den Kultur­teil schaf­fen? Hilft eine Re­zen­sion bei der Beur­tei­lung der Lektüre, erleichtert sie das Verständnis für das Buch? Ebenso wird man fra­gen müssen, ob AutorInnen Rezensionen lesen und daraus Hand­­lungs­an­weisungen für künftiges Schreiben ableiten. Anlässlich des Sym­po­siums „Kritik 2000“ in Wann­see wurde diese Frage einigen AutorInnen gestellt, die sehr unterschiedlich darauf rea­gier­ten: Die einen empfanden Kritiken als Zumutung, die anderen als Anregung (Miller, Stolz: 2002, 24, 82, 196). Ohne systematische empirische Forschung sind diese Fragen an Auto­rInnen und Publikum nicht beantwortbar. Manche Zeitungen führen zwar LeserIn­nenbefragungen durch, allerdings geht es ihnen dabei nur darum zu er­mit­teln, wie hoch die Attraktivität der einzelnen Zeitungssparten ist. 2006 führte bei­spiels­weise die Stuttgarter Zeitung eine solche Be­fra­gung unter ihren Abonnen­tInnen durch mit dem Ergebnis, dass 24,1% regelmäßig den Kulturteil lesen. Von die­sen Lese­rInnen inte­ressieren sich wiederum 21,6% für Literatur, mehr Interesse er­weckt nur das Kul­tur­leben in Stuttgart und das Theater. Angesichts dieser Zahlen mag der Ein­druck ent­stehen, dass es um den Kulturteil gut be­stellt ist, nur sollte man wis­sen, dass er in der Beliebtheit weit nach dem Politik-, Lo­kal-, Wirtschafts- und Sport­­teil und sogar noch hinter dem Wetterbericht liegt, aber immerhin noch vor Ver­­­an­staltungs­ankün­digungen und Leserbriefen. Indem bei der Befragung die Ant­wor­ten „oft“ und „regelmäßig“ addiert wurden, ergab sich ein viel besseres Bild und so konnte die Stuttgarter Zeitung behaupten: „93,8 Prozent der StZ-Kunden lesen regelmäßig oder oft Berichte aus der Innen­poli­tik, 87,8 Prozent den Lokalteil, fast drei Viertel den Wirtschafts- und 59,5 Prozent den Kul­turteil“ (Stuttgarter Zeitung 11.4.2006, S. 5).

Eine ähnliche Befragung unternahm 2006 die ost-west­deu­tsche Zeitung Freitag mit dem Ergebnis, dass Freitag-LeserInnen zwar „Großstadt­men­schen“ und „aus­ge­spro­che­ne Bildungsbürger“ sind, aber dennoch mehr Interesse am poli­tischen als am Kul­tur­teil der Zeitung haben: „10,6 Prozent lesen nur den Politik­teil, 37,3 ten­den­­ziell nur den Politikteil, 0,8 nur den Kulturteil, 8,0 tendenziell nur den Kulturteil und 43,4 beide Teile gleichermaßen.“ (Eckhoff: 2007, o. S.)

Diesen relativ guten Ergeb­nissen wider­spricht der Schwei­zer Medienberater Carlo Im­boden vehement: „Tages­zei­tungen werden mehr gekauft als gelesen“ ist sein Fa­zit, nachdem er eine Mess­methode entwickelt hat, um festzustellen, wie es objektiv um das Lese­ver­halten der Zeitungs­leserInnen be­stellt ist. Dabei kam er auf der Basis em­pirischer Unter­suchungen zum Ergebnis, dass 4% den Lo­kal­teil, 2% das Feuilleton und 1% den Sport- bzw. Veranstaltungsteil wirk­lich le­sen (http://news.orf.at/­051121­-93615­/93616txt_story.html). Angesichts die­­ser Zahlen sollte man sich also keine besondere Wir­kung von Re­­­zen­sio­nen ver­­spre­chen und die Orien­tierungsfun­ktion, die Selek­tions­funktion, die didaktischen Funktionen und die so genannte re­flexions- und kommu­ni­kations­stimulierende Funktion als mö­gliche Funktionen oder Wunsch­­­funktionen, aber nicht als Ist-Funk­tio­nen ansehen. Dasselbe gilt übrigens auch für diverse Literatur­formate im Fernsehen: Laut Daniel Lenz im Buch­report.Magazin vom 1.5.2002 kommt „’keine der Sendungen […] durch­schnitt­lich über eine Quote von 100.000 Zuschauern; eine Null weniger ist keine Selten­­heit.’ Marcel Reich-Ranicki er­reichte mit seiner ersten ‚Solo’-Sendung immer­hin 1,1 Millionen Zuschauer. Auch bei ihm fällt die Quote allerdings, zuletzt auf 720.000“ (http://www.perlen­tau­cher.de/buch­macher/2002-05-06.html). Darüber hinaus wurden im Literarischen Quartett meist bereits etablierte Bücher eta­blier­ter AutorInnen besprochen. Franz Loquai meint dazu:

„Sicher, die Verkaufszahlen steigen nach der Sendung, sie lagen bei den meisten Titeln aber schon vorher hoch. Denn das Quartett bevorzugt in der Regel lange Vorlaufszeiten (die Inszenierung will einstudiert sein), in deren Verlauf Presse, Rund­funk und Literaturmagazine die interessanten Neuheiten meist schon ge­sichtet haben“ (Loquai: 1995, 22).

Für Loquai ist es ein Mythos, dass Reich-Ranickis Verrisse die Zu­schaue­­rInnen zum Sturm auf die Buchhandlungen bewogen hätten. Die Aussage des Mitdiskutanten Hellmuth Karasek, Günter Grass habe es Reich-Ranickis Vernichtung von Ein weites Feld zu ver­dan­ken, dass das Buch 170.000 Mal verkauft worden wäre, stimme nicht. Der Verlag re­gistrierte am näch­sten Tag „nur“ 11.000 Bestellungen (Loquai: 1995, 24). Loquai, Roland Koch und Susanne Pütz, die über das Literarische Quartett geforscht haben, sind sich ein­ig, dass dort nicht nach­voll­­­ziehbare Wertkriterien vermittelt wurden und auch kein gleichberechtigtes Ge­spräch über Literatur stattfand, sondern dass es in Sen­dungen dieser Art darum gehe, die ZuschauerInnen „zum Kulturkenner aus[zu]­rüsten“, ihnen „das Gefühl [zu geben], sich mit Kultur, in diesem Fall mit Literatur, beschäftigt zu haben“ und ihnen das Lesen, Vergleichen und selbständige Urteilen zu ersparen, da der Moderator in seiner „Autoritätsfunktion“ suggeriert, alles schon für sie er­ledigt zu haben (Koch: 1990, 3; zu den Rederollen vgl. Pütz: 1990, 16-43). Beim Lite­rarischen Quartett kommt dazu, dass sich das Ge­spräch über Literatur nur zwischen den Experten abspielte und die Gäste vor Ort sowie die Zu­schauerInnen zu Hause nicht oder nur kaum eingebunden wurden (zum Konzept vgl. Pütz: 1990, 17ff). Als ein Zu­schauer sich einmal zu Reich-Ra­nicki auf das Sofa setzte, um seine Mei­nung über Ost­deutsche Literatur kund­zutun, reagierte der männliche Part des Quar­tetts pa­nisch, anstatt den Zu­schauer in die Ge­sprächs­runde aufzunehmen. Reich-Ra­nicki droh­te, den ungebetenen Gast entfernen zu lassen und in Zu­kunft das Publi­kum aus­zu­schließen. Mehr als einen Satz durfte der ungebetene Gast nicht äußern, dis­kutiert wurde darüber nicht (dokumentiert bei Koch, Pütz: 1990, S. 13 und 36f). Warum nun dennoch etwa 4% der Fernseh­zu­schauerIn­nen regel­mäßig das Literarische Quartett verfolgten, er­klär­­­te Reich-Ranicki selbst mit dem Kon­zept der Sendung: Nicht das Interesse an Literatur, sondern die Lust am Streitgespräch, das für Unterhaltung sorgt, beschere der Sendung das Publi­kum (Pütz: 1990, 39). In­te­ressanterweise herrscht auch in der Literaturwissen­schaft die Annahme, Li­­teratur­­kri­tik sei bzw. müsse unterhaltend sein. Tho­mas Anz lei­­­tet werdende Kri­tike­­rInnen da­zu an, stilistisch ansprechend zu schreiben und mit Witz, Begeisterung, Leben­dig­keit, Anschaulichkeit, aber auch mit Provokation die Lese­­rInnen neugierig zu ma­chen, zu fesseln, zu unterhalten (Anz in Heß: 21997, 68). Auch diese Forderung ist nur eine Soll-Funk­­tion: Von mir zu verschiedenen Gelegenheiten durchgeführte Spon­tan­befra­gungen von Stu­dierenden haben ergeben, dass sie Rezensionen nicht unter­haltsam fin­den.

Mit der Besprechung der genannten Funktionen von Literaturkritik ist die Erfassung ihrer Aufgaben noch nicht abgeschlossen. Eine weitere Ist-Funktion der modernen Litera­turkritik hat Heinrich Dete­ring er­mittelt: Für ihn er­weist das Feuilleton der Ger­­ma­nistik einen wichtigen Dienst, da Li­teratur­kritik „so­wohl die Funktion des zen­tralen Mediums der fachlichen Selbst­verständigung als auch diejenige des zen­tra­len Mediums zur Außendarstellung, zur Ver­mittlung des Faches, seiner Arbeits­wei­sen und Erträge“ haben kann (Detering in Steinfeld: 2004, 147). Er trägt damit dem Um­stand Rechnung, dass sich unter den LiteraturkritikerInnen einige aus­­ge­bildete Ger­ma­nis­tInnen, ja sogar Uni­ver­sitäts­germanistInnen, befinden und das Feuilleton da­durch und durch das Be­sprechen germanistischer Arbeiten zum Ort des wissen­schaft­lichen Dis­kurses wer­den kann. Auch diese Funktion ist nicht neu: Bereits um 1900 reagierte Karl Kraus in seiner Zeitschrift Die Fackel darauf, dass die Heine-Forschung die Feuilletonspalten be­­völ­­kerte (Esterhammer: 2005, Kap. 3.2.2.2). Es war nämlich üblich geworden, den liberalen Bildungsbürgern auf populär­wis­sen­­­schaftliche Art und Weise Details aus Heines Leben, genauer über seine Ver­wandt­­schaftsbeziehungen, seine Ehe, sein Geldleben, seine Krankheit etc., zu liefern (Kröger: 1989, 98-134). Um bei Heine zu bleiben: Für das Heine-Jahr 1997 hat das Innsbrucker Zei­tungs­ar­chiv 244 Zeitungsartikel aus den deutschsprachigen Zeitungen über Heine gesammelt. 54 da­von sind Besprechungen wissenschaftlicher Arbeiten über Heine oder Mischungen aus Besprechungen und Porträts auf der Basis von wissen­schaft­lichen Mono­gra­phien, 14 Artikel sind Symposiumsberichte, 9 Artikel in der Form von Essays oder Por­­träts stammen von LiteraturwissenschaftlerInnen, d.h. also dass für knapp ein Drit­tel der Artikel die Germanistik Datenquelle ist. Zugegebener­maßen spielt diese Funktion eher für die schriftlich fixierte Literaturkritik eine Rolle, allerdings werden GermanistInnen auch ins Fernsehen eingeladen. 2006 trafen sich zum Literatur im Foyer anlässlich des Heine-Jahrs Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, Heine-Biographin Kerstin Decker, Heine-Forscher Jan-Christoph Hauschild und Germanist Gert Ueding unter der Leitung von Martin Lüdke zum Gespräch.

Meiner Beobachtung nach erfüllt Litera­turkritik in Schrift, aber auch in ein­ge­schränk­tem Maß in Bild noch weitere Ist-Funktionen, so besitzt sie eine Ersatz- bzw. Kom­pensations­­funk­tion: Literaturkritik beschäftigt sich – freilich in Auswahl – mit Gegen­­warts­­autorInnen, bevor es die Literaturwissen­schaft vermag, sie zu ihrem For­schungs­gegenstand zu machen. Das liegt einerseits da­ran, dass ein wissen­schaft­licher Artikel im Vergleich zum literaturkritischen Ar­tikel ein Vielfaches an Zeit be­an­sprucht, zumal der Umfang in der Regel größer, die Methode wissen­schaftlich und die Arbeitstechnik sorgfältiger sein muss. Hinzu kom­men die Suche nach einer Pu­bli­kations­möglichkeit, bei Monographien Druck­kosten­einwer­bung und mehr oder weniger lange War­te­zeiten zwischen Fertig­stellung des Texts und tech­nischer Rea­li­sierung. Zum an­deren werden AutorInnen in der Regel als Text­­­produzentInnen für die For­schung erst interessant, wenn sie mehr als eine Ver­öffent­­­­lichung vorzuweisen ha­ben, was für die Literaturkritik nicht zwingend gilt. Auch dieser Faktor kostet der Ger­­manistik Zeit. Nimmt sich nun die Literaturkritik zeit­­ge­nössischer Li­­­teratur an, schafft sie einer­­seits der Literaturwissenschaft durch Bereit­­­stellung von bio­gra­phischen Daten, Selbst­­zeug­nissen der AutorInnen, Hin­wei­sen auf die Ent­stehungs­ge­­schichte eine Basis für die einsetzende Forschung. Wirft man einen Blick in das Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, kurz KLG, so wird dieser Eindruck bestätigt: Wie anhand der Bibliographien zu den einzelnen Arti­keln ersichtlich ist, dienen literaturkritische Artikel als viel beanspruchte Quel­len. Andererseits gibt die Li­teratur­kritik den Au­to­rInnen Feed­back und kompensiert die Ent­täuschung, wenn die Beach­­tung durch die Li­­teratur­wissen­schaft zur Gänze aus­bleibt oder gering ausfällt. Diese Funktion erfüllt sie beispielsweise sehr gut beim Südtiroler Autor Joseph Zo­de­rer. Er hat zwar 1989 einen Lexikoneintrag im KLG erhalten, ansonsten scheint sein Werk im deutschsprachigen Raum vornehmlich nur in Österreich Unter­suchungs­gegenstand der Literaturwissenschaft zu sein und hier fast ausschließlich im Rahmen von Diplom­arbeiten, wenigen Dissertationen und Aufsätzen. Dabei hat Zoderer seit den 1970er Jahren dreizehn Romane und Er­zählungen, drei Gedichtbände und zahlreiche Beiträge in Zeitschriften veröffentlicht, zwei Romane wurden erfolgreich verfilmt, und er hat insgesamt zwanzig Stipendien, Auszeich­nungen und Preise in Süd­tirol, Österreich und Deutschland erhalten. Zoderer selbst hat wiederholt die man­­gelnde Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft öffentlich beklagt, die aller­dings durch die Literaturkritik wieder wettgemacht wird: Zu seinen Tex­ten und sei­ner Person erschienen im gesamten deutschen Sprachraum über 1000 Ar­tikel, davon mehr als 550 Rezensionen (Esterhammer: 2006, bes. Kap. 2).

Mit der Ersatz- bzw. Kom­pensations­­funk­tion hängt eine weitere Funktion, die Literaturkritik haben kann, eng zu­sammen, die Er­gänzungs­funktion: Literaturkritik kann Fragen nachgehen, die für die Wissenschaft nicht unmittel­bar relevant sind, aber Aufschluss über die gesell­schaft­liche, soziale, poli­tische Stellung von AutorInnen geben. Ins­be­sondere kann sie Schwer­punkte setzen, indem sie sich bei der Rezeption auf einzelne Aspekte kon­zen­triert und an­dere gar nicht anspricht. Im Fall von Zoderer belegt sie sein politisches und sozia­les Engagement in Südtirol – Informationen, an denen die Literatur­wissen­schaft kaum Inte­resse hat (Esterhammer: 2006, S. 56ff).

Als letzte Funktion ist die Steuerungsfunktion von Literatur­kritik zu erwähnen: Sie kann AutorInnen dazu dienen, das ei­ge­ne Bild in der Öffentlichkeit zu prä­gen und auf die Rezeption einzuwirken. Be­son­ders Por­träts und Interviews dienen dem Mot­to „Literatur zum Anfassen“. Sie kön­nen dazu beitragen, AutorInnen zu ver­­­menschlichen, das Bedürfnis der LeserInnen nach Klatsch zu be­­­frie­digen und mit Anek­doten für Unterhaltung zu sor­gen. Damit sind sie ein wich­ti­ger Werbeträger in der Vermarktung. Gleich­zei­tig geben Porträts und Interviews zeit­genössischen Auto­rInnen die Gelegenheit, sich zu in­s­zenieren und das Bild, das der Öffent­lichkeit in den Medien präsentiert wird, mit­zu­gestalten, etwa durch die do­sierte Freigabe bio­graphischer Details. In Hinblick auf ihr Werk können Auto­rInnen die Mög­lichkeit nutzen, Interpretationshilfen anzu­bie­ten oder nicht genehme Inter­­pre­ta­tionen zu korrigieren. So nützte beispielsweise der Kärntner Schriftsteller Josef Winkler das Fernseh­fea­ture Die Heimat ist ein Kälberstrick. Texte von Gert Jonke, Bernhard C. Bünker, Josef Winkler und Florian Lipuš (Eine Produktion des ORF, Landesstudio Kärnten, o.J., Gestaltung: Fred Dickermann, Helga Ripper) dazu, gegen seine Etikettierung als Heimatliterat zu protestieren, welche seinem Schreiben nicht gerecht werde. Literaturkritik wird da­mit zum Sprachrohr von Auto­­­rInnen, sofern sie das Glück haben, von der Li­teratur­kri­tik beachtet zu werden.

Literaturkritik hat also einen breiten Adressatenkreis: Das konsumierende Publikum, der Buchmarkt, Auto­rInnen und GermanistInnen können gleichermaßen von ihr pro­fi­tieren, die Frage ist nur, in welchem Maß diese Dienste in Anspruch genommen werden. Andererseits muss man sich allerdings auch der Nachteile von Literaturkri­tik be­wusst werden. Erstens haben nur diejenigen AutorInnen, die von der Literaturkritik beachtet werden, eine Chance, von ihren Funk­tionen zu profitieren. Zweitens trägt sie wesentlich zur Klischeebildung bei und engt die Re­ze­p­tion von AutorInnen ein, hierzu einige Beispiele: Mit ihrem Debütroman Wie kommt das Salz ins Meer wurde Brigitte Schwaiger 1977 zur vielbesprochenen Bestsellerautorin, die in Talkshow ein­ge­laden wurde und es auf Magazincovers schaffte. Obwohl sie ihre schriftstellerische Tätigkeit nie einstellte, brachten es ihre jüngsten Texte wie z.B. Fallen lassen (2006), Liebesversuche, Nestwärme (2002), Ich suchte das Leben und fand nur dich (2001) im Schnitt nur auf 1-2 Rezensionen. Dafür interessiert Schwaigers Leben offenbar umso mehr: Porträts geben darüber Aufschluss, dass sie psychisch krank sei und als einstige Bestsellerautorin nun als Sozialfall lebe (z.B. Tramontana: 2000, 210f). Die österreichische Autorin El­frie­de Czur­da wurde aufgrund ihrer Texte Die Giftmörderinnen (1991) und Die Schläferin (1997) von der Kritik zur zweiten Jelinek gemacht: Dieser Vergleich schmä­­lert nicht nur ihre Eigenleistung und bringt sie in Verruf, Epigonin zu sein, son­­­dern belastet sie mit allen Negativklischees, die man Elfriede Jelinek aufgebürdet hat (z.B. bei Leis: 1998, o. S.; Thuswaldner: 1991, o. S., Menasse: 1991, o. S., Moser: 1997, o. S.). Werden JungautorInnen mit Volker Hages Schöpfung, dem Etikett „literarisches Fräulein­wun­­der“, bedacht, so lastet auf ihnen der Verdacht, nur ein Marketing­pro­dukt zu sein, das weniger mit Talent als mit gutem Aussehen punktet und überdies be­reit ist, sich als Frau, und zwar als Klischeebild der frischen, tabulosen, lebens­lusti­gen neuen Weib­lichkeit, vermarkten zu lassen. Mit den Vor- und Nachteilen dieses Eti­ketts muss­ten beispielsweise Jenny Erpenbeck, Judith Hermann, Zoë Jenny oder Karen Duves leben (Müller: 2004 als weiterführende Literatur). Drittens gibt Literaturkritik im schlimmsten Fall falsche Lese­an­lei­tungen. Ein Beispiel für die Vermittlung falscher Lesarten ist: fik­tive Text als Auto­bio­graphie zu lesen und im Extremfall AutorIn und er­zäh­len­des Ich gleich­zu­setzen. Letzteres ist Joseph Zoderer gleich zweimal passiert, einmal bei seinem Roman Das Glück beim Händewaschen (1976), das zweite Mal bei seiner Erzählung Wir gingen (2004) (Vgl. dazu Esterhammer: 2006, 25ff; Bertagnolli: 2004, 11; Schwazer: 2004, 19). Darin erinnert sich ein Erwachsener, dessen Eltern für das Deutsche Reich op­tiert haben, im Zusammenhang mit der Auswanderung der Familie an den Satz des Vaters „Ich hab’ einen Bock geschossen“, den er als Kleinkind nicht verstanden hat. Da er sich nicht mehr an die Ereignisse erinnert und die Eltern schon verstorben sind, versucht er durch Befragung des Bruders die Zeit der Option zu rekonstruieren. Obwohl Wir gingen sogar auf dem Buch­­deckel als Erzählung, also als fiktiver Text aus­ge­wiesen wurde, schreibt Kulturjournalist Heinrich Schwazer in seiner Rezension in der Neuen Südtiroler Tageszeitung wie folgt:

„Ich höre meinen Vater schreien: Ich hab’ einen Bock geschossen!“ Dieser Satz ist einer von den wenigen Sätzen seines Vaters, an die sich der Schriftsteller Joseph Zoderer erinnern kann. […] Joseph Zoderer war damals vier Jahre alt. […] Präzis und konkret in den Einzelheiten erzählt Zoderer die Geschichte, die er eigentlich nur aus zweiter Hand, von seinem älteren Bruder erfahren hat […].“ (Schwazer: 2004, 19)

Autor und Protagonist werden damit eins. Abgesehen davon, dass dem Autor Mei­­nungen und Positionen unterschoben wer­den, die er nicht unbedingt mit seinen Fi­­gu­ren teilen muss, wird auch seine schöpferische Leistung geschmälert: Er wird zum Autor, der nur begrenzten Stoff zur Verfügung hat und dem es offenbar an Phan­tasie fehlt, anderes als Erlebtes zu gestalten. Freilich bedient damit die Literatur­kri­­tik bewusst die Erwartungshaltung des Publikums, das nur zu gerne Autobiogra­phisches aufspürt.

Das Buch und die Kritik: Abschließend ist zu bemerken, dass ein Vergleich von Theorie und Praxis zeigt, dass die Theorie Nach­­holbedarf hat und sich in die Empirie begeben sollte, um Klarheit über die tat­säch­lichen Aufgaben und Funktionen der Literaturkritik zu erlangen. Geschieht dies kritisch, erweist sie damit den AdressatInnen der Literaturkritik inklusive sich selbst einen Dienst, zumal Literaturkritik entgegen der derzeitigen Beschreibung in der Theorie nicht nur positive Wirkung entfaltet.

Dr. MMag. Ruth Esterhammer

Institut für Germanistik
Universität Innsbruck
Innrain 52
6020 Innsbruck
Ruth.Esterhammer@uibk.ac.at

 

Literaturverzeichnis