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Migrantenliteratur und das schlechte Gewissen der Literaturkritik

Deniz Utlus Roman "Die Ungehaltenen". Von Uwe Schütte

Deutschland wäre bekanntlich gerne seit einiger Zeit schon eine ‚normale’ Nation. Dass daher derzeit die – sofern man sie überhaupt so nennen darf – Migrantenliteratur angesagt ist, hat nicht nur mit dem schlechten Gewissen des deutschen Literaturbetriebs zu tun, sondern holt verzögert nach, was sich etwa im englischsprachigen Raum längst schon vollzogen hat, als die britische Literatur ab den späten 1980er Jahren durch die Romane von Autoren wie Salman Rushdie, Hanif Kureshi und anderen ordentlich aufgemischt wurde. Das wiederum blieb nicht ohne Folgen für die Universitäten: Unter dem Vorzeichen der Postcolonial Studies integrierte die Literaturwissenschaft den neuen Trend und revidierte damit den zuvor elitären Kanon prädominant weißer männlicher Schriftsteller. Ein überfälliger Fortschritt, gewiss. Und zugleich eine willkommene Möglichkeit für links-liberale Akademiker, sowohl Karriere zu machen als auch moralische Abbuße zu leisten für die sozio-ökonomischen Vorteile, die ihnen aus ihrer privilegierten Herkunft erwachsen.

In der britischen Auslandsgermanistik boomt seit einiger Zeit bereits die Forschung zu Büchern von bikulturellen Migranten; nicht zuletzt deshalb, weil man heutzutage mit Goethe und Lessing, Thomas Mann und Günter Grass außerhalb der Elite-Unis nur schwer noch Studenten rekrutieren kann. Zudem können die German Studies damit ihre periphere Position zu einem Standortvorteil ummünzen und anschließen an die sogenannte Interkulturelle Germanistik, welche sich im Vaterland mittlerweile in verschiedenen Provinzunis eingenistet hat. Diese versucht – in der Vermittlung interkultureller Kompetenzen – die so gern eingeforderte gesellschaftliche Relevanz der Germanistik im Kontext der Globalisierung herzustellen, auch wenn das eher darauf hinausläuft, beispielsweise Absolventen auszubilden, die den Außenhandel mit menschenrechtsfeindlichen Diktaturen befördern.

Diesseits wie jenseits des Kanals, so könnte ich mir gut vorstellen, dürfte ein Autor wie Deniz Utlu auf nicht geringes Interesse stoßen in den Seminaren: Geboren 1983 in Hannover, Studium der Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Außerdem, wie der Klappentext werbewirksam ausstellt, twittert er dreisprachig zu politischen und kulturellen Themen. Ein Autorenprofil fürs 21. Jahrhundert also. Die Ungehaltenen[1] ist sein erster Roman. Das ist ein cleverer weil ambivalenter Titel, der das Nebeneinander von sozialem wie privatem Unbehagen, welchen das darin beschriebene Migrationsmilieu auszeichnet, subtil erfasst. Der Rest des Romans fällt dagegen leider ab. Debüts soll man entweder loben oder ignorieren, besagt ein ungeschriebenes Gesetz im englischen Literaturbetrieb. Versuchen wir einen Mittelweg zu finden und beginnen mit einem Geständnis: Rezensent lebt seit 2005 in just jenem engbegrenzten Teil von Kreuzberg, in dem Utlus Roman spielt, pendelt aber gleichsam als germanistischer Arbeitsmigrant zwischen Berlin und England.

In Birmingham, recht weit von wo, über den eigenen Kiez zu lesen, verschafft zumeist eine merkwürdige Lektüreerfahrung zwischen Heimat und Fremde. So etwa bei den beobachtungsgenauen Romanen von Ulrich Peltzer. Bei Deniz Utlu hingegen bleibt ‚Kreuzberg 36’ seltsam diffus. Mehr noch: Von einer Reflexion der gegenwärtigen Zustände, etwa was die beklagenswerte Situation im Görlitzer Park betrifft, in dem unlängst der Autor und Politologe Raul Zelik brutal überfallen wurde, ist in den Ungehaltenen nichts zu finden, obwohl die Protagonisten öfters auf der Steintreppe gegenüber dem Café Edelweiß sitzen. Onkel Cemal beklagt zwar, dass seit dem Fall der Mauer das alte Kreuzberg verschwunden sei, aber so zweigleisig deutsch-türkisch, wie das Viertel in dem im Jahr 2011 angesiedelten Buch erscheint, ist Kreuzberg eben schon lange nicht mehr. Doch dazu später mehr.

Als Roman funktioniert Die Ungehaltenen weitgehend nach Schema F: Genau zur Hälfte beginnt der zweite Teil, in dem die Handlung dann im letzten Drittel in die Türkei transferiert wird. Sonderlich Aufregendes passiert nicht: Ich-Erzähler Elyas verschludert sein Studium, der Vater stirbt, seine Beziehung geht in die Brüche, dann verliebt sich Elyas in eine deutsch-türkische Ärztin; erst fliegt sie, dann er in die Türkei, sein Onkel kehrt zu altem Liebesglück zurück, Elyas findet ein neues, Buch zu Ende. Natürlich braucht ein Roman keine spannende Story, um eine spannende Lektüre zu bieten. Wie erzählt wird ist ungleich wichtiger. Das aber ist just das Problem bei den Ungehaltenen: Elyas bleibt an der psychologischen Oberfläche, er berichtet seine Geschichte – doch wir sehen die Welt nie wirklich mit seinen Augen oder verstehen sein Inneres. Und wenn angelegentlich etwa Gewaltphantasien gegen Kommilitonen angesichts reaktionärer Bemerkungen oder tatsächliche Sachbeschädigungen zur Abreaktion von Liebesfrust aus ihm herausbrechen, wirkt das ziemlich angedichtet und künstlich.

Auch hätte das Lektorat manches Klischee oder abgenutzte Formeln aus dem Text entfernen können, während man sich von Seiten des Autors mehr Stellen wünscht, die man gerne anstreicht, so etwa jene, in der Elyas feststellt, dass Schnecken zwangsläufig unsentimental seien und keine Heimatgefühle entwickeln, weil sie ihre Häuser stets mit sich trügen. Subtil klingt hier nämlich das Thema des Romans an: die Unbehaustheit der ‚Ungehaltenen’, der Limbus zwischen türkischer Herkunft und deutscher Heimat, die spannungsvolle Lage jener Menschen, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen, um sich zunächst in einer multikulturellen Enklave anzusiedeln, aus der sie heute nun erneut vertrieben werden, weil die vielbeschworene ‚Kreuzberger Mischung’ dabei ist, in ein monokulturelles Hipsterparadies umzukippen.

Doch von afrikanischen Drogendealerpulks und den Görlitzer Park allsommerlich okkupierenden Sinti/Roma einerseits, englischsprachigen Hipstern samt der sie herumführenden anzugbewehrten Makler andererseits ist in dem Buch keine Rede. Zwar wird Die Ungehaltenen als ein „Berlinroman“ beworben, zeichnet insofern aber ein längst schon veraltetes Bild von Kreuzberg. Gegenwartsliteratur, im eigentlichen Sinne, sollte anders aussehen.

Was Utlus Roman aber eben am meisten vermissen lässt, das ist die Arbeit mit und an der Sprache. Denn was sonst zeichnet Literatur aus, wenn nicht die sprachliche Reflektion des Erzählten. Zumal in einem Buch, das sich mit dem Einwanderermilieu beschäftigt, würde man erwarten, eine durch die Erzählsprache vermittelte Reflexion über die Lage der migrantischen Bevölkerungsgruppe zu finden, die ja selbst zwischen zwei Sprachen lebt. Davon aber ist keine Spur zu finden in Die Ungehaltenen. Utlu mag in drei Sprachen twittern, seine Kreuzberger Deutsch-Türken jeder Generation aber reden alle, platt gesagt, wie Abiturienten aus Hannover.

Was bleibt? Festzustellen vielleicht, dass abseits aller Eigenvermarktungsinteressen, die die aktuelle Debatte über die deutsche Gegenwartsliteratur bestimmen, der grundsätzliche Befund über die beklagenswerte Verfassung des gegenwärtigen Schrifttums durchaus berechtigt ist. Verständlich (und richtig), dass unter solchen Umständen gerade literarische Texte in den Fokus rücken, die einen nicht-traditionellen Hintergrund aufweisen. Ihnen etwa aus Gründen politischer Korrektheit grundsätzlich einen besonderen ästhetischen Bonus zuzuweisen, kann aber nicht sein. Aus der Misere retten uns nämlich weder Schreibschulen noch Minderheitenprogramme, sondern nur eines: gute Bücher. Egal, wer sie schreibt.

Uwe Schütte

Im Freitag ist am 10.4.2014 eine redigierte Fassung dieses Beitrags erschienen.



[1] Deniz Utlu: Die Ungehaltenen. Roman. Berlin: Graf Verlag 2014. 320 Seiten. 18,00 €.