GAV

Für ein halbes Direktorengehalt

Thomas Rothschild berichtet zum Jubiläum der GAV über vier Jahrzehnte Grazer Autorenversammlung


Die Irritation beginnt mit dem Namen. Die Grazer Autorenversammlung hat ihren Sitz nicht, wie der Name suggeriert, in Graz, sondern in Wien. Graz war lediglich der Ort ihrer Gründung, aber es handelt sich von Anfang an um einen gesamtösterreichischen Verein. Im übrigen wurde der Name im Zeichen des Gendering 2007 amtlich zu Grazer Autorinnen Autorenversammlung geändert. Das entspricht zwar einer geschlechtergerechten Sprachregelung, in der unverknüpften und bindestrichlosen Schreibweise aber nicht orthographischen Konventionen, weshalb um Nachsicht gebeten wird, wenn im Weiteren von der Grazer Autorenversammlung die Rede ist: Die Autorinnen sind selbstverständlich mitgemeint, es gilt für diesen Artikel das natürliche, nicht das grammatische Geschlecht. Die Abkürzung GAV wurde übrigens beibehalten und nicht etwa zu GAAV umgewandelt.

Die Grazer Autorenversammlung, mittlerweile die mit Abstand wichtigste und mit mehr als 600 Mitgliedern größte öster­reichische Schriftstellerorgani­sation, wurde 1973 ge­gründet. Sie entstand als Gegenorga­nisation zum damals völlig überalter­ten österreichischen P.E.N.-Club. Äußerer Anlaß war der Rück­tritt des P.E.N.-Präsidenten Alexan­der Lernet-Holenia als Pro­test gegen die Verleihung des Nobelpreises an Hein­rich Böll, der im Jahr davor zum Präsidenten des Internationalen PEN gewählt worden war. Diese spektakuläre Aktion hatte aber nur nach außen deutlich gemacht, wie sehr die politisch wie litera­risch Konservati­ven im österreichischen P.E.N. den Ton angaben. In Österreich fehlt, anders als in Deutschland, die Generation der Schriftsteller, die unter dem Eindruck des Dritten Reichs zu Antifaschisten wurden. Um die Autoren, die der Anschluss ins Exil gezwungen hatte, bemühte sich der P.E.N. kaum – darin freilich dem deutschen P.E.N. vergleichbar. Stattdessen tummelten sich dort jene, die schon in der Zeit des klerika­len Austrofaschismus reüssiert hatten und denen die Verfolgung der Dollfuß- und Schuschnigg-Anhänger durch die Nationalsoziali­sten gleichsam automatisch das antifaschistische Ehrenzeichen umhängte. In einer scharfen Erklärung, die von H.C. Artmann, Wolfgang Bauer, Otto Breicha, Helmut Ei­sendle, Gunter Falk, Barbara Frischmuth, Klaus Hoffer, G.F. Jonke, Alfred Kolleritsch, Friederike Mayröcker, Gerhard Roth, Gerhard Rühm und Harald Sommer, später auch von Gerald Bisinger, Michael Scharang, Oswald Wiener und – als einzigem aufgeforderten P.E.N.-Mitglied – von Elias Canetti, also von einem großen Teil der damals bedeutendsten österreichischen Schriftsteller unterzeich­net wurde, verlangte Ernst Jandl bereits 1972 die Ablösung der herrschenden P.E.N.-Clique durch jene jungen Autoren, auf die sich das Prestige der österreichischen Literatur im Ausland stützte. Nachdem sich eine Reform des P.E.N. als aussichtslos erwiesen hatte, ver­einten sich zunächst 58 Autoren zur Grazer Autorenversammlung. Als Versuche, vom Internationalen PEN als zweites österreichisches PEN-Zentrum anerkannt zu werden, gescheitert waren, wurde eine Unvereinbarkeit der gleichzeitigen Mitgliedschaft in der GAV und im österreichischen P.E.N. beschlossen.

Die Nähe der GAV zur Avantgarde, zur experimentellen oder sprachorientierten Literatur, für die zur Zeit der Gründung immer noch die Wiener Gruppe stand, lässt sich den Namen der ersten Präsidenten ablesen. Auf H.C. Artmann folgte Gerhard Rühm, auf diesen Ernst Jandl und auf diesen Heimrad Bäcker. Nach einer zweijährigen Präsidentschaft von Rolf Schwendter wurde Heidi Pataki zur Präsidentin gewählt, nach ihrem Tod Rolf Schwendter wieder zum Präsidenten. Nach Schwendters Tod wurde die aktuelle Präsidentin Petra Ganglbauer gewählt. Die Wahl der Präsidentin oder des Präsidenten erfolgt durch den Vorstand. Für den Verein nicht weniger prägend waren die Generalsekretärinnen und Generalsekretäre von recht unterschiedlichem Temperament: Klaus Hoffer, Elfriede Czurda, Franz Schuh, Ulf Birbaumer, Josef Haslinger, Gerhard Kofler, Christine Huber und Gerhard Jaschke und seit 2011 Ilse Kilic und Gerhard Jaschke. Es darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass die Funktionsträgerinnen und Funktionsträger nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt meist sehr schnell das Interesse an der GAV verloren und zum Teil sogar austraten.

Das hat unter anderem mit dem veränderten Profil einer immer größer werdenden Organisation zu tun. Zu den am häufigsten und ausführlichsten diskutierten Tagesordnungspunkten der jährlichen Generalversammlungen gehören die Neuaufnahmen. Die Einstellung zu den Kriterien, nach denen sie erfolgen sollten, reicht von uneingeschränktem Liberalismus (am radikalsten befürwortet von Ernest Borneman) bis zu strenger Qualitätskontrolle, der freilich jene, die sie beantragen, würde man sie auf sie selbst anwenden, nicht immer entsprächen. Einige prominentere Kolleginnen und Kollegen fühlten sich in diesem aus ihrer Sicht aufgeblähten Verein nicht mehr wohl. Umgekehrt sahen sie sich gelegentlich von Seiten (zumindest ökonomisch) weniger erfolgreicher Kollegen Feindseligkeiten ausgesetzt. Objektiv lässt sich festhalten, dass die Probleme jener Autorinnen und Autoren, die an der Armutsgrenze leben, nicht jene von arrivierten Teilnehmern am Literaturbetrieb sind.

Die Heterogenität der Mitgliedschaft sowohl dem sozialen Status wie auch den vorhandenen Interessen nach, aber auch die allgemeine Entwicklung in der Gesellschaft und im Kulturbetrieb haben dazu geführt, dass die Funktion der GAV, zumindest nach außen hin, zunehmend weniger erkennbar wurde. Der PEN hat immer noch von seiner Gründungsidee her ein, wenn auch verwässertes, Selbstverständnis: sich einzusetzen für verfolgte und inhaftierte Autoren und für die Freiheit des Wortes. Die Grazer Autorenversammlung war niemals nur eine syndikalistische Vereinigung, nur ein Dichterclub, nur ein Organisator von öffentlichen Veranstaltungen, nur eine Stimme bei innenpolitischen Auseinandersetzungen im Bereich der Kultur und der Medien, sondern all das zugleich und im Lauf der Jahre mit unterschiedlicher Gewichtung. Wo es um die Vertretung der ökonomischen Interessen geht, hat die 1981 zum Dachverband der Schriftstellerorganisationen aufgewertete IG Autorinnen Autoren, der die GAV angehört, mit ihrem ewigen Geschäftsführer Gerhard Ruiss, der einst im Vorstand der GAV zusammen mit Hannes Vyoral ähnliche Fragestellungen beackert hat, einen Teil der Aufgaben übernommen, wobei es durchaus zu Überschneidungen kommen kann.

In gesellschaftspolitischen Fragen bezieht die Grazer Autorenversammlung in der Regel eine Position, die zwischen Sozialdemokratie und radikaldemokratischer Opposition schwankt. So hat sie sich in jüngster Zeit nicht nur zu originär literaturpolitischen Themen zu Wort gemeldet wie dem Urheberrecht, der Einrichtung eines Kunst- und Kulturministeriums oder die Einsparungen beim ORF, sondern auch zu Edward Snowden, zu Freiheitsberaubungen in der Türkei oder der Ukraine.

Über den Kreis der GAV-Sympathisanten hinaus machte ein Ereignis Schlagzeilen, das zugleich die Vielfalt der Standpunkte innerhalb der Vereins belegt. Als die GAV 1989 von der Österreichischen Hochschülerschaft eingeladen wurde, an einer Solidaritätslesung für den damals mit Mord bedrohten Salman Rushdie teilzunehmen, beschloss der Vorstand, den Mitgliedern die Teilnahme freizustellen – ein Angebot, das auch angenommen wurde –, aber den publizierten Aufruf zur Veranstaltung nicht zu unterschreiben. Die Argumentation der Mehrheit, die diesen Beschluss befürwortet hat, war: man wolle die Mitarbeiterinnen des Sekretariats, die übrigens an dem Beschluss nicht beteiligt waren und ihn auch nicht beeinflusst haben, nicht einer Gefahr aussetzen, deren Brisanz damals nicht genau abzuschätzen war. Allgemein formuliert: Zivilcourage beweist sich im Risiko, für das man den Preis zu zahlen bereits ist, das man also für sich selbst, nicht auf Kosten anderer übernimmt. Ein großer Teil der Mitglieder wollte dieser Argumentation nicht folgen, worauf hin der komplette Vorstand seinen Rücktritt erklärte und Neuwahlen ausgeschrieben wurden.

Organisationen entstehen und verschwinden. Sie führen manchmal ein Eigenleben über ihren Tod hinaus, aber wenn sie keine Funktion mehr zu erfüllen haben, müssen auch ihre letzten Standartenträger resignieren. Die Grazer Autorenversammlung mag im Lauf der Jahrzehnte ihr Gesicht verändert haben: dass sie immer noch existiert, dass ihr anzugehören offenbar stets neuen Bewerbern begehrenswert erscheint, dass sie, obwohl sie von den Medien weitgehend ignoriert wird, denen die Besucher des Opernballs mehr Interesse abtrotzen als die Belange von schöpferisch tätigen Menschen, die den in Festtagsreden beschworenen Stolz auf die Kulturnation Österreich erst rechtfertigen, dass sie also trotz dieser Missachtung mehr Aktivitäten vorweisen können als irgend eine andere österreichische Literaturinstitution, legt den Verdacht nahe, dass sie benötigt wird. Erwähnenswert ist die Präsenz der GAV in den Bundesländern. So respektiert die  Grazer Autorenversammlung mit Sitz in der Bundeshauptstadt die föderale Struktur der österreichischen Kulturlandschaft. Wem die Zahl der Aktivitäten zu gering erscheint, der sei auf die Zahlen im Kunstbericht des Bundeskanzleramts verwiesen. Soviel sei verraten: Für den Betrag, den die GAV für ihre Jahrestätigkeit von der Kunstsektion erhält, arbeitet ein Burgtheaterdirektor gerade ein halbes Jahr (Gagen für Regiearbeiten nicht eingerechnet).

Im Übrigen weist die GAV alle Typen auf, die es auf kuriose Weise mit großer Zuverlässigkeit in jedem Verein gibt: den übereifrigen Macher, der allen auf die Nerven geht, den man aber braucht, weil niemand sonst seine Agenda erledigt; den Schönredner, der sich bei den Versammlungen das Publikum sichert, das er ansonsten vermisst; den Streithansel, der aus jedem Thema eine Kontroverse destilliert; den Versöhner, der nichts so sehr ersehnt wie ein Zusammenleben in Harmonie und Eintracht; den Stellvertreter, der nicht als er selbst, sondern in einer Rolle auftritt („Ich als Tiroler“, „ich als Feministin“, „ich als Vegetarier“); den Schwerenöter, der immer erst nach der Versammlung zum gemeinsamen Abendessen auftaucht; und vor allem, in rosa, gelb und hellblau – die Karteileiche.

Andreas Renoldner hat im Auftrag des Vereins eine Broschüre über „Die ersten vierzig Jahre. 1973-2012“ verfasst, die von der Homepage der GAV (www.gav.at) als PDF heruntergeladen werden kann. Schon 1985 ist im Böhlau Verlag für das erste Jahrzehnt die umfangreichere Darstellung „Die Grazer Autorenversammlung 1973-1983. Zur Organisation einer 'Avantgarde'" von Roland Innerhofer erschienen. Zur Geschichte des P.E.N. siehe das ein Jahr davor ebenfalls bei Böhlau erschienene Buch von Klaus Amann „P.E.N. Politik, Emigration, Nationalsozialismus. Ein österreichischer Schriftstellerclub“.

 

Thomas Rothschild