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Immune Zonen der Bewertung

Zur medialen Rezeption von Maja Haderlaps „Engel des Vergessens“. Von Anna Obererlacher


Eines der dunkelsten Kapitel der Kärntner Geschichte (und bis heute kaum ausgeleuchtet) ist der Umgang mit der Volksgruppe der Kärntner Slowenen. Umso verständlicher, dass der Literaturbetrieb im Juli 2011 aufhorchte, als die Kärntner Slowenin Maja Haderlap für ihr autobiographisches Prosadebut „Im Kessel“ ausgerechnet den 'kärntnerischsten' aller Literaturpreise erhielt: den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Dadurch standen der Verfasserin und dem Text (der als Teil des Romans „Engel des Vergessens“ bereits eine Woche nach dem Bachmann-Preis in Buchform erschien) plötzlich viele Türen offen. Der Erfolgszug dauerte an: der Rauriser Literaturpreis und der Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch folgten 2012.

Text und Verfasserin wurden zum Sprachrohr für die mundtot gemachten Stimmen in der Volksgruppe der Kärntner Slowenen. In zahlreichen Interviews wurden die Fragesteller nicht müde, Haderlap einen Crashkurs an vergessener österreichischer Geschichte abzuverlangen – dieser Bitte kam sie stets geduldig nach. Auf Sprache und Form bezogene Fragen rückten aufgrund der weitgehend politisch orientierten Auseinandersetzung mit dem Text deutlich an den Rand der Kritiken.

 

I. „Wichtigkeit: hoch!“ – Stimmen aus der Bachmann-Preis-Jury

In der Jury-Diskussion beim Ingeborg-Bachmann-Preis betont Meike Feßmann ihren Respekt vor der Ruhe und Unaufgeregtheit des Textes und „erst recht“[1] vor dem Thema. Problematisch ist für sie die Erzählhaltung (Kinderperspektive) und in der literarischen Qualität macht sie „große Schwächen“[2] aus. Respekt vor der individuellen Lebensgeschichte hat auch Burkhard Spinnen, er merkt jedoch gleichzeitig an, dass alle Kinder der 50er- und 60er-Jahre mit beschädigten Geschichten der Eltern großgeworden seien, auch die Täter. Er wolle damit aber den Opfern gegenüber nicht respektlos erscheinen. Hubert Winkels bewertet den Text grundsätzlich positiv, Einwände hat er auf der erzähltechnischen Ebene und er findet den Schlusssatz „schlecht“[3]. Anders sieht das Daniela Strigl, die Haderlap für den Preis vorgeschlagen hatte. Sie hält den Text für den „Idealfall von Literatur, die sich mit Geschichte beschäftigt“[4]. Der Text nehme die Familiengeschichte und individuelle Geschichte ernst und stelle diese nicht plakativ dar. Strigl betont, wie wichtig es sei, dass der Widerstand nun auch in Form eines poetischen Textes ausgesprochen werde. Sie spricht von einer „in jeder Hinsicht wichtige[n] Geschichte“[5].

 

II. Kollektives Gedächtnis und politische Vereinnahmung: der Rauriser Literaturpreis und der Bruno-Kreisky-Preis

Auch die Jury-Begründung des Rauriser Literaturpreises 2012 legt den Fokus auf ein tendenziell politisches Thema. Der Beitrag des Textes zum kollektiven Gedächtnis und die Emanzipation einer unterdrückten Minderheit rechtfertigen die Auszeichnung: „Was man kaum mehr für möglich gehalten hätte, wird hier zum literarischen Ereignis: ein Buch hat in seiner poetischen Kraft das Selbstbewusstsein einer Gesellschaft verändert“[6], heißt es in der Begründung der Jury. Der Text wird zum Denkmal in der „Wir-Identität“[7] der Kärntner Slowenen. Mit Vergabe des Bruno-Kreisky-Preises für das politische Buch wird der Text vom allgemein politischen ins parteipolitische Umfeld gedrängt. In den Statuten ist nachzulesen: „Es soll damit politische Literatur gefördert werden, die den Werten und Zielvorstellungen Bruno Kreiskys entspricht und von den Schwerpunkten seiner politischen Arbeit geprägt ist.“[8]

Damit scheint eines klar zu sein: bei allen drei Preisen spielte bei der Wahl der Preisträgerin der politische Aspekt eine wichtige Rolle. Die Kritik an politisch motivierten Auswahlverfahren hat Tradition. Auch die Auswahl für den Literaturnobelpreis musste sich immer wieder Vorwürfe dahingehend gefallen lassen[9]. Wenn ein Literaturpreis politisch ausgebeutet wird, haben jedoch auch die Medien ihre Finger im Spiel. Aus den vielen Informationen, die verarbeitet werden könnten, erfolgt oft eine Verlagerung des Schwerpunktes, indem das Politische einseitig hervorgehoben wird[10]. So zeigen Literaturpreise zwar oft die Richtung an, in die ein Text rezipiert werden kann, das öffentliche Bild wird jedoch insbesondere in der darauffolgenden (Medien-)Berichterstattung von anderen „professionellen Lesern“[11] geprägt. Im Jahr zwischen Bachmann-Preis und Bruno-Kreisky-Preis manifestierte sich daher eine bestimmte Haltung zu „Engel des Vergessens“, die bis zu einem gewissen Grad auf die Presseberichterstattung in unmittelbarerer Reaktion auf das Medienereignis in Klagenfurt zurückzuführen ist.

 

III. Geschichte, Geschichte, Geschichte und ein bisschen Poesie: die Pressestimmen

Wie die Weiterführung der Bachmann-Jury-Diskussion liest sich ein Querschnitt durch die Presserezeption. Ulrich Greiner von der Zeit etwa sieht in der Publikation des Textes einen „Akt der Befreiung“[12] und die Teilnahme an diesem als ein „ambivalentes Erlebnis“[13]. Dass der Text objektiv ist wie eine Zeugenaussage, mache den Text mühsam. Die im Text erwähnte Suche nach der Sprache verlaufe erfolglos. Trotz der Kritik an der Sprache begreift Greiner die Verleihung des Preises an Haderlap aber als „eine noble Geste“[14]. Denn: die Anstrengungen Haderlaps würden sich auf ein einziges Thema beziehen: „Gerechtigkeit für die Slowenen“[15], das sei in Kärnten noch immer nicht selbstverständlich.[16]

Auch Christa Gürtler (der Standard) findet, Haderlap sei „zu Recht mit dem Ingeborg Bachmann-Preis 2011 [...] ausgezeichnet“[17] worden und das solle „die Aufmerksamkeit für dieses notwendige Buch erhöhen“[18]. Im Gegensatz zu Greiner bezeichnet sie jedoch die Sprache als „präzise“[19] und „poetisch“[20]. Haderlaps Text sei eine Chronik der Familiengeschichte der Autorin und des slowenischen Partisanenkriegs in Kärnten.[21]

Der „einzige nennenswerte Widerstand gegen den Nationalsozialismus auf dem Territorium des Dritten Reichs“[22] steht für Franz Haas (NZZ) im Zentrum des Textes. Auch der formalen Ebene kann Haas einiges abgewinnen, bravourös ziehe dieser alle literarischen Register.[23] In der Stuttgarter Zeitung ordnet Karin Hillgruber den Text in das Genre „Heimat- und Entwicklungsroman“[24] ein. Die Sprache versteht sie als „Politikum“[25]. Im Fokus der Rezension von Wolfgang Höbel (Spiegel) stehen Inhalt, Figuren, Sprache, Biographie und Landschaft, von der politischen Komponente nimmt Höbel kaum Notiz.[26]

Paul Jandl, selbst Mitglied in der Bachmann-Preis-Jury, versucht sich an einer „Entwirrung“ [27] des „dichten“[28] Textes. In der Welt betont er die Aktualität der im Text behandelten Themen. Er lobt die Autorin als „begabt“[29] und lässt in seine Betrachtung Hinweise auf die autobiographischen Parallelen der Ich-Erzählerin zur Autorin einfließen. Er betont: „Die Stärke von Maja Haderlaps Roman liegt gerade darin, dass er tief in die Zeiten zurückgeht, um die Gegenwart erkennbar zu machen“[30].

Aktuelle politische Wirklichkeit schreibt auch Maria Luise Caputo-Mayr (World Literature Today) dem Text zu: „It mirrors on a small scale our global problems“[31]. Fiktion findet Caputo-Mayr bei ihrer Suche nach der Gattung, im Gegensatz zu Hillgruber, keine mehr: „The book [...] is both a biography and a political/cultural history of the author’s people in the valleys around the village Lepena; it is a gripping document of unresolved issues confronting this minority“[32]. Zudem nimmt sie die Frage nach dem kollektiven Erinnern auf: „The book can be considered a memorial to their „forgotten“ sacrifices: the torture, beatings, hangings, deportation to concentration camps, devestation of their homes, farms and lives“[33].

Auch Wiebke Porombka (FAZ) kommt nicht umhin, den geschichtlichen Kontext in ihre Rezension einfließen zu lassen. Haderlap begebe sich „auf eine Spurensuche in die leidvolle Geschichte der slowenischen Minderheit in Österreich“[34] schreibt sie und stellt sich gleichzeitig die Frage, ob das Buch halten kann, was die hohe Auszeichnung verspricht. Kritische Worte findet sie zur Form des Textes, der Ton habe etwas „notathaftes“[35], als sei Haderlap immer noch dabei „ihr Material zu sammeln, zu sortieren und nach einer angemessenen Darstellung zu suchen“[36]. Sie spricht von Bildern, die „verrutschen“[37]. Der Text sei „elegisch, bisweilen ungelenk“[38].

In seiner Einschätzung zum „unverhohlen autobiographischen“[39] Text schreibt Andreas Wirthensohn in der Wiener Zeitung: „[...] allein die Tatsache, dass dieses Kapitel der österreichischen Geschichte hier auf ebenso eindringliche wie poetische Weise Gestalt gewinnt, macht dieses Debüt zum Ereignis“[40]. Schwächen sieht Wirthensohn, ähnlich wie Meike Feßmann, in der „kindlich-naiven Perspektive“[41] und dem „essayistischen Duktus“[42], die nicht konsequent umgesetzt werden. Er bezeichnet das Ende als „unausgegoren“[43]. Trotz aller Kritik enthalte der Text „brillante, zutiefst beeindruckende Schilderungen und Beschreibungen“[44]. Für Wolfgang Zwander (Falter) schließlich liegt auf der Hand, dass Haderlap durch die Auszeichnung mit dem Bachmann-Preis zu einer Stimme für die Volksgruppe geworden sei.[45]


IV. Fazit

Angefangen bei der Jury-Diskussion zum Bachmann-Preis und in weiterer Folge in einem ähnlichen Ton von der Presse weitertradiert, zeigen die Stellungnahmen zu „Engel des Vergessens“ ein ambivalentes Bild: Während dem Text formal durchaus Mängel attestiert werden, wird er inhaltlich als „wichtig“ eingestuft und der Respekt gegenüber der Thematik rückt in den Vordergrund. Problematisch an diesen Divergenzen ist, dass die thematische Komponente zu einer Art Hemmschuh für die Kritik am Sprachästhetischen wird. Es entsteht zuweilen fast der Eindruck, die Kritiker müssten ihre negative Kritik an der Sprache rechtfertigen. So betont Meike Feßmann eigens ihren Respekt vor der Thematik, bevor sie ihre Kritik an der sprachlichen Qualität äußert, und für Ulrich Greiner ist die Verleihung des Bachmann-Preises eine „noble Geste“, nachdem er zuvor die Suche nach der Sprache als erfolglos bezeichnet hatte. Die politische Brisanz eines Textes schafft offensichtlich immune Zonen für die Bewertung.


Anna Obererlacher, 23.6.2013

Anna.Obererlacher@student.uibk.ac.at


Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung "Literatur und literarisches Leben" von Brigitte Schwens-Harrant (Wintersemester 2011/12) an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.



[1] Jury-Diskussion, Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 (abgerufen am 4.5.2013).

[2] Jury-Diskussion, Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 (abgerufen am 4.5.2013).

[3] Jury-Diskussion, Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 (abgerufen am 4.5.2013).

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Rauriser Literaturtage: Maja Haderlap (abgerufen am 2.6.2012).

[7] Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Feststellungen. Berlin 2011, S. 189.

[8] Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2012 (abgerufen am 4.5.2013).

[9] Vgl.  Isaac Bazié: Literaturnobelpreis, Pressekritik, Kanonbildung. Würzburg 1999, S. 9.

[10] Vgl. ebd., S. 14-15.

[11] Stefan Neuhaus: Literaturvermittlung. Konstanz 2009, S. 7-8.

[12] Ulrich Greiner: Gerechtigkeit für die Slowenen, in: Die Zeit, Nr. 30 vom 21.7.2011, S. 44.

[13] Ebd.

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Vgl. ebd.

[17] Gürtler, Christa: Zu Bruchstücken zerfallen, in: Der Standard. (Album), Nr. 6845 vom 20.7.2011, S. A10.

[18] Ebd.

[19] Ebd.

[20] Ebd.

[21] Vgl. ebd.

[22] Franz Haas: Gegen das Schweigen nach dem Sturm, in: Neue Züricher Zeitung. (Bücherherbst), Nr. 235 vom 8.10.2011, S. 8.

[23] Vgl. ebd.

[24] Katrin Hillgruber: Mit dem Schutzzauber der Worte, in: Stuttgarter Zeitung, Nr. 164 vom 19.7.2011, S. 22.

[25] Ebd.

[26] Vgl. Wolfgang Höbel: Im Keller summen die Bienen, in: Der Spiegel, Nr. 29 vom 18.7.2011, S. 125.

[27] Paul Jandl: Verwerfung in Kärnten, in: Die Welt. (Die literarische Welt), Nr. 28 vom 16.7.2011, S. 6.

[28] Ebd.

[29] Ebd.

[30] Ebd.

[31] Maria Luise Caputo-Mayr: Maja Haderlap. Engel des Vergessens. In: World Literature Today, March-April 2012, S. 68.

[32] Ebd., S. 67.

[33] Ebd.

[34] Wiebke Porombka: Wenn der Krieg die Landschaft unterjocht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 165 vom 19.7.2011, S. 28.

[35] Ebd.

[36] Ebd.

[37] Ebd.

[38] Ebd.

[39] Andreas Wirthensohn: Im Schlund des „Todesköchers“, in: Wiener Zeitung. (extra), Nr. 142 vom 23.7.2011, S. 9.

[40] Ebd.

[41] Ebd.

[42] Ebd.

[43] Ebd.

[44] Ebd.

[45] Vgl. Wolfgang Zwander: Schluss mit dem wunschlosen Unglück, in: Falter, Nr. 31 vom 3.8.2011, S. 16-17.