Strigl

Das Glück der Kritik in vierzehn Thesen

Alfred-Kerr-Preisträgerin Daniela Strigl über die Literaturkritik

I. Der Kritiker ist Platzanweiser im Circus Maximus des Literaturbetriebs. Nicht mehr. Eher weniger.

 

II. Seine Arbeit kann er nur erledigen, wenn er das vergißt.

 

III. Der Kritiker muß sein Publikum überfordern, wie er sich überfordert. Daß ein Text ihn nicht interessiert, ihn ratlos macht – das darf er denken, sagen darf er es nicht.

 

IV. Als Profi liest der Kritiker dort weiter, wo andere aufgeben. Das ist sein Job. Nicht die Schönwetterlektüre am Meeresstrand.

 

V. Der Kritiker ist nicht dazu da, als gesellschaftspolitischer Wetterfrosch die Trend-Leiter rauf- und runterzuhasten. Auch nicht, um indolenten Kollegen auf die Finger zu klopfen, sondern um dem kritisierten Buch so gerecht wie irgend möglich zu werden. Und neuen Stimmen Gehör zu verschaffen, die im Röhren der Platzhirsche leicht untergehen. Insofern ist Kritik moralisch.

 

VI. Der Kritiker mag getrost moderieren, diskutieren, kommentieren, jurieren, sofern er nicht aufs Kritisieren vergißt.

 

VII. Der Kritiker vernichtet, selten und mit Genuß. Weil eben das ohnehin nicht (mehr) möglich ist: Bücher vernichten.

 

VIII. Der Kritiker, der im Angesicht des Autors richtet, muß ihm in die Augen schauen können.

 

IX. Der polemische Kritiker ist immer im Unrecht. Er hat keine Wahl.

 

X. Es gibt eine Arena, aber es gibt keinen Literaturkampf. Das ist Freiheit und Bürde. Der Kritiker kann nur eine Partei ergreifen: die der Literatur. Das ist heute Aufgabe genug.

 

XI. Der Kritiker ist vollauf damit beschäftigt, die Literatur langsam, spröd und unsexy zu machen, wenn sie danach verlangt. Das Fernsehen ist sein natürlicher Feind. Er liebt seinen Feind.

 

XII. Der Kritiker behelligt seine Leser nicht mit Übellaunigkeit und Überdruß. Er kultiviert sein unausrottbares Vergnügen am Lesen und am Schreiben. Technik ist ein anderes Wort für Kunst.

 

XIII. Ohne Kunstbegeisterung ist Kritik sinnlos. Weil Lesen sinnlos ist ohne Begeisterung.

 

XIV. Der Kritiker kann auch eine Kritikerin sein.


Daniela Strigl

d.strigl@univie.ac.at

Der vorliegende Beitrag ist zuerst erschienen in: Neue Rundschau, Jg. 122 (2011), Nr. 1

Laudation von Paul Jandl bei der Verleihung des  Alfred-Kerr-Preises: http://www.boersenblatt.net/600410/

Daniela Strigls Dankesrede: http://www.boersenblatt.net/600413/