Dilimag

Innovation als Tradition

am Beispiel österreichischer Literaturprojekte im Netz. Von Renate Giacomuzzi


Bearbeitete Fassung des Vortrags bei der Tagung: "Lit.net. Austria. The net as theme, aesthetic paradigm and communicative tool in literary Austria", veranstaltet vom "Ingeborg Bachmann Center for Austrian Literature" am "Institute of Germanic & Romance Studies” (School of Advanced Study, University of London), 18.-19. April 2012.


Am 17. 10.1970 schreibt Helmuth Heißenbüttel in seinem in der Stuttgarter Zeitung veröffentlichten Essay zur „Frage der Gattungen“:

Es wäre töricht, heute wie in früheren Zeiten, einfach und prinzipiell behaupten zu wollen, etwas, das Geltung gehabt hat, gelte nun nichts mehr einzig und allein deshalb, weil Zeit vergangen ist und das, was man das Ganze nennt, sich verändert hat. Was immer sich an Erscheinungen in der menschlichen Welt historisch entwickelt hat, und was immer den Erscheinungen an gleichbleibenden und wechselnden Namen zugeteilt worden ist, hört nicht einfach auf, und aus der Versenkung, aus der so etwas wie die Neue Zeit auftaucht, taucht auch nun Neue Erscheinung und Neuer Name auf. Denn entschließt man sich einmal, menschliche Welt strikt als historische zu definieren, und zwar als säkularisierte, der Vorherrschaft der Theologie entwachsene historische Welt, so schließt diese Definition ein, dass nicht einfach etwas verschwindet und etwas auftaucht, sondern dass alles miteinander in Zusammenhang zu sehen ist als etwas, das auseinander hervorgeht.[1]

Der „feierlichen Vorrede“ von Helmut Heißenbüttel kurzer Sinn: Als ich das Abstract zum Programm der Tagung „LIT.NET Austria“ las, in der die Frage gestellt wurde, inwiefern „das ästhetische Potenzial des ‚Netzes’ [...] die Schreibpraxis von AutorInnen aus Österreich avantgardistisch motiviert hat“, drängten sich mir sogleich folgende zwei Gedanken auf, die mich bei meinen Erkundungen des deutschsprachigen literarischen Lebens im Internet zwar schon lange begleiten, denen ich aber nie wirklich auf den Grund gegangen bin:

  1. Das Denkschemata der Nationalliteratur ist mit dem System Internet inkompatibel.
  2. Bürgerliche Literaturtraditionen spielen im Internet eine weit größere Rolle als avantgardistisch-experimentelle. Oder noch provokanter: Literatur im Internet ist viel konservativer als ihr Image.

Dass alles mit allem zusammenhängt und das Neue immer auch das Alte miteinschließt ist eine wahre, aber im Detail nicht sehr erhellende Erkenntnis. Trotzdem muss sie der Ausgangspunkt jeder Beobachtung sein, die nach der Differenz und dem Neuen einer ästhetischen Form, eines Mediums, einer Gattung fragt.

Unter den diversen Publikationen zur deutschsprachigen Netzliteratur, in denen auch immer österreichische Projekte besprochen wurden, ist eine Arbeit zu erwähnen, die von einem nationalliterarischen Ansatz ausgeht und sich in ausführlicher Weise mit einzelnen Netzprojekten österreichischer Provenienz beschäftigt. Andrea Ghoneim begründet in ihrer 2008an der Universität Wien eingereichten Dissertation über „Literarische Publikationsformen im World Wide Web“ ihre Auswahl von „Beispiele[n] von österreichischen Autorinnen oder solchen, an denen österreichische Autorinnen beteiligt sind“ mit dem nachvollziehbaren Argument, dass „unter den im Netz zu findenden Projekten einige österreichische ‚Pionier’-Arbeiten zu finden sind, die in der bisherigen wissenschaftlichen und literaturkritischen Rezeption“ nach Einschätzung der Autorin „zu wenig Beachtung gefunden“ hätten.[2] Auch wenn der nationalliterarische Rahmen fragwürdig bleibt, weil das Problem einer vorschnellen, über die verschiedenen Selektionsmechanismen stattgefundenen Kanonisierung ja auch ebenso Projekte von Schweizer, bundesdeutschen, Südtiroler und anderen deutschsprachigen Kulturräumen betrifft, ist es legitim, das letztlich immer noch unübersichtliche Feld digitaler Kunst- und Literaturproduktion aus dem regionalen Blickwinkel eines ‚Insiders’ zu ergänzen. 

Eine ebenfalls mit der Themenstellung der Tagung direkt zusammenhängende Publikation ist die von Christine Scheucher 2007 veröffentlichte Diplomarbeit „Figuren des Unmittelbaren. Zur Fortschreibung der Avantgarden im digitalen Raum“[3], die „die Verflechtungen der ästhetischen Positionen der Avantgarden und der digitalen Literatur“ herausarbeitet, welche sich einmal aus dem offenen Bekenntnis der Netzautoren zur Avantgarde ergäben. Die Autorin sieht den Zusammenhang aber nicht nur als einseitige Anbindung an eine ‚tote’ Tradition, die im neuen Medium adaptiert und zu neuem Leben erweckt werden sollte, sondern als konsequente Fortsetzung des noch nicht abgeschlossenen, in der Moderne verwurzelten Diskurses der ‚Sprachkritik’.

Nun ist auch dieser Ansatz legitim und einleuchtend, zumal die Analogien zwischen der historischen Avantgarde und der digitalen Literatur offensichtlich sind. Die Frage, der ich aber nachgehen möchte, ist die, ob die historische Avantgarde tatsächlich als „Daseinsgrund“ im Sinne Bourdieus für die digitale Literatur und Kunst gesehen werden kann, oder ob dieser nicht viel mehr mit der Auseinandersetzung des nicht nur in der historischen Avantgarde verankerten Postulats des ‚Neuen’ zu verorten ist.

Wenn ich nun im Folgenden einen kurzen Überblick zur Entwicklung der ‚österreichischen’ Netzliteratur gebe, so tue ich dies in der Annahme, dass jeder ‚persönliche’ Blick auf das letztlich immer noch unübersichtliche Geschehen über die verschiedenen Kunst- und Literaturprojekte im Netz einen Mosaikstein hinzufügen kann, vor allem, weil die Auswahl und Beurteilung notgedrungen aus einem jeweils anderen Blickwinkel und Wertmaßstab erfolgen.

Das erste Beispiel überschreitet gleich die nationalliterarischen Grenzen Österreichs, denn es entstand weder in Österreich noch stammt es von österreichischen Autoren, doch es erhielt einen prominenten Standort in Österreich und zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Kunstprojekten im Internet, weil es mit seinem ambitionierten Programm einen wichtigen Anstoß für die Akzeptanz und Produktion von Medienkunst im Internet lieferte und eine entsprechende Resonanz erfuhr. „Pool Processing“ (1988/89)[4] von Heiko Idensen und Matthias Krohn entstand ursprünglich über das Bielefelder Mailboxsystem BIONIC und wurde 1990 offline als „interaktives Datenbanksystem“bei der Ausstellung der „Ars Electronica“ in Linz vorgestellt [vgl. Pool – Das Projekt]. Aus der umfangreichen Sammlung von Texten und Zitaten aus und zur Geschichte der Medien entstand der erste deutschsprachige Hypertext, der unter dem Titel „Die imaginäre Bibliothek“ als Online-Variante auch heute noch navigierbar ist.

Außer dem österreichischen Standort Linz und der Institution der „ars electronica“, mit der Österreich eine prominente Stellung bei der Förderung digitaler Kunstprojekte im deutschsprachigen Raum einnimmt, lässt sich im Projekt selbst nichts finden, das auf eine explizit der österreichischen Kultur zuzurechnende ästhetische Traditionslinie verweist. Hier dienen vielmehr die literarische Moderne und Postmoderne, die Poetiken des „offenen Kunstwerks“, des „Nouveau Roman“ und der „potentiellen“, „oulipotischen“ Literatur als beispielhaftes Material für „Literarische Transformationstechniken (Permutationen, Cut-Up, Intertexte)“[5] aus der Schrift- und Buchkultur.[6] Ebenso wie das aus dem Fundus der ‚Weltliteratur’ zusammengesetzte Hypertextkonvolut der „Imaginären Bibliothek“ bedient sich auch das von dem österreichischen Autor Walter Grond initiierte Projekt „Absolut Homer“ zweier kanonischer Texte aus der Weltliteratur: Homers „Odyssee“ und „Ulysses“ von James Joyce. Im Rahmen der „Literaturfactory Absolut“, einer Veranstaltungsreihe im Grazer „Forum Stadtpark“, die sich namentlich auf Andy Warhols „Absolut Vodka“-Werbung und inhaltlich auf dessen Konzept der Kunstwerkstatt bezog, startete Grond 1992 ein kollaboratives Schreibprojekt mit 21 AutorInnen, das 1995 im Droschl-Verlag als Buch veröffentlicht wurde. Die als phönizische Weltumsegelung uminterpretierte Homersche „Odyssee“ dient für die über die ganze Welt verstreuten AutorInnen als Rahmen für die literarischen Erkundungen der ‚Fremde’, die in den Gesamttext einfließen. Neben namhaften deutschen AutorInnen wie Paul Wühr, Angela Kraus und Ilma Rakusa setzt sich das Autorenkollektiv mehrheitlich aus österreichischen SchriftstellerInnen zusammen: Elfriede Czurda, Ferdinand Schmatz,  Julian Schutting, Ingram Hartinger, Sabine Scholl, Lukas Cejpek,  Helga Glantschnig, Günther Freitag, Josef Winkler. Da der Blick bei dieser literarischen Reise auf die Fremde und die Peripherie und nicht auf das Eigene gerichtet werden soll, wird Österreich gleich zu Beginn vom ‚Reisemanager’ Grond zur Tabuzone erklärt: „Mach was du willst, aber fahr nicht auf Urlaub nach Österreich.“[7]  Auf Anregung des damaligen Elektronikkünstlers und heutigen Leiters der „ars electronica“ Gerfried Stocker entstand daraus in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Rundfunk ein interaktives Kunstprojekt, das unter dem Namen „taxis“ akustische Bearbeitungen des schriftlichen Homerprojekts enthielt und von Stocker zu einem Hörkunstprojekt gestaltet wurde. Als interaktives Element wurden Zugriffe von Internetnutzern auf den Text in akustische Signale übertragen. Die Vorstellung des Projekts erfolgte 1996 in dem bekannten Wiener Veranstaltungshaus „Die alte Schmiede“. Reinhard Döhl war mit einem Beitrag zu experimentellen Projekten der 50er und 60er Jahre geladen. Die prominenten Gäste Elfriede Mayröcker und Ernst Jandl „und all die anderen“ – so Grond im Originalton: „verließen [...]fluchtartig den Raum, von der Kunstvorstellung der Techno-Künstler überfordert.“[8]

Grond, der in Zusammenhang mit Internetliteratur sicher einer der experimentierfreudigsten und ausdauerndsten Schriftsteller in Österreich ist, lässt weitere Projekte folgen. Im Jahr 2000 beginnt er eine neue Kooperation mit dem österreichischen Literaturwissenschaftler Klaus Zeyringer und dem steirischen Autor Martin Krusche, der bereits ein literarisches Projekt im Internet betrieb (die „v@n site“, vgl. DILIMAG). Wiederum bildete ein Buch die Ausgangsbasis für das Internetprojekt: Gronds Roman „Old Danube House“ sollte als Basis für den ‚unbürgerlichen’[9] Salon dienen, der im globalen Kommunikationsraum unter dem Titel „[house]“ kein gemütliches Heim, sondern ein „projekt über das fremde“ sein wollte. Das „[house]“ wuchs in mehreren Etagen zu einem verwinkelten Hypertext, der den suchenden LeserInnen Orientierungshilfe mit Begriffen aus der „‚alten Literatur’“ bot: “Wir verwendeten für diese Räume aber nicht gängige Internet-Begriffe, sondern solche aus der ‚alten Literatur’, um Überschneidungen zu pointieren. Wir nannten  beispielsweise die multimedialen Web-Ensembles ‚Erzählungen’, den Textspeicher ‚Verlag’, das sprachliche Interface ‚languages’, das der fremden Redaktionen  ‚Extension’ und ‚Agenturen und Plattformen’.“[10] Das dialektische Konzept der „vertrauten Fremdheit“[11] wird bis heute noch von Martin Krusche weitergeführt, der nunmehr als ‚Hausherr’ das alte „[house]“ im Archiv seiner gemeinsam mit Jürgen Kapeller betreuten Website „kultur.at“ beherbergt, die ihrerseits wieder Teil eines weitläufigen Netzwerks ist, das Krusche in Form mehrerer kultur- und medienkritischer Netzprojekte betreibt, die er jeweils als Schnittpunkte zwischen analogem und virtuellem, heimatlichem und fremdem Raum versteht, wobei letzterer vornehmlich in der österreichischen südslawischen Peripherie angesiedelt ist. Auch Walter Grond engagiert sich weiterhin im Netz mit grenzübergreifenden Projekten und betreibt seit 2002 gemeinsam mit Beat Mazenauer die in zehn Sprachen geführte Plattform „readme.cc“, die professionelle Buchkritik mit einer Austauschplattform für LeserInnen verbindet und die Verbreitung und Förderung der europäischen und außereuropäischen Literaturen zum Ziel hat.

Ein ebenfalls auf internationale Vernetzung angelegtes und noch aus der sogenannten ‚Pionierzeit’ stammendes Projekt ist das 1996 von Gerald Ganglbauer gegründete Online-Magazin „gangway“, das sich als Plattform für österreichische und australische Gegenwartsliteratur versteht und mit „experimentellen Texten, Gedichten, Aufsätzen und Kurzgeschichten „als Brücke zwischen der ,alten’ und ‚neuen’ Welt“ dienen will.[12] Die Welten-Metapher schließt den Medienwandel ebenso ein wie die historisch-geografischen Entfernungen und damit verbundene Exilerfahrungen.

Die Aktivitäten der österreichischen Literaten im Netz sind insgesamt überschaubar. Neben den genannten Pionierprojekten der 90er Jahre sind noch zu nennen:

Das Literaturprojekt „Die Flut” [vgl. DILIMAG] wurde vom österreichischen Autor Xaver Bayer und der Literaturwissenschaftlerin Julia Hadwiger initiiert und existierte vom 25. Oktober 2000 bis 25. Dezember 2001. 14 österreichische AutorInnen schrieben in unterschiedlichen zeitlichen Abständen für das Projekt und 8 Gäste beteiligten sich jeweils für zwei Monate mit literarischen Beiträgen, Fotos oder Zeichnungen. Das Schreibprojekt ist ein interessantes Vorläufer- oder Parallelprojekt zu literarischen Weblogs, denn die Beiträge erschienen mit Angabe von Ort, Datum und Uhrzeit, jedoch in fortlaufender Chronologie mit dem ältesten Beitrag zuoberst gereiht. Insgesamt wurden im Hauptforum („hier und jetzt”) 1.244 Texte (Kurzprosa, Aphorismen und Lyrik) veröffentlicht, daneben existierte auch ein zweiter Publikationsbereich („hier darf jeder”), der allen UserInnen für literarische Texte, Kommentare und Ankündigungen offen stand. Außerdem wurden vertonte Texte bzw. Hörkunststücke („hinhören”) und Porträts der SchriftstellerInnen („wer schreibt”) angeboten.

Das „Electronic Journal“ des ebenfalls in der Steiermark ansässigen Autors Franz Krahberger, erschien in der ersten Version 1993 über eine Mailbox, fand vorübergehend ab 1994 auf dem Kunstserver „The Thing.Vienna“ eine Heimat und tritt seit 1995 in unverändert ‚altmodischem’ Frame-Layout auf. Die Website führt zu Krahbergers 1997 erstellten Hypertext „Das admontinische Universum“, der am Beispiel des Benediktinerstifts Admont über hypertextuelle Strukturen in barocker Architektur, Ästhetik und Philosophie reflektiert. Ansonsten entspricht das Journal den konventionellen Kriterien eines Kulturmagazins mit Beiträgen und Essays österreichischer GegenwartsautorInnen, die das Angebot mehrheitlich als Veröffentlichungsraum, aber nicht als Experimentierfeld nutzen. Das ‚Experiment’ liegt vielmehr im kulturpolitischen Bereich, in dessen Monopolstruktur das Projekt kritisch eingreifen möchte.[13]

Ein ebenfalls zum Kern der österreichischen Netz-Pionierszene gehörender Autor ist Martin Auer, der 1996 eine hypertextuell verknüpfte Gedichtsammlung unter dem, auf das Konzept der „écriture automatique„ verweisenden, Titel „Lyrikmaschine“ veröffentlicht, die dann später aus dem hypertextuellen Geflecht befreit wurde und in Buchform erschien. Es folgten noch weitere Projekte, die auf der aktuellen Homepage des Autors gesammelt und heute noch abrufbar sind.

Zu nennen sind weiters noch einige Versuche sogenannter ‚etablierter’ österreichischer BuchautorInnen, so Josef Haslingers Kettenroman „Die Welt nach dem Willen der Mutter“ (1998)[14],  Sabine Scholl, die bereits an dem Jahrtausendprojekt des Dumont-Verlags „NULL“[15] beteiligt war und gemeinsam mit Lydia Mischkulnig laut Editiorial das Projekt „Tinternational. Textunternehmen“ in Tokyo gegründet hat. Abgesehen vom Gründungsmythos beschränkt sich die Internationalität auf Fotos mit japanischem Hintergrund. Die Website dient im Wesentlichen als Homepage für das unter dem Namen „Tinternational“ laufende Experiment eines gemeinschaftlichen Schreibens, das „in einem eigens entwickelten Verfahren, das per Internet möglich geworden ist“ eine „neue Art des vernetzten Denkens und Schreibens“[16] erprobt. Während die Website vor allem über Werkidee, Ziel und Programm des AutorInnenduos informiert, dies nicht zuletzt über ein programmatisch-ironisches Bekenntnis zur „Liebe“ und für den Kampf „gegen den drohenden Konservatismus“,[17] finden sich die Ergebnisse des literarischen Experiments in der mittlerweile vier Bände umfassenden „Böhmische[n] Bibel“, die beim Wieser Verlag 2008-2009 erschienen ist. Die Website ist damit zwar sinnbildlicher Träger des netzwerkartigen Schreibprojekts, wirkt zum derzeitigen Augenblick aber eher als Ableger des Buchprojekts denn als originäres Netzprojekt.

Zwei frühe Gehversuche im neuen Medium, ohne weitere Schritte zu unternehmen, hat Kathrin Röggla mit ihrem Hypertext „Nach Mitte“ getan, den sie, technisch und grafisch unterstützt von der Webdesignerin Sylvia Egger, 1999 für das Literaturfestival „Softmoderne“ verfasst hat.[18] Der zweite Versuch war das von Sven Lager initiierte Mitschreibeprojekt „pool“,[19] von dem sich die Autorin später distanziert: „Was ich da gemacht habe, hat sehr wenig mit meiner Literatur zu tun. Ich habe nicht Texte von mir reingestellt, sondern ausschließlich mit Zitaten gearbeitet. Mit der dort herrschenden Selbstinszenierung und den ins Netz gestellten Tagebucheintragungen habe ich Probleme.“[20]

Die bereits erwähnte, aus Österreich stammende und mittlerweile als „Webproducerin“ in Köln lebende Sylvia Egger[21] hat als ‚bekennende’ „Dadasophin“ an zahlreichen, darunter namhaften Projekten teilgenommen, u.a. an dem 2003  mit dem Publikumspreis des Wettbewerbs „Literatur.digital“ ausgezeichneten Gemeinschaftsprojekt „The famous sound of absolut wreaders“ mit Johannes Auer, Reinhard Döhl, Oliver Gassner, Martina Kieninger, Beat Suter und René Bauer. Die Autorin betreibt ein Weblog unter dem Titel „dadasophin.de“ und veröffentlichte 2009 das auf Marcel Duchamps Konzept des „transportablen Künstlermuseums“ aufbauende Werk „still dialing alice“.

Eine etwas später ins Netz eingestiegene, dafür dort immer noch sehr produktive Autorin ist Christiane Zintzen mit ihrem seit 2007 erscheinenden Weblog „in|ad|ae|qu|at“, in dem es weniger um geographische als um mediale Grenzüberschreitungen geht. Der gemeinsame Nenner in dem bunten und reichlich mit Bild-, Video- und Audiodokumenten illustrierten Textkaleidoskop findet sich in der Reflexion und Dokumentation von Literatur und Kunst an der Schnittstelle zwischen analogen und digitalen Medien. Einen besonderen Schwerpunkt bilden dabei die Hörbuchbesprechungen, die die Autorin unter ihrem Kürzel „ccz” regelmäßig für die Neue Zürcher Zeitung verfasst sowie die Dokumentation der von Zintzen seit 2001 betreuten Produktion des österreichischen Rundfunks (ORF) „Literatur als Radiokunst”.

Ich hatte, was das Radio betrifft, sofort den schrecklichen Eindruck, es sei eine unausdenkbar alte Einrichtung, die seinerzeit durch die Sintflut in Vergessenheit geraten war.[22]

Mit diesem Zitat aus Brechts Radiotheorie möchte ich nun nach diesem verkürzten Überblick über die österreichische Literaturszene im Internet auf die Ausgangsfragen zurückkehren:  Was ist daran ‚neu’,  ‚alt’ und  ‚österreichisch’ oder vielleicht sogar ‚altösterreichisch’?

Beginnen wir mit dem ‚Österreichischen’: Abgesehen von der herkunftsbedingten österreichischen Nationalität der Autoren und AutorInnen fällt als hervorstechendes Merkmal das Bestreben nach Grenzüberschreitung oder Aufhebung von in nationalen Denkschemata verhafteten Kategorien auf. Ich denke hier an Walter Gronds Versuch, den abendländischen Mythos auf eine weltumspannende literarische Umsegelung zu erweitern und Leser und Literaturen auf einer Plattform zusammenzuführen, an Gerald Ganglbauers schmale Brücke zwischen Australien und Österreich, Martin Krusches Engagement für die historisch und geografisch benachbarten Kulturräume Österreichs, das vom fernen Japan zu Netzwerktätigkeit inspirierte AutorInnen-Duo Scholl/Mischkulnig, das sprachlich französisch gewürzte  und damit an vergangene Hochblüten des Feuilletons gemahnende Weblog Christiane Zintzens und nicht zuletzt an die von Martin Auer und Sibylle Egger im geographischen ‚nowhere’ der historischen Avantgarde  angesiedelten Projekte. Hier stellt sich als nächste Frage, ob dieser fraglos als Experimentierwille erkennbare Impetus der verschiedenen Online-Werke auf eine spezifisch österreichische Tradition zurückzuführen oder zumindest als national geprägt zu sehen ist.

Nun könnte man zwar in Umkehrung von W. G. Sebalds These daraus folgern: Je weniger von der Heimat die Rede ist, desto mehr gibt es sie[23] und damit den genannten AutorInnen den österreichischen Stempel aufsetzen, doch damit wäre man auch der von Sebald in Frage gestellten Definierbarkeit der österreichischen Literatur[24] nicht näher gekommen und begäbe sich in das weite Feld der Diskussion um die Haltbarkeit nationalliterarischer Konzepte und Begrifflichkeiten. Und auch wenn Walter Grond sich in der Reihe der „viele[n] österreichische[n] Autoren“ seiner Generation sieht, die in einem „katholischen Klosterinternat“ aufwuchsen, und ihn seit damals der „Trieb zur Überschreitung, ein experimenteller Trieb“ bewege,[25] sagt dies sehr viel über Österreich aus, sehr wenig aber über die österreichische Literatur, der immer dann das Markenzeichen der Experimentierfreudigkeit umgehängt wird, wenn es darum geht, den Mehrwert des Kapitals ‚Nationalliteratur“ zu erhöhen.

Sieht man sich Namen und Anzahl der üblicherweise der österreichischen Tradition der Sprachkritik zugeordneten Kanon-AutorInnen an, so zähle ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die ‚Begründer’ der österreichischen Sprachkritiktradition Hofmannsthal, Wittgenstein und Mauthner ausgenommen – knapp 20 Namen: die Wiener Gruppe (1945-1964) mit Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener, weiters Elfriede Gerstl, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, ab 1959 die Grazer Gruppe mit Peter Handke, Wolfgang Bauer, Gert Jonke, Peter Rosei, Erwin Einziger, weiters Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard, Heimrad Bäcker, Reinhard Prießnitz, Ferdinand Schmatz und Bodo Hell. Diese hier etwas willkürliche Zusammenstellung ließe sich mit Sicherheit leicht auf das Doppelte erweitern. Trotzdem ist es schade, dass Stuttgart nicht in Österreich liegt. Und Arno Schmidt, Wolfgang Hildesheimer und Helmut Heißenbüttel sollten eigentlich auch Österreicher sein. Dann wären wir komplett und Elfriede Jelinek hätte mit Reinhard Döhl zumindest einen prominenten Mitbürger unter den Buchautoren als Partner im Netz. Doch Nationalliteratur ist (noch) kein Fußballteam, das man mit ausländischen Gästen verbessern kann, und so bleibt tatsächlich Jelinek als einsame Vertreterin der österreichischen Buchkultur im Netz vertreten. Warum das Interesse sprachexperimentell arbeitender Autoren am Experiment mit dem neuen Medium so gering ist, lässt sich einmal leicht mit einer altersbedingten Distanz zu einem technischen Werkzeug erklären, dessen Gebrauch eine gewisse Erfahrung im Umgang damit voraussetzt. Viel komplexer fällt aber die Antwort auf die Frage nach der mangelnden Deckungsgleichheit experimenteller oder avantgardistischer Schrift- und Buchkultur mit Netzliteratur. Hier gilt einmal die bekannte historische Verortung jeder Avantgarde, deren wesentliches Merkmal die Auseinandersetzung mit der Tradition in Form des Traditionsbruchs und der daraus entwickelten Utopie einer besseren Zukunft darstellt. Ein Medienwechsel ist aber nicht per se ein Traditionsbruch und vor allem kann er dort, wo der Wechsel in ein neues Medium stattfindet, einen Traditionsverlust bedeuten, der den intendierten Traditionsbruch untergräbt. Das Konzept des offenen Kunstwerks lässt sich mit einem Weblog nur schwer vermitteln, denn Nicht-Abgeschlossenheit ist im Internet als technisch vorgegebene Möglichkeit ‚normal’,  und mit Normalität lässt sich schlecht gegen Normalität argumentieren. Die technischen Eigenschaften des neuen Mediums hebeln damit die im Buchmedium wirksamen Strategien aus. Hinzu kommt, dass der pathetische und emphatische Kunstbegriff der Avantgarde dem Pathos des Neue-Medien-Begriffs sehr nahe bzw. zu nahe kommt und Gefahr läuft, im Pathos des technisch ‚Neuem’ unterzugehen. Helmut Schanze vermerkt dazu in den „Theorien der Neuen Medien“:

Die Topik des Neuen verspricht einen Erfahrungsraum, der nie zuvor betreten und vermessen worden ist. Sie signalisiert Abenteuer, ist Ausdruck einer Utopie. [...] Dieses Andere verlässt die Traditionen und die gewohnten Ordnungen, zeitlich wie räumlich. Neue Medien gehen über alles, was bisher Medien genannt wird, hinaus. [...] das Moment des Pathos [ist] unverkennbar in den Begriff eingeschrieben. Dieses Pathos bestimmt auch die aktuellen Mediendiskurse.[26]

Wenn auch, wie Schanze an späterer Stelle vermerkt, als „künstlerische Mittel [...] die Neuen Medien der avancierten Kunstproduktion“ dienen,[27] bedingt das avantgardistische, innovative Image der Neuen Medien  den Einsatz von Strategien, die gegen dieses Pathos der Neuheit gerichtet sind bzw. dieses dekonstruieren. Nur damit erhält das Werk wieder jenen Freiraum, den es braucht, um sein eigenes Pathos des Neuen zu entfalten. Da aber die Neuheit der Neuen Medien ein sich unablässig selbst generierendes System ist und nicht übertroffen werden kann, ist der Rückgriff auf ‚alte’, von dem aktuellen Gebrauch der neuen Medien möglichst weit entfernten Traditionen naheliegend. Und damit möchte ich zu meiner zweiten These zurückkehren und diese ergänzen, dass nämlich bürgerliche Literaturtraditionen im Internet nicht nur eine weit größere Rolle spielen als avantgardistisch-experimentelle, sondern aufgrund des erklärten Zusammenspiels zwischen der Perzeption technischer und der Umsetzung künstlerischer Innovation bürgerliche Traditionen als avantgardistisch-experimentelles Mittel eingesetzt werden. Daraus folgt die provokante These, dass die Literatur im Internet viel konservativer als ihr Image ist, und zwar auf zwei unterschiedlichen Ebenen:

- Einmal im positiven Sinne, wenn konservative Traditionen eingesetzt werden, um gegen das kommerzielle und kommerzialisierte Image des Neuen zu arbeiten. Diese Beobachtung trifft auf eine ganze Reihe von ambitionierten Projekten im Internet zu, die ich in der Folge noch kurz skizzieren werde.

- Einmal im negativen Sinne, wenn die technische Neuheit affirmativ eingesetzt wird, um einen innovativen Anspruch vorzuspiegeln. Dies trifft auf viele, vor allem kommerzielle literarische Websites im Internet zu, die einen ausgiebigen Gebrauch des multimedialen und interaktiven Angebots zeigen, sich aber von Anspruch und Inhalt her im medialen Mainstream bewegen. Diese Beobachtung teilt auch Christiane Zintzen in ihrem aktuellen Beitrag zur „Blogliteratur: Medium oder Message“, wenn sie schreibt: „Extern ist zu beobachten, dass sich die Webauftritte von mainstream media in einem Prozess laufender Anpassung an social-network-Strukturen befinden, so dass es zu jedem Artikel eine je nach Titel mehr oder weniger genutzte Kommentarfunktion, ein Twitterfeed oder einen Facebook-Button gibt (auch Verlage wie Suhrkamp räumen dem Webauftritt jedes einzelnen Buches einen Kommentarraum ein).“[28] Hier könnte man den Einsatz von Buchtrailern durch Verlage nennen, die damit das Bedürfnis nach filmischer Umsetzung befriedigen, oder die mittlerweile bereits wieder eingestellte Website „Lit.Colony“,[29] die mit Videobeiträgen von Elke Heidenreich das erfolgreiche TV-Konzept der Bücherschau fortführen wollte, und vieles mehr.

Zu den ‚konservativen Nonkonformisten’ möchte ich nur noch ein paar Beispiele erwähnen, die in meinem Handbuch „Digitale Literaturmagazine“[30] näher ausgeführt sind und sich vor allem in der von mir als „Indie“-Autoren und „Indie-Kritiker“ bezeichneten ‚Schublade’ finden. Die hier für die Literaturkritik übernommene Etikettierung „indie“ sollte in der Hinsicht verstanden werden, dass es hierbei um unabhängige (‚independent’) Formen der Publikation von Literaturkritik geht, die individualistischen Zielen folgt, und sich auch inhaltlich vom Mainstream des Literaturbetriebs positioniert oder positionieren will. Die Übergänge zum sogenannten ‚Mainstream’ sind allerdings fließend, und es lassen sich im ‚etablierten’ Literaturbetrieb ‚Indie’-Tendenzen finden, wie auch Mechanismen des ‚Establishments’ in der ‚alternativen’ Medienszene wirksam werden.

in|ad|ae|qu|at” und „Der Umblätterer” präsentieren sich zwar sehr unterschiedlich, weisen aber in Anspruch und Umsetzung durchaus Gemeinsamkeiten auf:

Sowohl „in|ad|ae|qu|at” als auch die „Halbwelt des Feuilletons“ im Untertitel des „Umblätterers“ drücken Unangepasstheit aus, von letzterem noch betont mit dem Zusatz: „dargebracht vom Consortium Feuilletonorum Insaniaeque”. Während „in|ad|ae|qu|at” sich grafisch modern gibt, im Schreibstil aber einen oft unzeitgemäß wirkenden Ton pflegt, setzt „Der Umblätterer” mit seinem lockeren, humorvollen Umgangston umgekehrt einen deutlichen Kontrast zur altertümelnden, in altdeutscher Frakturschrift gesetzten Titelleiste. Anlehnung und Distanz zur Tradition kommt damit in beiden Magazinen zum Ausdruck.

in|ad|ae|qu|at” ist eine literarische Informationsquelle für ,Insider‘, die sich allgemein für die österreichische Literaturszene, speziell für experimentelle Formen der Literatur und für Literatur an der Schnittstelle zu Hörkunst interessieren. Wenn auch die Autorin im Selbstprofil jegliche ,Eingrenzung‘ verweigert, sondern ,Entgrenzung‘ einfordert („unbegrenzte Möglichkeiten der Assemblage ästhetischer Objekte”), will sie ihr Weblog deutlich in Abgrenzung zur Literaturkritik in kommerziellen Medien verstanden wissen:

Anders als in Echtwelt-Zusammenhängen erlauben wir uns , Autoren und Texten hier und im Jenseits der Institutionen einen Ort einzuräumen , an welchem wohl ein sympathetisches Klima herrscht , nicht aber das übliche Vokabular der Wertung.[31] [Die Zeichensetzung mit Abständen sind ein Stilmerkmal der Autorin].

Das ,Kapital‘ in Form von ,Aufmerksamkeit‘, das die Autorin mit ihrem Weblog schafft, besteht in dem glaubwürdig vermittelten Anspruch, dass hier Literatur besprochen, bewertet und veröffentlicht wird, die in dem marktorientierten Angebot keine, oder wenn, dann nur in Nischenspalten,[32] Beachtung erfährt. Das Konzept des Weblogs kann durchaus – im wertfreien Sinne – als ,elitär‘ beschrieben werden, das sich mit dem Insiderkonzept der so genannten ,Indie‘ Kultur‘ deckt, die damit rechnet, ein gleich gesinntes Publikum vorzufinden oder ein solches aufbauen zu können. Jedes ästhetische Urteil rekurriert damit letztlich immer nur auf die Autorität des persönlichen Geschmacks, der als richtungsweisend angeboten, aber nicht gerechtfertigt wird. Diesen (den Geschmack) zu rekonstruieren und das heißt, zu interpretieren, ist die Aufgabe der LeserInnen. Wer Gefallen an diesem Geschmack findet, ist willkommen, doch Überzeugungsarbeit wird hier nicht geleistet. Damit beansprucht das Weblog von Zintzen auch den Status als kanonbildende Instanz, als Autorität, die allein über die Auswahl der besprochenen und publizierten Werke ein Qualitätsurteil abgibt.

Die Nutzungsfrequenz der Kommentarfunktion bleibt durchschnittlich gering, und wenn eine zahlenmäßig größere Diskussion in Form von sechs oder sieben Kommentaren aufflammt, wird diese zumeist von ,Insidern‘, d. h. BloggererInnen, AutorInnen oder JournalistInnen geführt. Die Präsenz einer starken Autorenrolle, die ihr persönliches ästhetisches Konzept vertritt, verbindet sich in „in|ad|ae|qu|at” mit dem selbstbewussten Anspruch, den Literatur- und Kulturbetrieb in Form von relevanten Informationen und Inhalten mitzugestalten. Daraus lässt sich per se noch keine spezifische Qualität des Onlinejournalismus ableiten, denn eine ähnliche Rolle fand sich immer schon in den Nischenbereichen des Literaturbetriebs in Form von unabhängigen, von einer einzigen Person herausgegebenen Zeitschriften, deren prominentestes Beispiel „Die Fackel” von Karl Kraus ist. Die medienspezifische Qualität dieses Online-Periodikums zeigt sich vielmehr in der multimedialen Präsentationsform und der Vernetzung mit anderen Publikationsorganen im Internet, sei es durch die Setzung von Links bei Verweisen innerhalb eines Textes, sei es in Form der umfangreichen Empfehlungsliste („Blogroll”). Damit erwirbt das Weblog noch eine zusätzliche Funktion, nämlich die eines Filters, der aus der unüberschaubaren Zahl der online zur Verfügung stehenden Inhalte eine selektive Auswahl trifft. Und damit schließt sich der Kreis in der Frage nach der qualitativen Leistung im Bereich der Literaturkritik, denn Wertung, Selektion und ein reflektiertes ästhetisches Werturteil waren immer schon Qualitätsmerkmale der Literaturkritik.

Anders als Christiane Zintzen, die sich autark präsentiert und auf die Nennung von ,Vorbildern‘ verzichtet, reiht sich das Online-Magazin „Der Umblätterer” selbst in die Tradition des deutschsprachigen Feuilletons ein, dessen – nach Ansicht der Herausgeber – verloren gegangene Qualitäten wiederzuerlangen seien. Der Maulwurf und die Perlenmuschel dienen als Wappenzeichen des Magazins, das es sich selbst zur lustvollen Aufgabe gemacht hat, die deutsch- und machmal auch anderssprachige Online- und Printpresse nach Merkwürdigkeiten und besonderen Fundstücken zu ‚durchwühlen’ und diese ‚emporzutauchen’. Neben der zum Aushängeschild des Magazins avancierten Bestenliste „Der goldene Maulwurf. Best of Feuilleton“, erfindet das Herausgeberteam immer wieder neue ‚Listenprogramme’ als Rahmen für die kritisch-ernsthafte oder humoristisch-satirische Auseinandersetzung mit Literaturkritik und auch der Literatur selbst. Während die unterhaltende Funktion im gegenwärtigen Feuilleton, das abgesehen von vereinzelten Glossen und Kolumnen in dieser Hinsicht wenig zu bieten hat, von Konkurrenzmedien wie dem Fernsehen und den Online-Medien in Form von Leserunden und Talkshows übernommen wurde, kehrt der allein auf die Aussagekräftigkeit der schriftlichen Form vertrauende „Umblätterer“ zu den traditionsreichen Wurzeln des Feuilletons zurück. Dadurch eröffnet sich eine Diskrepanz zwischen dem Selbstprofil des Magazins, das sich formal und inhaltlich eng an die Tradition der Printmedien anlehnt, und dem verbreiteten Image des Internets als neuestes technisches Medium, das der Verbreitung von unprofessionellen und kommerziell orientierten Inhalten dient. Diese mit Sicherheit bewusst erzeugte Diskrepanz lässt mehrere Deutungsebenen zu. Eine davon könnte sein, dass es sich hierbei um eine kalkulierte Strategie zur Aufmerksamkeitserregung handelt, die mit der ‚Enttäuschung’, oder hier besser ‚Überraschung’ vorgefestigter Lesererwartung rechnet; eine andere Deutung wäre aber auch umgekehrt die Möglichkeit, dass die Herausgeber selbst ein kritisches Verhältnis zur Qualität der Online-Medien haben und sich beispielgebend von diesen abheben wollen. Die dritte, synthetische und dem ironischen Grundton des Magazins am ehesten entsprechende Variante wäre, dass hiermit die „Best of’s“ der Print- wie der Online-Medien zusammengeführt werden sollen und das Internet als Chance wahrgenommen wird, herkömmliche Qualitätsansprüche mit jenen über das Internet entstandenen zu vereinen, d. h. Vernetzung mit verwandten Inhalten und Kommunikationsaustausch mit den LeserInnen zu den angebotenen Inhalten.

Diese beiden herausgegriffenen Beispiele könnten noch weiter ergänzt werden, nicht zuletzt mit dem von mir schon andernorts ausführlicher dargestellten selbstreflexiven ästhetischen Verfahren von Alban Nikolai Herbst, der in seinem Weblog „Die Dschungel. Anderswelt“ im Kontrast zu dem im Internet praktizierten ‚oralen’ Gesprächskultur, sich einer ausgefeilten und dezidiert an schriftliche Traditionslinien anknüpfenden Schreibweise bedient.[33] Gleichzeitig verweisen jedoch die internetspezifischen Merkmale des Weblogs, wie chronologische Zeitlichkeit, hypertextuelle Struktur, Interaktivität via Kommentarfunktion uws., ständig auf die mediale Oberfläche. Figuration und Defiguration des Printmediums begründen u. a. mit Sicherheit den Reiz und Erfolg dieses Tagebuchs, das auf Papier gedruckt wohl kaum so viele Leser gewinnen würde. Auch könnte hier auf den autonomen Kunstbegriff verwiesen werden, der das zentrale Parameter des bürgerlichen Kunstverständnisses darstellt und sich bei Alban Nikolai Herbst ebenso findet wie bei Elfriede Jelinek in ihren „Anmerkungen“ zum Online-Roman „Neid“, wo sie den ihr über das Medium in allzu große Nähe rückenden Leser klar in seine Schranken verweist: „Bleiben wir getrennt! Das ist gut so.”[34]

Und damit kehre ich zu meinem eingangs formulierten Gedanken zurück: Das Verhältnis von ‚Neuem’ zu ‚Altem’ lässt sich analog sehen zu dem Verhältnis von Medium und Botschaft, denn beide lassen sich nur komplementär verstehen: es gibt nichts Neues ohne Altes und es gibt kein Medium ohne Botschaft und keine Botschaft ohne Medium. Das Internet ist immer noch ein neues Medium, weil es kein neueres gibt. Jeder über dieses Medium vermittelten Botschaft haftet das Image des ‚Neuen’, ‚Innovativen’ an, unabhängig davon, ob dies als Wirkung intendiert ist oder nicht. Innovation ist damit ein Merkmal jedes Medienwechsels und damit Tradition. Innovation im literarischen oder künstlerischen Kontext bedeutet aber auch immer Anknüpfung an Vorangegangenes, an Historie, an Tradition, sei es in der Form des Traditionsbruchs, sei es in expliziter Anknüpfung an frühere ‚innovatorische’ Versuche. Das Image oder Klischee des ‚Neuen’, das dem Internet und den darin vermittelten Inhalten anhaftet, bestimmt sowohl das Rezeptionsverhalten als auch die literarische und metaliterarische (Literaturkritik) Produktion ganz wesentlich mit, und damit findet aber auch unweigerlich eine Auseinandersetzung, sei sie affirmativ oder kritisch, mit ‚Tradition’ statt.


Renate Giacomuzzi, 14.12.2012

Renate.Giacomuzzi@uibk.ac.at



[1] Helmut Heißenbüttel: Zur Frage der Gattungen. Stuttgarter Zeitung, 17.10.1970. In: Ders.: Zur Tradition der Moderne. Aufsätze und Anmerkungen 1964-1970. Neuwied und Berlin: Luchterhand, 1972,  S. 49-55, hier: S. 49.

[2] Andrea Ghoneim: Literarische Publikationsformen im World Wide Web. Veränderungen in Produktion, Publikation und Vermittlung von Literatur am Beispiel ausgewählter österreichischer Literaturmedien. Dissertation, Univ. Wien, 2008, S. 2.

[3] „Figuren des Unmittelbaren. Zur Fortschreibung der Avantgarden im digitalen Raum. Berlin: Weidler, 2007 (= Aspekte der Avantgarde. Dokumente, Manifeste, Programme, hrsg. von Anja Ohmer, Bd. 9).

[4] Matthias Krohn/Heiko Idensen: Im Netz der Systeme POOL-PROCESSING: „Bild/Text-Archiv zur Medienkunst: Pool für lebendigen Datenfluß“ (Interaktive Informationssysteme: Intertext, visuelle Momentaufnahmen, tägliche Festivalzeitung), Linz: Ars Electronica 1989.

[5] Geschichte der Imaginären Bibliothek. URL: <http://netlern.net/hyperdis/pool/info_887.htm> [Stand: 17.11.2012].

[6] Heiko Idensen: Schreiben/Lesen als Netzwerk-Aktivität. Die Rache des (Hyper-) Textes an den Bildmedien. URL:<http://www.netzliteratur.net/idensen/rache.htm - 21> [Stand: 17.11.2012].

[7] Absolut Homer. Graz: Droschl, 1995, S. 13. Online-Version, URL (Internet Archive):<http://web.archive.org/web/20051223100150/http://gewi.kfunigraz.ac.at/~gerfried/taxis/survey/grond1.html>

[8]  Walter Grond: Erzählen, Überschreiten, Verknüpfen, Versöhnen. In: Schreiben am Netz. Literatur im digitalen Zeitalter. URL (Internet Archive): <http://web.archive.org/web/20070811063636/http://www.kultur.at/3house/verlag/reportagen/schreibnetz/index.htm>.

[9] “Was mich indes interessierte, war die Nützung [sic!] des Internets als literarischer Salon. Zum einen, weil ich selbst an der Peripherie lebend nach Kommunikation suchte, und zum anderen weil mein Misstrauen gegenüber dem Salon doch ein Projekt über einen Salon der Peripherie geradezu herausforderte. Der klassische Salon kennt keine Selbstkritik, er ist eine Versammlung von Priestern.” Vgl. Fußnote 12.

[10] Ebd.

[11] „Vertraute Fremdheit. Gerade noch war all das irritierend und fremd, es hieß: Neue Medien! Cyberspace! Informationsgesellschaft! Plötzlich, wenige Jahre später, scheint es so vertraut. Obwohl wir hinter einigen Vorhängen noch viel Unklares vermuten.“ Martin Krusche: kultur.at: journale/basics. URL: <http://www.kultur.at/lesen/> [Stand: 17.11.2012].

[12] Gangway Editorial. URL: <http://www.gangway.net/> [Stand: 17.11.2012].

[13] “Die traditionellen elektrischen Einwegmedien Rundfunk und Fernsehen verlieren ihr bislang uneingeschränktes Monopol. Die jederfrau jedermann zugängliche digitale Datenkommunikation wird das soziale und kulturelle Gefüge der Welt verändern.” Electronic Journal. Editorial “neue.medien”. URL: <http://www.ejournal.at/> [Stand: 17.11.2012].

[14] Die Welt nach dem Willen der Mutter. Ein Internetroman, begonnen von Josef Haslinger am 15. 1. 1998. URL (Internet Archive): <http://web.archive.org/web/20020808044812/http://kunststuecke.oneatweb.at/roman.php - top>

[15] NULL. Literatur im Netz. Herausgegeben von Jana Hensel und Thomas Hettche. Köln: DuMont, 2000.

[16] Sabine Scholl und Lydia Mischkulnig: Manifest. In: Tinternational. URL: <http://www.tinternational.net/Web-Site/Manifest .html> [Stand: 17.11.2012].

[17] Ebda.

[18] Kathrin Röggla: Nach Mitte. (Hypertext), 1998. URL (Internet Archive): <http://web.archive.org/web/20050908002828/http://new.heimat.de/home/softmoderne/SoftMo99/roeggla/>

[19] pool [1999-2001). [Internet] Ehemalige URL: <www.ampool.de/>. Sven Lager/Elke Naters (Hrsg.): The Buch - Leben am Pool. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001.

[20] Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer: Literatur hat mit Geschwindigkeit zu tun. Ein Gespräch mit Kathrin Röggla, der ersten Trägerin des Italo-Svevo-Preises. In: literaturkritik.de, Nr. 10, Oktober 2001 (3. Jahrgang). URL: <http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=4205> [Stand: 17.11.2012].

[21] dadasophin.de. URL: <http://dadasophin.de/> [Stand: 17.11.2012].

[22] Bertolt Brecht: Radio - eine vorsinflutliche Erfindung? [1927]. In: Günter Helmes u. Werner Köster (Hrsg.): Texte zur Medientheorie. Stuttgart: Reclam, 2002 (= Universal-Bibliothek 18239), S. 148-154, hier: S. 150.

[23] W. G. Sebald: „Je mehr von der Heimat die Rede ist, desto weniger gibt es sie“. Unheimliche Heimat. Salzburg und Wien: Residenz Verlag, 1991, S. 12.

[24] Vgl. ebd., S. 11.

[25] „Ich wuchs in einem katholischen Klosterinternat auf – wie viele österreichische Autoren meiner Generation –, ich sollte Priester werden, schrieb dann  mit 13, 14 Jahren Gedichte und Dramen, um mich der Internatsenge zu erwehren, wie viele österreichische Autoren meiner Generation. [...] Zum anderen  bewegt mich seit damals der Trieb zur Überschreitung, ein experimenteller Trieb, was vielleicht auch mit diesem extremen Katholizismus zu tun hat, die Sehnsucht,  das Andere zu finden, die Alternative. Insofern war mein Weg in die Avantgarde gleichzeitig neben dem Wunsch nach dem Erzählen von Anfang an präsent.“ Walter Grond: Erzählen, Überschreiten, Verknüpfen, Versöhnen. Transkription der Selbstdarstellung Walter Gronds am 29.6.2001 im Collegium Helveticum/ ETH Zürich. URL (Internet Archive): <http://web.archive.org/web/20040320080011/http://www.kultur.at/3house/verlag/reportagen/schreibnetz/index.htm>

[26] Helmut Schanze: 1. Kurs. In: Gebhard Rusch, Helmut Schanze, Gregor Schering: Theorien der Neuen Medien. Kino – Radio – Fernsehen – Computer. Stuttgart: Wilhelm Fink, 2007 (= UTB 2840), S. 21-120, hier S. 27-28.

[27] Ebd., S. 29.

[28] Christiane Zintzen: Blogliteratur: Medium oder Message? Am Beispiel der Plattform litblogs.net – Literarische Weblogs in deutscher Sprache. In: "Verführungen – Räume der Literaturvermittlung“, hrsg. von Meri Disoski, Ursula Klingenböck, Stefan Krammer. Erscheint in: Innsbruck: Studienveragl 2012.

[29] URL (DILIMAG-Archiv): <http://webapp.uibk.ac.at/dilimag//alo?objid=1027941>

[30] Renate Giacomuzzi: Deutschsprachige Literaturmagazine im Internet. Ein Handbuch. Innsbruck: Studienverlag, 2012 (= Angewandte Literaturwissenschaft, Bd. 16).

[31] Christiane Zintzen: „Disclaimer” zu „Tableau de Texte” in: in|ad|ae|qu|at (o. Datum), URL: <http://www.zintzen.org/tableau-de-texte/> [Stand: 17.11.2012].

[32] Wöchentliche Rubrik „Neue Hörbucher” der NZZ, die wöchentlich am Freitag erscheint.

[33]  Vgl. Giacomuzzi 2012, S. 123-156.

[34] Elfriede Jelinek: Keine Anweisung, keine Auszahlung, kein Betrag, kein Betrug. (Ein paar Anmerkungen zu „Neid“). 21./25.6.2008. URL: <http://www.elfriedejelinek.com/> [Stand: 17.11.2012].