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Männer werten anders. Frauen auch.

Die Literaturkritik als Gender-Diskurs. Von Veronika Schuchter


Dass Gender in der Literaturkritik ein bedeutender Faktor ist, hat sich spätestens seit der Etablierung einer feministischen Literaturkritik in den 1970ern herumgesprochen. Natürlich ist diese weder im Ansatz noch in ihren Instrumenten eine in sich kohärente Bewegung, im Wesentlichen verfolgt sie aber das Ziel, die Marginalisierung von Autorinnen nachzuweisen, vergessene Schriftstellerinnen ins kulturelle Gedächtnis zurückzuholen und den rein androzentrisch ausgerichteten Kanon, wenn nicht zu revidieren, so doch konsequent in Frage zu stellen. Aber die Bedeutung der Kategorie Gender geht über das Engagement einer feministischen Literaturkritik hinaus. Grob lassen sich folgende Bereiche abstecken:

Einerseits strukturiert Gender als gesellschaftliche Leitdifferenz die Literaturkritik intern, schon durch die banale Unterscheidung zwischen Kritikern und Kritikerinnen, was auch heute noch, wie später gezeigt werden soll, von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Auf der anderen Seite beeinflusst das Geschlecht den Wertungsprozess. Ein von einem Autor verfasster pornographischer Roman lockt heute niemanden mehr hinter dem Ofen hervor, während allein die Aneignung dieses männlich konnotierten Genres durch eine Autorin ihr (und manchmal sogar ihrem Text) Aufmerksamkeit garantiert, Auflagen steigen und die Wogen hoch gehen lässt. Egal wie banal und bieder diese Texte in ihrem Kern auch sein mögen, der Trick funktioniert dennoch alle paar Jahre, wie die Erfolge von Catherine Millet, Charlotte Roche und neuerdings E. L. James beweisen, und keine Rezension kann dabei die Augen vor dem Geschlecht der Autorin verschließen.

 

Gender und Kanon

Bisher lag der Fokus auf der historischen Abwertung von weiblicher Autorschaft. Der Tatsache, dass Frauen nicht nur als Autorinnen keinen Eingang in den Kanon fanden, ein Prozess, der sich bei aller Flexibilität des Kanons kaum rückgängig machen lässt, sondern auch von der Mitgestaltung des Kanons über das Instrument der Kritik ausgeschlossen blieben, wurde bislang nur wenig Beachtung geschenkt. Dabei liegt die Vermutung eines kausalen Zusammenhangs auf der Hand. Hätten Frauen die Möglichkeit gehabt, am Kanon und an der Herausbildung ästhetischer Wertungskriterien mitzuwirken, ist davon auszugehen, dass damit auch Texte von Frauen begünstigt worden wären. Wurden Frauen dennoch kanonisiert, wie etwa Anette von Droste-Hülshoff, die schon von Rudolph Gottschall in seiner Literaturgeschichte 1855 für ihren männlichen Stil gerühmt wurde,[1] dann gelang dies nur, so halten Renate von Heydebrand und Simone Winko fest, durch die „Überschreitung ihres ihnen zugeschriebenen Geschlechtscharakters“.[2] Die Aufgabe bleibt, die andere Seite der Kritik unter die Lupe zu nehmen und sich auf die Suche nach Rezensentinnen, die es, einige bekannte Beispiele wie Therese Huber, Dorothea Schlegel oder Frida Strindberg-Uhl belegen es, sehr wohl gegeben hat. Sie erfuhren indes dieselbe Abwertung wie ihre Fiktion schreibenden Kolleginnen: Abhängig von männlich dominierten Publikationsorganen konnten sie oftmals nur anonym veröffentlichen, zugewiesen wurden ihnen als minderwertig abgetane Genres, meist Texte von Frauen, die Männer ohnehin nicht rezensieren wollten. Die Achtung vor Verfasser und Gattung korrelierte also mit der Achtung, die dem Rezensenten und der Rezensentin entgegengebracht wurde.

 

Männer werten anders

Es ist leicht nachvollziehbar, dass eine Frau an Goethes Heideröslein, sofern man die Lesart als Ästhetisierung einer Vergewaltigung berücksichtigt, wenig Gefallen findet.[3] „Frauen lesen aus einer anderen Betroffenheit heraus. Sie lesen im Übrigen die Bücher von Männern sehr viel genauer, als Männer die Bücher von Frauen“[4] meint Literaturkritikerin Sigrid Löffler im Spiegel. Man kann den Spieß freilich auch umdrehen: Natürlich werten Männer anders, ihr Blick auf die Literatur ist geprägt von ihrer Sozialisation, dem Besitz von symbolischem Kapital, während das Bewusstsein des Defizits einer patriarchalen Dividende nicht nur den Blick von Frauen lenkt, sondern auch ihr Potenzial, ihre Meinung zu formulieren und ihrer Stimme Gewicht zu verleihen. Da dies historisch erst seit kurzem der Fall ist, reicht es nicht aus, die weibliche Perspektive in aktuelle Diskurse einzubringen. Den größten Einfluss hatte sicherlich 1996 Ruth Klügers Relektüre kanonischer Texte in Frauen lesen anders.[5] Klüger versucht sich an einer weiblichen Lesart, indem sie von Männern geschriebene Texte gegen den Strich liest, ohne gleichzeitig deren Qualitäten zu negieren. Geschlechtsspezifische Wertung wird meist an inhaltlichen Kriterien festgemacht, wie sich das Geschlecht in ästhetischer Hinsicht bemerkbar macht, wird hingegen selten diskutiert.

Dass Menschen, selbst wenn sie sich in dasselbe Wertegerüst fügen und dieselben Normen affirmieren, dennoch immer unterschiedlich werten werden und dass darin kein Defizit, sondern ein Reichtum besteht, darauf kann man sich vermutlich leicht einigen. Junge Männer werten anders als ältere, Engländer vermutlich anders als Deutsche und ein und dieselbe Person wird an unterschiedlichen Stationen ihres Leben unterschiedliche Urteile über ein und denselben Text fällen. Die Diskriminierung besteht darin, dass fast automatisch ein kausaler Zusammenhang zwischen Art und Weise eines Urteils und dem Geschlecht der Kritikerin hergestellt wird, während das Urteil von Männern – es ist müßig, aber unumgänglich an dieser Stelle auf Simone de Beauvoir verweisen zu müssen – unmarkiert bleibt. Auffallend ist, dass Frauen aufgrund ihres Geschlechts immer noch abgewertet werden, was Autorinnen und Kritikerinnen gleichermaßen trifft, wie zwei Beispiele zeigen sollen.

 

Als-Frau-Werten: Kritik als Doing-Gender

Davon auszugehen, dass Männer und Frauen automatisch unterschiedliche Werturteile fällen, birgt die Gefahr einer Festschreibung essentialistischer Vorstellungen einer bipolaren geschlechtlichen Wesenshaftigkeit. Im Sinne des Bourdieu’schen Habituskonzeptes ist es dennoch eine systematisch bedingte Konsequenz, die nur schwer überwunden werden kann. Überwunden werden sollte indes auch nicht die Divergenz von Werten, sondern die Hegemonie männlicher Urteile und Wertungsmodelle. Die wissenschaftliche Untersuchung der Literaturkritik als Genderdiskurs beschränkt sich nicht nur auf den Einfluss des Geschlechts der Autorinstanz oder auf Genderdiskurse auf inhaltlicher Ebene, sondern betrachtet den Akt des Wertens als performativen Akt, der mit Judith Butler als Doing Gender interpretiert werden kann. Theoretische Überlegungen dazu blieben bisher weitgehend auf den angloamerikanischen Raum beschränkt[6] Im New Personalism wird das Bekenntnis zu einer als spezifisch weiblich erachteten Subjektivität, die in Opposition zu phallogozentrischen Grundsätzen einer männlichen, analytisch ausgerichteten Kritik gesetzt wird, gefordert.[7] Darin findet die feministische Kritik durchaus einen Mitstreiter in Jacques Derrida, der allerdings, genauso wie Butler, versucht, essentialistische Geschlechterstrukturen abzubauen und die Frau als diskursives, nicht essentialistisches Konstrukt mit Subjektivität, Chaos und einer Vervielfältigung von Wahrheit zu assoziieren. Nach Derrida kann die Entkoppelung von sex und gender in der Operation des Als-Frau-Schreibens,[8] wie er es in der Nachfolge Nietzsches in seinem Aufsatz Sporen. Die Stile Nietzsches beschreibt und selbst praktiziert, in einem ‚als Frau lesen und werten’ fortgesetzt werden.[9] Weibliches Lesen ist in diesem Kontext immer ein dekonstruktivistisches – und dekonstruktivistisches Lesen immer ein weibliches, das von Männern und Frauen vollzogen werden kann. Gemeint ist also nicht der Wertungsakt realer Frauen, sondern eine Form der Kritik, die hegemoniale Werte in Frage stellt und so einen widerständigen Diskurs öffnet.

Weibliche Kritik im Sinne der Différance Derridas negiert objektivierbare Kriterien und weist sie als phallogozentrisch zurück. Da der Wert der Literaturkritik aber gerade darin besteht, über das intime, subjektive Leseerlebnis hinauszugehen, um auch für den potenziellen Leser von Belang zu sein, kann sich dieser Widerstand nur in der Offenlegung der eigenen Subjektivität und der Infragestellung des eigenen Urteils manifestieren. Weibliches Werten ist somit nicht nur eine Frage der Kriterien, sondern eine des Sprachduktus und der Transparenz von Perspektivität.

 

„Sie können die Liebe im Roman nicht ertragen!“

Von solchen theoretischen Überlegungen ist die Praxis weit entfernt. Der Alltag im deutschsprachigen Feuilleton und auch in anderen Publikationsmedien der Literaturkritik wird stärker von der Kategorie sex als von gender strukturiert. Nicht zuletzt die Inszenierung des Autors als Marke macht es auch der Kritik beinahe unmöglich, den Text nur an literarischen Kriterien zu messen und den Autor unter seinem Barthes’schen Grabstein in Frieden ruhen zu lassen, unabhängig davon, ob dieser das überhaupt zu tun in Betracht zieht. Und auch auf der Seite der KritikerInnen ist man von einer professionellen Egalität noch weit entfernt. Obwohl schon seit über zehn Jahre Geschichte, dürfte den meisten das Format Das Literarische Quartett und ihr glanzloser End- und Höhepunkt in der Sendung vom 30. Juni 2000 in guter Erinnerung sein. Was sich dort abspielte, war nicht nur eine Auseinandersetzung über ein bestimmtes Buch, das in diesem Fall zufällig Haruki Murakamis Roman Gefährliche Liebschaften war, sondern ein Interessenskonflikt größerer Ordnung. Die Sendung selbst und die danach entfachte Debatte zeigen eindrücklich, dass die Literaturkritik ein Machtdiskurs ist, in dem nicht nur die Qualität von Texten verhandelt wird, vielmehr geht es um die Verteidigung von Werten und Machtpositionen. Löffler selbst analysierte scharfsichtig:

Es war das reinste Lehrstück in Frauenfeindlichkeit. Nach dem Muster: Wenn ich mich erdreiste, im Widerspruch zu Reich-Ranicki Sachkompetenz zu behaupten, dann kann mit meiner Weiblichkeit etwas nicht stimmen. Indem man mich als Frau entwertete, sollte ich als Kritikerin beschädigt werden.[10]

Löfflers Vorwürfe sind kaum von der Hand zu weisen. Reich-Ranicki beanspruchte für sich die Meinungshoheit und sprach Löffler, weil sie seine Meinung nicht teilte, ihre Weiblichkeit ab. Für Löffler entstand eine ausweglose Situation: Ihr Geschlecht und ihre professionelle Meinung wurden untrennbar gekoppelt, Reich-Ranickis Angriff war damit nicht nur ein persönlicher, sondern zugleich Ausdruck eines patriarchalen Gestus.

Auch Sigrid Löfflers Nachfolgerin im Quartett und mit ihr die wohl prominenteste deutschsprachige Literaturkritikerin, Iris Radisch, weiß ein Lied vom Literaturbetrieb zu singen. Gaubt man Radisch, hat sich für Frauen seit Therese Huber und Dorothea Schlegel nicht viel getan: „Dass die Medienwelt eine Männerwelt ist, lehrt uns der Blick ins Impressum. Dass der Zutritt der Frauen in die Medienwelt eine von Mannes Gnaden ist, ergibt sich daraus zwangsläufig“,[11] schreibt Radisch in der Zeit. Sie war es auch, die in der Debatte um Helene Hegemann und ihren Roman Axolotl Roadkill ein sexistisches Tribunal sah, die Hexenjagd einer Herrenrunde in der Tradition Otto Weiningers:

Der Kulturkampf zwischen den alten Herren und dem jungen Mädchen, der aussieht wie der Kampf zwischen David und Goliath, ist ein Gradmesser für die allmähliche Verunsicherung der alten Hochkultur, die um ihre Zukunft fürchtet. Doch das ganze Gebell wird ihr nichts nutzen. Wenn sie für Eindringlinge, zumal in Gestalt von jungen widerspenstigen Frauen, nicht mehr zu sprechen ist, ist es schon jetzt mit ihr vorbei.[12]

Ob Radisch Recht damit hat, dass die Abwertung des Romans seitens männlicher Kritiker ausschließlich einer sexistischen Motivation zuzurechnen ist, sei dahingestellt, Radisch weiß es in jedem Fall überzeugend vorzutragen. Nicht von der Hand zu weisen ist in jedem Fall ihre Kritik an der pejorativen, an Misogynie streifenden Sprache, die für die junge Frau sogar in wohlwollenderen Artikeln verwendet wurde, wie „das junge Ding“,[13] das „junge Célinchen“ und „Germany's Next Autoren-Topmodel“[14] oder „das Gör“.[15] Im Gegenzug griff Radisch ihrerseits zur geschlechtsspezifischen Polemik und konstatierte ein „paternalistische Tschingderassa“, warf der „Herrenrunde“ vor, „das Streichholz an den Scheiterhaufen zu halten“ und kritisierte „das leitende Herrenfeuilleton, das sich aufführt wie die Kirchenväter, die ein besonders perfides junges Weibsstück der Hexerei überführt zu haben“[16] Doch auch wenn der herablassende bis misogyne Tonfall nur von männlichen Kritikern im Bezug auf weibliche Autorinnen denkbar erscheint, stellt sich die Frage, ob Radisch nicht ihrerseits das Urteil der Kritiker auf ihr Geschlecht reduziert, während sie Verrisse von Frauen davon unbehelligt lässt.


Fazit

Diskurse der Macht sind immer Gender-Diskurse, die Literaturkritik ist einer davon. Welche unterschiedlichen Rollen die Kategorie Geschlecht dabei spielt, konnte nur überblicksmäßig gezeigt werden. Entscheidend für eine gendersensible Kommunikation über Literatur im Kontext der Kritik in Zukunft wird sein, die Diversität subjektiver Wertmaßstäbe anzuerkennen, ein Prozess, der durch die rasante Vervielfältigung von Publikationsmöglichkeiten im Internet immer zwingender wird, genealogisch männlich geformte und dominierte Wertungssysteme zu erweitern und, um mit Musil zu sprechen, den Fokus auf die Möglichkeiten der Texte statt auf die Wirklichkeit ihrer Autoren zu legen.


Veronika Schuchter, 29.9.2012

Veronika.Schuchter@uibk.ac.at



[1] Vgl. Renate von Heydebrand, Simone Winko: Arbeit am Kanon. Geschlechterdifferenz in Rezeption und Wertung von Literatur. In: Hadumod Bußmann, Renate Hof [Hrsg.]: Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart: Kröner, 1995, S. 206-261, hier S. 207.

[2] Ebd., S. 208.

[3] Vgl. Ruth Klüger: Frauen lesen anders. 5. Aufl. München: dtv, 2007, S. 87f.

[4] Mathias Schreiber, Susanne Beyer: „Es war ein schwerer Bruch“. In: Der Spiegel, 7.8.2000, S. 96.

[5] Vgl. Anm. 3.

[6] Toril Moi: Sexus Text Herrschaft. Feministische Literaturtheorie. Bremen: Zeichen und Spuren, 1989.

[7] Hierzu sei vor allem auf den Sammelband The Intimate Critique von Diane Friedman verwiesen, vgl. Diane P. Friedman, Olivia Frey, Francis Murphy Zauhar [Hrsg.]: The Intimate Critique. Autobiographical Literary Criticism. Durham/London: Duke Univ. Press, 1993.

[8] Vgl. Jacques Derrida: Sporen. Die Stile Nietzsches. In: Werner Hamacher [Hrsg.]: Nietzsche aus Frankreich. Berlin/Wien: Europ. Verl.-Anst., 2007. (EVA Taschenbuch, Bd. 252), S. 183-224.

[9] Diesen Ansatz verfolgt Jonathan Culler: Als Frau lesen. In: [Ders.]: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbeck: Rowohlt, 1988, S. 46-49.

[10] Schreiber, Mathias, Susanne Beyer: „Es war ein schwerer Bruch“. In: Der Spiegel, 7.8.2000, S. 93ff.

[11] Iris Radisch: Die alten Männer und das junge Mädchen. In: Die Zeit, 18.02.2012, S. 45.

[12] Ebd.

[13] Willi Winkler: Untermieter im eigenen Kopf. In: Süddeutsche Zeitung, 9.2.2010, S. 11.

[14] Jürgen Kaube: Germany's Next Autoren-Topmodel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.2.2010, S. 27.

[15] Matthias Heine: Die heilige Helene der Textblößen: Warum alte Männer sie hassen. In: Die Welt, 12.2.2010, S. 26.

[16] Iris Radisch: Die alten Männer und das junge Mädchen. In: Die Zeit, 18.2.2012, S. 45.