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Zwischen „Merkur“ und „Titanic“

Walter Boehlich – nicht nur, aber vor allem Kritiker. Von Michael Pilz

 

Walter Boehlich – Kritiker. Hrsg. von Helmut Peitsch und Helen Thein. Berlin: Akademie-Verl., 2011. 400 S. ISBN: 978-3-05-005085-0. Preis [A]: € 71,80


Walter Boehlich, Kritiker – der Titel des Bandes, der die Ergebnisse einer Tagung der Universität Potsdam und des Moses-Mendelssohn-Zentrums vom Dezember 2009 präsentiert, scheint aufs Erste etwas eng gewählt angesichts des Anspruchs der versammelten Beiträge, „das öffentliche Handeln Boehlichs in wechselnden institutionellen Zusammenhängen“ zu untersuchen und „sein Wirken als Philologe, Übersetzer, Lektor, Herausgeber, Essayist und Literaturkritiker“ in seiner ganzen Vielfalt und Breite in den Blick zu nehmen, wie es die Herausgeber Helmut Peitsch und Helen Thein in ihrem Vorwort formulieren (S. X). Tatsächlich sind lediglich zwei der insgesamt 18 Aufsätze der Rubrik „Literaturkritik“ zugeordnet, während sich die übrigen unter den Überschriften „Ein Leben mit Büchern“, „Judentum und Antisemitismus“, „Literaturwissenschaft und Kritik an der Germanistik“, „Verlagslektorat“ und „Autorschaft“ gruppieren. Dass der Titel indes nicht unüberlegt gewählt worden ist, wird bei fortgesetzter Lektüre des Bandes rasch ersichtlich, kann der 2006 verstorbene Walter Boehlich doch mit einigem Recht als die nachgerade klassische Verkörperung „des engagierten Intellektuellen, wie wir ihn seit Zola kennen“ (Matthias N. Lorenz, S. 161), im literarischen Feld der Bundesrepublik Deutschland gelten – einer Handlungsrolle also, für die der Begriff der „Kritik“ auch und vor allem jenseits einer bloßen Festschreibung auf das Metier des Rezensionswesens als konstitutiv zu betrachten ist.

Die kritische Intervention, das „eingreifende Denken“ als intellektuelle Praxis zieht sich denn auch als roter Faden durch die auf den ersten Blick recht heterogenen Tätigkeitsfelder des homme de lettres Walter Boehlich – gleichviel, ob er nun seine praktische Tätigkeit als Übersetzer auf das Fundament einer auch theoretisch reflektierten Übersetzungskritik stellte, die er, wie Peter Urban in seinem Beitrag nachweist, „gleichsam als komplementäre Disziplin zum Übersetzen selbst“ betrachtet wissen wollte (S. 279);[1] oder ob er als Philologe nicht nur Fachrezensionen verfasste, sondern als einer der ersten im Um- und Vorfeld des Germanistentages von 1966 auch die eigene akademische Institution samt ihrer notorischen Geschichtsvergessenheit einer Fundamentalkritik unterzog, wie es Peter Uwe Hohendahl in seinem Beitrag aufweist (S. 101–113); oder ob er schließlich als Cheflektor bei Suhrkamp nicht nur literarische Manuskripte, sondern auch die ökonomischen Strukturen und Machtverhältnisse innerhalb des Verlages selbst einer kritischen Prüfung unterzog – was dann bekanntlich im geschichtsträchtigen Jahr 1968 zu jenem öffentlichkeitswirksamen „Aufstand der Lektoren“ geführt hat, der mit Boehlichs Rauswurf durch Verlagschef Unseld endete und die anschließende Gründung des „Verlags der Autoren“ unter tatkräftiger Beteiligung der geschassten Lektorenriege nach sich zog (wie es im vorliegenden Band Klaus Kröger auf den Seiten 229–252 beschreibt und wie es inzwischen auch in einer eigenständigen Dokumentation in Buchform nachzulesen ist). Von der Tätigkeit Boehlichs als politischer Kolumnist des „endgültigen Satiremagazins“ Titanic ganz zu schweigen, als dessen „seriöse Säule“ er bis ins hohe Alter hinein Monat für Monat unbeirrt seine kritischen Zeitbetrachtungen geliefert hat (und dies auch dann noch, als er Gefahr lief, inmitten einer längst dominant gewordenen „Spaßgeneration“ nur mehr als Fossil des linken Engagements beargwöhnt zu werden, wie es Ulrike Baureithel am Ende ihres Beitrags dezent andeutet).

Der Kritiker ist damit zu allererst Gesellschaftskritiker und seine Praxis hochpolitisch – nicht zuletzt dann, wenn er sich mit Literatur befasst. So lautete jedenfalls die Perspektive, die Boehlich in jenem Text eröffnet wissen wollte, mit dem er sich (sofern es einen solchen Kanon gibt) in die kanonischen Ränge der deutschsprachigen Literaturkritik nach 1945 eingeschrieben haben dürfte: dem zunächst als sog. Kursbogen zum Kursbuch Nr. 15 von 1968 veröffentlichten Pamphlet Autodafé, das mit der apodiktischen Meldung vom Tod der „bürgerlichen“ Kritik anhebt, um in die rhetorische Frage zu münden:

„Können wir keine Kritik haben, die nicht vom überzeitlichen Charakter des Kunstwerks ausgeht, sondern vom jeweils zeitlichen Charakter, die Literatur nicht länger als das begreift, was sie angeblich ist, sondern als das, wozu sie dient und was mit ihr geschieht?“[2]

Es zählt zu den Verdiensten des vorliegenden Bandes, dass Boehlichs „am häufigsten nachgedruckter Text“ (S. XI) keineswegs einseitig in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird, zumal das Image seines Verfassers als Paradefigur der linksintellektuellen Szene im literarischen Feld der BRD ohnehin weitestgehend bekannt sein dürfte. Mit der Tatsache, dass über diesem Selbst- und Fremd-Bild „in der Regel die Ausgangspunkte von Boehlichs Literaturkritik vergessen“ werden, benennen die Herausgeber stattdessen gleich einleitend einen blinden Fleck, den zu beheben ihr Buch einen gewichtigen Beitrag leistet: Denn mit den Aufsätzen von Christian Kapp (über Walter Boehlichs frühe Jahre, S. 17–42), Helmut Peitsch (über Boehlichs „Beitrag zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft“, S. 69–84), Peter Jehle (Philologie und Emanzipation, S. 85–100), Peter Uwe Hohendahl (Walter Boehlich als Kritiker der Germanistik, S. 101–114) und Thomas Wegmann (Zwischen Soziologie und Ästhetik oder Der Kritiker, der seine Position bestimmt, S. 133–142) beleuchtet immerhin ein knappes Drittel der Beiträger wesentliche Aspekte vor allem des „frühen Boehlich“ und seiner Publikationstätigkeit in den späten 1940er und 1950er Jahren vor Eintritt als Lektor in den Suhrkamp-Verlag. Damit rückt auch Boehlichs akademische Herkunft aus einem philologisch-geistesgeschichtlichen Traditionszusammenhang ins Zentrum der Betrachtung, der in erster Linie durch den Namen seines akademischen Lehrers Ernst Robert Curtius gekennzeichnet ist (Boehlich arbeitete von 1947 bis 1951 als dessen Assistent in Bonn, war u. a. an der Erstellung des Registers zu Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter beteiligt und gab zusammen mit Max Rychner die 1956 erschienene Festschrift für Curtius heraus, die auch eine von ihm bearbeitete Curtius-Bibliographie enthält).

Als Mitarbeiter des Merkur, der Neuen deutschen Hefte oder der Schweizer Tat positionierte sich Boehlich zunächst noch ganz bewusst

„[…] in einer Reihe mit Hans Egon Holthusen, Karl August Horst und Curt Hohoff als ‚restaurative[r]‘ Kritiker, der einen ‚schöpferische[n] Traditionalismus‘ mit Ernst Robert Curtius, Max Rychner und Rudolf Alexander Schröder, Josef Hofmiller und Hugo von Hofmannsthal einem ‚maßstablosen Modernismus‘ entgegensetzen wollte […].“ (Vorwort, S. XI f.)

Entsprechend programmatisch handelte es sich bei Boehlichs erstem Artikel für die Wochenzeitung Die Zeit vom 9.12.1948 – dem im Laufe der Jahre noch 52 weitere folgen sollten – um eine „nur lobende Besprechung von Curtius‘ Mittelalterbuch“ (Christoph Kapp, S. 32) unter der bezeichnenden Überschrift Europäische Literatur. Über die Kontinuität in der Dichtkunst von Homer bis heute. Also Überzeitlichkeit und Traditionalismus statt aktueller Zeitbezogenheit und provokantem Bruch; philologische Wertung statt „Weltanschauungskritik oder rein politische[r] Kritik“ (S. 137). – Dass sich der junge Boehlich mit einer solchermaßen von Curtius entlehnten Agenda, auf der die Betonung eines „kultur- und literaturgeschichtlichen Kontinuums“ (Thomas Wegmann, S. 140) dominierte, in diametralem Gegensatz zu seinen späteren Positionen im Umfeld der 68er und Post-68er Bewegung befand, ist offenkundig. Noch zeigte er sich jener (bildungs-)bürgerlichen Praxis literaturkritischen Schreibens verpflichtet, die er im Autodafé ostentativ über Bord zu werfen vorgab – ohne sich freilich zeitlebens gänzlich von ihr lösen zu können oder gar lösen zu wollen, wie Silivia Bovenschen in einer von mehreren Beiträgern zitierten Erinnerung aus dem Jahr 2007 sichtbar werden lässt:

„Boehlich hat es vermocht, den Geistesaristokratismus seiner akademischen Herkunft in einem einzigartigen Zusammenspiel mit scharfer gesellschaftskritischer Streitbarkeit zu verbinden. Das muss man können. Es hätte seinem Lehrer [Curtius, M. P.] vermutlich nicht in allen Teilen gefallen. Aber die emotionale Treue hat Walter Boehlich immer gewahrt.“ (S. 135)

Wie nachhaltig die bildungsbürgerliche Prägung durch Curtius war, zeigt auch Matthias N. Lorenz auf, wenn er auf Boehlichs negative Bewertung der Schriften Victor Klemperers verweist, die mit der Erstedition von dessen Tagebüchern in den 1990er Jahren wieder starke Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Immerhin hatte Klemperer seinerzeit im akademischen Feld der Romanistik zu den fachinternen Konkurrenten von Boehlichs Mentor gezählt. Und noch Boehlichs späte Kritik blieb auf augenfällige Weise „in der Spur seines verehrten Lehrers und Klemperer-Kritikers Ernst Robert Curtius“. (S. 158). Als sich in den 1980er und 1990er Jahren schließlich die auch fachinterne (und keineswegs unbegründete) Kritik an Curtius‘ weltanschaulichen Positionen zu intensivieren begann – erinnert sei nur an die bis heute ambivalente Bewertung seiner Streitschrift Deutscher Geist in Gefahr von 1932 – zog es Boehlich vor, seinen Lehrer ausdrücklich in Schutz zu nehmen, statt sich in die Fraktion der radikalen Ankläger einzureihen. In seinem sichtlich um ausgleichende Objektivität bemühten Zeit-Artikel Ein Haus, in dem wir atmen können. Das Neueste zum Dauerstreit um den Romanisten Ernst Robert Curtius vom 6.12.1996 heißt es u. a.: „Daß Curtius ein Konservativer, auch ein Wertkonservativer war, läßt sich weder aus der Welt schaffen, noch ist das ein Verbrechen.“

Diese ebenso unbeirrt wie selbstbewusst geäußerten Sympathien für eine unzweideutig konservative Position im Rahmen einer ansonsten prononciert nach außen getragenen „linken“ Haltung konnte Boehlich scheinbar mühelos als Teil eines intellektuellen Habitus legitimieren, der bis zuletzt durch das Signum des Nonkonformismus geprägt war; und der es dementsprechend erlaubte, auch auf den ersten Blick heterogene Aspekte in der Personalunion einer einzigen Kritikerindividualität zu integrieren, die zeitlebens auf die Wahrung ihrer Unabhängigkeit bedacht war. Ob dies – wie Thomas Wegmann in seinem auf Karl Mannheim verweisenden Aufsatz über Boehlichs Positionierungs-Essay Die fehlende Generation. Literaturgeschichte und Kritik von 1954 vorschlägt – tatsächlich als Charakteristikum eines spezifischen, von Boehlich vertretenen Generationszusammenhangs betrachtet werden kann, mag dahingestellt bleiben. Immerhin ließe sich die Bereitschaft, „antagonistische Positionen […] zu synthetisieren“ und sich als Autor „zwischen akademischer Literaturwissenschaft und publizistischer Literaturkritik“ gleichermaßen zu verorten (S. 141), nicht erst bei Boehlich, sondern bereits in Curtius‘ eigener literaturkritische Praxis beobachten – und damit einmal mehr als Indikator für den nachhaltigen Einfluss des Lehrers auf die Selbstentwürfe des jungen Kritiker-Adepten interpretieren (wie dies u. a. auch Peter Jehle in seinem Beitrag Zum Verhältnis von Walter Boehlich und Ernst Robert Curtius nahelegt).[3]

Dass das zweifellos durch Curtius geschärfte Bewusstsein für die Wirksamkeit von Traditionszusammenhängen auch für den allmählich ins linke Lager überwechselnden Boehlich bis zuletzt von Bedeutung geblieben ist, zeigen die Aufsätze von Richard Faber und Matthias Uecker auf, die sich mit Boehlich als Herausgeber der sammlung insel (S. 181–214) bzw. mit seiner szenisch-dokumentarischen Aufarbeitung der Revolution von 1848 beschäftigen (S. 253–266). In beiden Fällen werden allerdings auch die Modifikationen deutlich, die für Boehlichs Geschichtsdenken aus der befruchtenden Begegnung mit Walter Benjamins Schriften erwachsen ist – Faber liest insbesondere die Konzeption der zwischen 1965 und 1969 auf insgesamt 50 Bände anwachsenden sammlung insel als explizite Wiederaufnahme von Benjamins Projekt, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“, um mit der bewussten Herstellung eines Gegen-Kanons „die Verlierer der Geschichte wieder ins Gedächtnis zu rufen und durch sie eine alternative, ‚fortschrittliche‘ Tradition zu konstruieren“ (Uecker, S. 254). Gemäß Benjamins These von der in jeder Epoche aufs neue zu aktualisierenden Verpflichtung, „die Überlieferung […] dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen“, verstand sich Boehlich konkret auf die Sichtbarmachung der bislang verschütteten demokratischen Traditionslinien deutscher Geschichte, insbesondere des 18. und 19. Jahrhunderts, des Vormärz und der 48er-Revolution, sowie deren Integration in die öffentliche Gedächtniskultur der Bundesrepublik durch die Edition verschollener Texte von Georg Forster bis Georg Gottfried Gervinus.

In der Summe seiner einzelnen Beiträge – nicht auf alle kann an dieser Stelle näher eingegangen werden – liefert der vorliegende Tagungsband also einen Entwurf zur intellektuellen Biographie eines führenden Exponenten bundesrepublikanischer Literaturvermittlung, die sich in ihren Etappen als ein Prozess wechselnder Positionierungen im kulturellen Feld fassen lässt. Wie es scheint, bietet Boehlich das seltene, gleichwohl überzeugende Bild eines in jungen Jahren wenn nicht zum Konservatismus, so doch zu einem charakteristischen Traditionalismus bürgerlicher Provenienz neigenden Intellektuellen, der sich mit zunehmendem Lebensalter nicht etwa immer weiter ins konservative Lager hinein bewegte, sondern sich vielmehr immer deutlicher nach links orientierte. Der Integration in den progressiven Kreis des Suhrkamp-Verlags mit den sich daraus eröffnenden sozialen Kontakten darf dabei ein entscheidender Katalysator-Effekt für Boehlichs Positionierung als kritischer Intellektueller zugesprochen werden, wie er selbst in einem Interview mit Mechthild Zschau von 1996 zu Protokoll gab:

„[…] in diesem Verlag bin ich zum ersten Mal mit einer ganzen Gruppe von Leuten zusammengekommen, […] die im Gegensatz zu meinen damaligen, muss ich gestehen, liberalen Neigungen, links oder sehr weit links standen. Und das kannte ich im gewissen Umfange aus der Theorie, aber doch nicht als […] Lebenserfahrung.“ (S. 36)

Im Anschluss an dieses autobiographische Statement legt Christoph Kapp in seiner Skizze über Walter Boehlichs frühe Jahre zumindest indirekt nahe, zwischen einer prä- und einer post-Suhrkamp-Phase in der Biographie des Protagonisten zu differenzieren, zwischen denen sich die Verwandlung zum bekennenden Linken vollzogen habe. Kapp demonstriert diese „Verschiebung seiner literarischen und politischen Präferenzen […] vor und nach seinem Eintritt bei Suhrkamp“ exemplarisch an Boehlichs Haltung zu Walter Benjamin, dessen Werke er 1955 zwar wohlwollend, indes noch mit einer gewissen Distanz – insbesondere in Hinblick auf die marxistische Komponente – für die Neuen Deutschen Hefte rezensiert hatte (und die er im Jahr darauf in einem Brief an den Merkur-Herausgeber Hans Paeschke noch um einiges skeptischer als potentielles Modephänomen bewertete). Jedoch:

„Keine zehn Jahre später stellte Boehlich den Auswahlband Angelus Novus zusammen und saß mit Rolf Tiedemann, Adorno und Gershom Scholem in den Redaktionskonferenzen, um die Edition der Briefe Benjamins vorzubereiten. 1973 veröffentlichte er eine Rezension der Biographie Benjamins von Werner Fuld, die eine Zurücknahme, wenn nicht gar Selbstwiderlegung Boehlichs früherer Position beinhaltet […].“ (S. 36 f.)

Als signifikante Indices für die Positionswechsel auf Boehlichs Weg durchs literarische Feld verweisen die Herausgeber auch auf die sich verändernden Publikationsorte seiner Texte – „von den kulturellen Monatszeitschriften Merkur und Monat über die Wochen- und Tageszeitungen Die Zeit, Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung und Frankfurter Rundschau zu Deutscher Volkszeitung, Konkret und Titanic“ – worüber Boehlich selbst in einem 1981 entstandenen Brief an Helmut Heissenbüttel schreibt:

„vor dreissig jahren hätte ich nirgends anders als im merkur veröffentlichen wollen und mir kaum vorstellen wollen und […] können, dass ich mich so schmerzlos und so weit von ihm entfernen würde, auch nicht dass ich einmal über das schreiben würde, worüber ich jetzt meist schreibe. […] konkret, titanic, die deutsche volkszeitung – daran hätte ich in unseren hamburger jahren nie auch nur gedacht, aber jetzt scheint es mir in den grenzen, in denen es überhaupt einen publizistischen sinn geben kann, recht sinnvoll.“ (Vorwort, S. XII)

Die ganze Fülle von Boehlichs kritisch-publizistischem Gesamtwerk, einschließlich der von ihm übersetzten und herausgegebenen Texte, seiner Funk- und Fernsehbeiträge sowie seiner Teilnahmen an Rundfunk-Diskussionen findet sich in Helen Theins akribischer Personalbibliographie verzeichnet (S. 307–393), die den Tagungsband abschließt und auch insofern zu einer brauchbaren Basis für weiterführende Forschungsarbeiten macht – die bestehenden Desiderate sind in der Einleitung bereits formuliert:

„Boehlichs umfangreiche Tätigkeit für Funk und Fernsehen und seine damit gegebene Präsenz in der Öffentlichkeit wurde bislang noch nicht untersucht, ebenso fehlt eine Einschätzung für die Vermittlung spanischer und lateinamerikanischer Literatur in der Bundesrepublik, die er sowohl als Lektor, Übersetzer wie auch als Kritiker leistete. Allein dem Suhrkamp Verlag als solchem dieses Verdienst zuzuschreiben verkennt, dass es immer engagierter Menschen braucht, die sowohl die Kenntnisse als auch die intellektuelle Neugier besitzen, Literatur zu entdecken und zu verbreiten.“ (Vorwort, S. XIII f.)

Es ist zu begrüßen, dass nun auch Walter Boehlich selbst samt der von ihm entdeckten, produzierten und/oder verbreiteten Literatur von der Forschung entdeckt und zum Gegenstand des germanistischen Interesses gemacht worden ist – ein vergleichbares Interesse wäre immerhin auch anderen vom Vergessen bedrohten oder inzwischen längst vergessenen Akteuren des deutschsprachigen Literaturbetriebs sowohl vor als auch nach 1945 zu wünschen: Kritikern, Lektoren und anderen Kulturvermittlern, die als wichtige Mitspieler das Profil des literarischen Feldes ihrer Zeit jeweils auf entscheidende Weise mitbestimmen, obschon sie weitestgehend im Schatten der „eigentlichen“ Literaturproduzenten, vulgo Schriftsteller oder gar „Dichter“, stehen.

Walter Boehlich hat – im Gegensatz zu vielen anderen Kritikern – zu Lebzeiten stets auf die Sammlung seiner verstreut publizierten Texte in Buchform verzichtet, was mit dazu beigetragen haben mag, dass er, wie Helen Thein im Vorwort ihrer Personalbibliographie schreibt, „als ein Autor ohne eigenes Werk erschein[t], als Kritiker anderer“. (S. 307) Um diesen Eindruck zu revidieren, kann nicht nur ein Blick in das bibliographische Verzeichnis nützen, sondern auch ein Griff zu dem gleichfalls 2011 (bei S. Fischer) erschienenen Auswahlband Die Antwort ist das Unglück der Frage, der einen repräsentativen Querschnitt durch Boehlichs publizistisches Schaffen bietet und auf den abschließend mit Nachdruck hingewiesen sei.[4]

Michael Pilz, 12.03.2012
Michael.Pilz@uibk.ac.at



[1] Im Übrigen zählte es zu „den festen, unumstößlichen Überzeugungen des Kritikers Walter Boehlich, der bekanntermaßen selbst ein herausragender Übersetzer war, […] dass alle Klassiker der Weltliteratur, sofern nicht deutscher Herkunft, aber auch alle Texte der klassischen Moderne neu übersetzt werden müssten.“ (S. 273).

[2] Zit. nach Sascha Michel [Hrsg.]: Texte zur Theorie der Literaturkritik. Stuttgart: Reclam, 2008. (RUB 18549), S. 236–239, hier S. 239.

[3] Vgl. hierzu etwa Jehles Charakterisierung von Curtius‘ intellektuellem Habitus, S. 86 f.: „Noch ein zweiter Punkt dürfte für den jungen Boehlich entscheidend gewesen sein: Wie kaum ein anderer verband Curtius, nachdem er  die akademischen Qualifikationsschriften absolviert hatte, die gelehrte Beschäftigung mit Literatur mit aktuell-eingreifender Literaturkritik. Damit stellte er das traditionelle Selbstverständnis des Gelehrten, der den Ritus seiner Wissenschaft in vermeintlich idealer Abgehobenheit von der Aktualität zu betreiben hat, in Frage. […] Nicht als Professor, sondern als ‚deutscher Schriftsteller‘ protestierte er 1949 gegen Jaspers‘ Goethekritik, um als solcher für sich das Recht in Anspruch zu nehmen, ‚publizistische Waffen zu gebrauchen‘. Die literarische Kritik gilt ihm als eine ‚sozialhygienische Notwendigkeit‘ der Filtrierung der Büchermassen, der er eine den drei Grundformen des Schreibens – Lyrik, Roman, Drama – ‚gleichwichtige Funktion‘ beimisst. [...] Curtius faszinierte als Grenzgänger, der Ansehen errungen hatte; als Nonkonformist, der aus seinem Konservatismus keinen Hehl machte; als Stilist, der auf Nachlässigkeit reagierte, als sei sie eine persönliche Beleidigung.“

[4] Walter Boehlich: Die Antwort ist das Unglück der Frage. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Helmut Peitsch und Helen Thein. Mit einem Vorwort von Klaus Reichert. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2011. 703 S. ISBN: 978-3-10-046325-8. Preis [A]: € 26,80. Zum Inhaltsverzeichnis.