kanon-und-verlag_9783050051918

Das Taschenbuch als Literaturvermittler

Was die Geschichte des Deutschen Taschenbuch-Verlags mit dem Kanon zu tun hat. Von Stefan Neuhaus

 

Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag. Zur Kanonisierungspraxis des Deutschen Taschenbuch Verlags. Berlin: Akademie Verlag, 2011 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen, Band 5). 497 S. ISBN 978-3-05-005191-8. Preis: [A] € 102,60

 

Buchhandel und Verlagswesen können als eigenes Forschungsgebiet gelten, auf dem sich neben den BuchwissenschaftlerInnen auch HistorikerInnen und PhilologInnen betätigen, allerdings ist dieses Forschungsgebiet verhältnismäßig klein, die Zahl der bisherigen Arbeiten sehr überschaubar. Beiträge zur Literatur und Literaturkritik leisten solche Arbeiten eher, indem sie die gemeinsamen geschichtlichen Wurzeln herausarbeiten, schließlich waren LiteraturkritikerInnen etwa im Zeitalter der Aufklärung in der Regel auch AutorInnen und setzten sich kritisch mit der Entwicklung des literarischen Feldes auseinander.

Literarisches Feld ist ein von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu entlehnter Begriff,[1] seiner Terminologie bedient sich auch die vorliegende Studie, eine an der Universität Siegen entstandene Dissertation. Sie versucht nicht nur, wie die meisten bisherigen Arbeiten, Verlagsgeschichte zu schreiben, sondern auch die Wirkung der Programmpolitik des Verlags – hier des Deutschen Taschenbuch-Verlags (dtv) – auf die LeserInnen mit in den Blick zu nehmen und zu skizzieren, wie der Verlag mit anderen AkteurInnen des literarischen Feldes interagiert, welche Texte aus welchen Gründen produziert und rezipiert werden. Die Frage der Wertung freilich ist für die Literaturkritik zentral, außerdem geht die Studie immer wieder auch auf Rezeptionszeugnisse wie Rezensionen von dtv-Produkten oder Artikel über das dtv-Programm ein.

Zur Kanonbildung und literarischen Wertung gibt es eine eigene Forschung, die in den letzten Jahrzehnten deutlich an Umfang und argumentativer Komplexität zugenommen hat. Die Studie zerfällt, indem sie sich um Verlagsgeschichte und Kanontheorie bemüht, in zwei Fragestellungen und es ist spannend zu beobachten, wie Verf. versucht, die beiden doch sehr unterschiedlichen Forschungsperspektiven miteinander zu verbinden. Den Anfang macht eine kleine Bestandaufnahme bisheriger Kanonforschung, wobei einige Arbeiten wie der von Renate von Heydebrand herausgegebene DFG-Symposien-Band Kanon Macht Kultur von 1998 starke Berücksichtigung finden,[2] aber die nicht weniger wichtige, von Simone Winko und Renate von Heydebrand verfasste Einführung in die Wertung von Literatur von 1996 nicht einmal im Literaturverzeichnis genannt wird.[3]

In ihrer Begrifflichkeit bedient sich die Arbeit der Theorie des literarischen Feldes von Bourdieu, aber Studien wie die von Christine Magerski (Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871 von 2004),[4] die eine solche Adaption bereits versucht haben, sind ebenfalls nicht gesichtet worden. Originell ist, dass z.B. auf Ludwig Flecks Überlegungen zur ‚Entstehung wissenschaftlicher Tatsachen‘ zurückgegriffen wird (S. 12), um den Akteursaspekt zu betonen. Auf der anderen Seite wird – auch wenn solche Thesen in einer pluralen Gesellschaft zunächst einen zeitgemäßen Eindruck machen – das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wenn der Kanon für tot erklärt und auf dem Totenschein Altersschwäche vermerkt wird: „Das Kanonwissen hat seit mehreren Jahrzehnten, forciert durch die gesellschaftlichen Dynamisierungsprozesse seit den 1960er Jahren, sein identifikatorisches Potenzial und, damit einhergehend, seine Exklusionsmacht eingebüßt“ (S. 19).

Dass eine germanistische ‚Karriere‘ auch ohne die Lektüre der Texte Schillers und eine romanistische ohne die Kenntnis der Werke Prousts möglich sein soll, dass etwa die Werke Frank Schätzings viel mehr gemeinsamen Gesprächsstoff hergeben als Schiller oder Proust (vgl. ebd.), gehört zu einer Reihe mehr als fragwürdiger Feststellungen, abgesehen davon, dass ein solcher neuer ‚Expertenstatus‘ nicht wünschenswert ist – genauso gut könnte man die Auffassung vertreten, dass in der Kunstgeschichte auf die Kenntnis Picassos zugunsten von Uli Stein verzichtet werden kann oder dass für die Reparatur eines Autos die Kenntnis der Montage von Fahrrädern reicht … Womit nichts gegen Uli Stein oder gegen Fahrräder gesagt sein soll. Aber hier wäre es sinnvoll, verschiedene Praxisfelder voneinander zu unterscheiden, die durchaus noch existieren und existieren müssen, um ExpertInnenstatus überhaupt erst möglich zu machen. Auch kann wohl nicht sinnvoll von einer „Aufsplitterung der Kanones“ (ebd.) gesprochen werden, ohne anzunehmen, dass es gruppenspezifische Ausprägungen gibt.

Auf viele der referierten Ergebnisse der Kanonforschung, etwa von Aleida Assmann (S. 24), kommt die Arbeit nicht wieder explizit zu sprechen, selbst wenn sie als grundlegend für die weitere Argumentation bezeichnet werden. Die neu eingeführte Begriffstrias der „Publizität, Etabliertheit und Kanonizität“ (S. 31) bleibt seltsam diffus, zumal ‚der‘ Kanon ja bereits als Ordnungskategorie verabschiedet wurde. In der Folge werden auch alte Fehlurteile der Forschung tradiert, etwa wenn Schillers berühmte Bürger-Rezension als „vernichtend“ gewertet wird (S. 55). So hat sie gewirkt, weil sie einseitig rezipiert wurde – aber es lässt sich nachlesen, dass Schiller Bürger ermuntern wollte, sich seiner eigenen Literaturauffassung anzuschließen, und dass er ihm dies auch zugetraut hat.[5] Abgesehen davon ist Schillers programmatische Rezension kein gutes Beispiel für ein „bildungsbürgerliche[s] Popularitätsverständnis“ (ebd.), sondern vielmehr ein Versuch, das eigene, kunst- und literaturbasierte Erziehungsprogramm an einem Beispiel durchzuspielen. Dass Schiller einer der am häufigsten für alle möglichen und unmöglichen Zwecke instrumentalisierten Autoren ist, sei hier nur angemerkt.

Entsprechend ambivalent ist also der Lektüreeindruck des theoretischen Teils – die Verzahnung der beiden leitenden Fragestellungen gelingt nur sehr bedingt und ist mit Versuchen überfrachtet, sehr verschiedene Positionen zu inkludieren oder zu exkludieren und zu bewerten. Dafür ist der größere Teil der Arbeit, der die Entstehung und die Entwicklung des 1961 als Zusammenschluss kleinerer Hardcover-Verlage gestarteten dtv auf breiter Materialbasis neu und vergleichsweise umfassend beschreibt, umso gelungener. Die verwendeten Materialien, vom Nachlass des ersten Verlegers Heinz Friedrich über die Interviews mit seinen Nachfolgern, Briefe und Dokumente von AutorInnen des Verlags bis hin zu den zahlreich abgebildeten Titelcovern, die auch optisch die Verlagsentwicklung nachvollziehbar machen, sind in höchstem Grade beeindruckend. Mit diesen Dokumenten wird sorgfältig verfahren, es wird viel zitiert und vorsichtig kommentiert. Zahlreiche Daten und Fakten helfen, nicht nur die Entwicklung dieses Verlags, sondern der ganzen Buchbranche besser zu verstehen. War es zunächst aus Kostengründen notwendig, hohe Auflagen von 50.000 Exemplaren und mehr zu produzieren (vgl. S. 77), konnten und mussten die Auflagen zur Gegenwart hin immer mehr sinken. Die Gründe liegen auf der Angebots- und der Nachfrageseite: Die Produktionsverfahren bis hin zu ‚book on demand‘ haben zu einem dramatischen Kostenverfall geführt, hingegen ist auch der Absatz etwa durch die Medienkonkurrenz und die konstant hohe Titelproduktion immer weiter zurückgegangen. Hierzu hätte man sich gern weitere und konkretere Ausführungen und Erläuterungen gewünscht, als sie etwa in dem Kapitel zur „geänderten Mediennutzung“ (S. 93 ff.) zu finden sind. Allerdings ist ein solcher Wunsch angesichts des Geleisteten auch etwas vermessen. Was vorliegt, ist beeindruckend genug, aber es regt aus diesem Grund eben auch zum Weiterdenken und hoffentlich dann zum Weiterforschen an.

Bereits die Konturierung unterschiedlicher Versuche, das Mitte des 20. Jahrhunderts neue Massenmedium Taschenbuch zu positionieren, ist hochinteressant. Einer Phase der massenhaften Verbreitung von Gedrucktem in der unmittelbaren Nachkriegszeit folgt die erfolgreiche Aufwertung: „Das Taschenbuch, als Arbeitsmittel der Akademiker verstanden und zum Ausweis echter Leserschaft gekürt, kann nun von einer neuen Lesergeneration gegen das repräsentative Buch in Stellung gebracht werden“ (S. 109). Der dtv mit seinem Verleger Friedrich versteht sich als Brückenbauer, ein Stück weit auch als Pädagoge: „Das Taschenbuch wird mit einer Vermittlungsfunktion betraut. Es soll die Welt der genuinen Leser und ‚richtigen Bücher‘ mit der Welt derjenigen verbinden, die bislang keinen Zugang zur ‚Buch- und Bildungswelt finden konnten oder gar abtrünnig geworden sind“ (S. 111). Auch optisch bemüht sich der dtv erfolgreich, Anspruch zu signalisieren, etwa indem der Schweizer Künstler Celestino Piatti für die Covergestaltung verpflichtet wird (S. 115). Das frühere Verständnis von einem Taschenbuch als Almanach oder Jahrbuch (S. 116) wird durch ein modernes ersetzt, das bereits in die Zukunft vorausweist – Kampmann zitiert hier Monika Estermann, die dem Taschenbuch eine „große[n] Speicherkapazität“ attestiert, die „in Richtung der späteren elektronischen Systeme“ deute (S. 117). Hier wäre interessant zu überlegen, welche Rolle das e-book in einer solchen Genealogie spielt.

Die zahlreichen interessanten Ausführungen zur Entwicklung des Verlags und ganz konkret zur Reihengestaltung etwa bei sogenannten Klassikern oder Texten der Gegenwartsliteratur, wobei hier wieder zwischen Belletristik und Sachbuch zu unterscheiden ist, können an dieser Stelle nicht rekapituliert werden, allen, die sich dafür interessieren, sei diese informative Studie nachdrücklich ans Herz gelegt.

In einem letzten umfangreichen Teil versucht die Arbeit durch eine statistische Auswertung von zwei wichtigen Lexika internationaler Literatur – des „Kindler“ und des „Wilpert“ in ihren verschiedenen Auflagen[6] – einen Zusammenhang zwischen Programmpolitik und Kanonisierungsgrad zu belegen, hier wird sogar noch als Vergleichsgröße das Taschenbuchprogramm des Suhrkamp-Verlags herangezogen. Es wird nicht erstaunen, dass ein substantieller Bestandteil – bis zu einem Drittel der in bestimmten Zeitabschnitten verlegten Titel – im „Kindler“ und im „Wilpert“ verzeichnet sind; in zumindest einem der beiden Nachschlagewerke ist dann sogar der größte Teil der verlegten AutorInnen angeführt, wenn auch nicht unbedingt mit dem verlegten Titel. Was das für die Kanonisierungspraxis bedeutet, ob Verlage wie dtv oder Suhrkamp auf die Kanonisierung so nachhaltig wirken, dass ‚ihre‘ AutorInnen in Lexika Eingang finden, oder ob das Verzeichnen in Lexika einen Ritterschlag bedeutet, der Türen in solchen Verlagen öffnet, oder ob es persönliche Kontakte gibt – das literarische Feld ist personell überschaubarer, als man generell annimmt; solche Fragen können auch von dieser Studie, von den hochinteressanten Ausführungen zu den persönlichen Kontakten v.a. von Heinz Friedrich einmal abgesehen, nur angedeutet werden. Man wünscht sich mehr Studien dieser Art, die „Kanonisierung als komplexen Prozess“ verstehen (S. 411) und grundlegende Informationen aufbereiten, um an prägnanten Beispielen Kanonisierungsprozesse genauer nachvollziehen zu können.

Stefan Neuhaus, 12.03.2012
Stefan.Neuhaus@uibk.ac.at



[1] Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2001 (stw 1539).

[2] Vgl. Renate v. Heydebrand [Hrsg.]: Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 1998 (Germanistische Symposien-Berichtsbände, 19).

[3] Vgl. Renate v. Heydebrand u. Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn u.a.: Schöningh, 1996 (UTB, 1953).

[4] Vgl. Christine Magerski: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. Tübingen: Niemeyer, 2004 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, 101).

[5] „Herrn Bs poetischer Genius hat diese Stimmen keineswegs zu fürchten, und es wird bloß auf etwas mehr Studium schöner Muster und etwas mehr Strenge gegen sich selbst ankommen, daß auch sie mit vollem Herzen das Prädikat unterschreiben, das ihm, ohne sie, erteilt worden ist.“ Vgl. Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte, nach dem Abdruck bei Zeno.org (abgerufen am 08.01.2012).

[6] Die neusten Auflagen sind: Heinz Ludwig Arnold [Hrsg.]: Kindlers Literatur Lexikon (KLL). 3., völlig neu bearbeitete Auflage. 18 Bände inkl. Registerband. Stuttgart: Metzler 2009; Gero von Wilpert [Hrsg.]: Lexikon der Weltliteratur. Deutsche Autoren A–Z. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch nach Autoren und anonymen Werken. 4., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: Kröner, 2004.