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„Warum ich kein Kritiker wurde“

Friedrich Christian Delius bilanziert sein Leben im Literaturbetrieb. Von Marc Reichwein

 

Friedrich Christian Delius: Als die Bücher noch geholfen haben. Biografische Skizzen. Berlin: Rowohlt, 2012. 298 S. ISBN 978-3871347351. Preis: [A] € 19,50

 

1966, im Bus nach Princeton, der Showdown: Es kommt zum „Augenduell“ mit Erich Fried. Den hatte Delius in der Weltwoche verrissen: „Frieds Fiasko“. Und nun fahren beide zum Treffen der Gruppe 47. Delius wird mulmig, wie durchdringend Fried ihn ins Visier nimmt: „Zwei oder drei Sekunden, die Augen hinter der schwarzen Brille ließen nicht locker. […] Ich sah diesen Augen an, dass sie mich durchschauten, […] den ängstlichen, ehrgeizigen Jüngling, der ich war. […] Wer bist du denn, ein Urteil zu fällen?“ (S. 34 ff.)

Ob dieses Schlüsselerlebnis für Friedrich Christian Delius tatsächlich der Auslöser war, nie wieder Kritiken zu schreiben? Die Episode zeigt auf jeden Fall, dass der Literaturbetrieb im Zweifelsfall in einen Bus passt – und immer für eine Anekdote gut ist. Wie unterhaltsam und prägnant persönliche Einblicke in Prozesse, Strukturen und Akteure des literarischen Feldes geraten können, wissen wir seit Fritz J. Raddatz’ Erinnerungen in Unruhestifter (2003) und den Tagebüchern (2010).

Als die Bücher noch geholfen haben – fast nostalgisch hat F.C. Delius, wie er sich früher fußballselig abkürzte, seine biografischen Skizzen betitelt. Will hier einer seiner Ernüchterung Ausdruck verleihen? Kann man nach fast 50 Jahren Teilhabe im Literaturbetrieb noch „Literaturidealist“ sein? Also jemand, „der an die Literatur glaubt, an ihren Nutzen für Herz und Verstand, an Literatur als unendlichen Speicher von Erfahrung und Erinnerung, als ein allzeit verfügbares Lebensmittel zur Erheiterung, Horizonterweiterung und Stärkung des Ichs“ (S. 16)?

Schriftsteller, Büchnerpreisträger zumal, werden oft ausschließlich als Schriftsteller wahrgenommen. Dass sie in früheren Lebensphasen – schon aus Gründen des Lebensunterhalts – selten ‚nur’ Schriftsteller waren, blendet man gerne aus. Delius’ Literaturbetriebsvita präsentiert sich exemplarisch, weil er verschiedene Rollen innehatte: Seit 1963 als Student in Kontakt mit Klaus Wagenbach, wurde er in dessen Verlag später Lektor (1970-73) und gründete mit Kollegen wiederum später den Rotbuch-Verlag, wo er weitere fünf Jahre als Lektor arbeitete. Daneben ging er seinen literarischen Weg, nahm als Lyriker an Treffen der Gruppe 47 teil, geriet ab 1966 in die Zeitläufte der politischen Studentenbewegung.

Seine biografischen Skizzen hat Delius in vier große Kapitel gegliedert: Zuerst schildert er seine Zeit als „Hilfslektor“ und Jungdichter bei Wagenbach. Zu den atmosphärisch dichtesten Passagen des ganzen Buches gehört das Protokoll seiner Teilnahme in Princeton. Es ist das Treffen der Gruppe 47, das Peter Handke berühmt machen wird. Berührend auch Delius’ fast noch ehrfürchtiges Erleben der großen Kritiker und Intellektuellen: Kapitelüberschriften wie „Der Montag, an dem ich mich in Frau Sontag verliebte“ formulieren zudem verschmitzte Reminiszenzen an das eigene Œuvre. Überhaupt muss man Als die Bücher noch geholfen haben (wie schon Delius’ lexikalischen Leitfaden Warum ich schon immer recht hatte) literaturwissenschaftlich als Paratext lesen: Eine Veröffentlichung, mit der ein Autor werkbegleitende Akzente für seine Positionierung im literarischen Feld setzt. Delius, das macht seine Sache nicht selbstgerecht, wirkt dabei stets bescheiden, er schildert nüchtern, ironisch, manchmal allenfalls einen Tick zu umständlich im Dienst der Sache – und die wäre: allzu einfache Erkenntnisse der Literaturgeschichte differenziert wissen zu wollen. Mal geht er mit der mediengerechten Rückschau auf 1968 ins Gericht (S. 79). Mal kritisiert er, dass „Hunderte von Germanisten und Journalisten die Legende vom ‚Tod der Literatur’ im ‚Kursbuch’ ungeprüft weiterstricken“ (S. 88).

Eine zweite Sektion des Buches gibt anschauliche Einblicke ins Verlagswesen, namentlich Wagenbach und Rotbuch, wo Delius als Lektor tätig war, und wo nach 1968 Modelle der kollektiven Mitbestimmung ausprobiert wurden, wie sie dem Zeitgeist entsprachen (vgl. Stefan Neuhaus über den „Aufstand der Lektoren“ im Hause Suhrkamp). Die Nähe des Wagenbach-Verlags zur RAF hat Delius stets kritisch gesehen; er weiß aber auch selbstkritisch um seine trotzdem „windelweiche Haltung“ von damals. Im Zweifel, so Delius, war man eben links. Deutlich wird indes, wie sehr Literaturgeschichte immer auch Literaturbetriebsgeschichte ist. Ohne die Erfahrung, dass es bei Wagenbach zeitweilig „Meinungsfreiheit für die RAF“ und „Meinungsverbot für ihre Kritiker“ gab, hätte er, Delius, wahrscheinlich „nicht genügend Zorn, Gelassenheit und Energie“ gehabt, um seine Romantrilogie Deutscher Herbst zu schreiben (S. 122 / 154).

Unter dem Rubrum „Literatur vor Gericht“ erörtert Delius ausführlich die Facetten der beiden langwierigen Prozesse, die er als Schriftsteller mit dem Siemens-Konzern und dem Kaufhausunternehmer Helmut Horten auszutragen hatte. Hier gerät der Band dann allerdings doch arg seminaristisch, didaktisch, detailverliebt. Die juristischen Feinheiten können vielleicht literaturwissenschaftlichen Fachstudien einen Fundus bieten? Wichtig für den Normalleser bleibt a) die – nicht neue – Erkenntnis, dass Literatur nur bedingt justiziabel ist. Und b) Delius’ Hinweis, dass juristische Konflikte um die Literatur leider trotzdem mit ökonomischen Kosten und Polisierungsstrategien einhergehen. Mentalitätsgeschichtlich dürfte die Dokumentarsatire Die Siemens-Welt (1972) ein Stück jener Transparenz antizipiert haben, die seit den 1990er Jahren zum guten Ton vieler Unternehmen gehört, wenn sie Historikerkommissionen mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte beauftragen.

Der vierte und letzte Teil des Buches fällt dann wieder erzählerischer aus. In den „Mauer-Unterwanderungen“ schildert Delius viel kleinen Grenzverkehr, der sich aus der bizarren Situation ergab, dass manche DDR-Autoren nur in BRD-Verlagen veröffentlichen konnten, es aber nicht ohne weiteres durften, weil Stasi und diffizile Lizenzrechte im Weg standen. Als Lektor ebnete Delius unter anderem Heiner Müller und Thomas Brasch den Weg in den Westen, darüber hinaus machte er sich für osteuropäische Stimmen wie Lew Kopolew, Miklós Haraszti oder Herta Müller stark. Die Geschichte der solidarischen Beziehungen zwischen den kritischen Autoren und Publizisten des Westens und den Dissidenten beziehungsweise zensierten Autoren des Ostens ist, wie Delius treffend bemerkt, ein bislang weitgehend ungeschriebenes Sozialkapitel der jüngsten deutschen Literaturgeschichte.

Alles in allem eine exemplarische Lektüre durch ein individuelles literarisches Leben, von der Studentenbewegung bis zur Wende. Delius breitet es unter dem heimlichen Leitmotto „Unterhaltung und Belehrung“ (S. 237) vor uns aus. Eine hübsche Beigabe stellen die zwei Dutzend Fotos dar; besonderen Eindruck macht Susan Sontag (S. 55), rauchend zwischen Walter Höllerer (von der Seite fast wie Sarkozy), und Enzensberger (wie ein ordentlich gekämmter Robert Stadlober).

Bleibt die Frage nach dem Personenregister. Es gibt eines, aber nicht im Buch, sondern exklusiv auf der Homepage des Autors. Ist dieses Outsourcing eine Verlegenheitslösung oder Strategie? Auf jeden Fall ein Manko für den Leser! Da haben, um Delius beim Wort zu nehmen, Bücher beim Nachschlagen schon mal mehr geholfen.


Marc Reichwein, 12.03.2012
marc_reichwein@yahoo.de