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Instrumente der Bezauberung

Jürgen Egyptien und Ulrich Keicher erinnern in bibliophilen Veröffentlichungen an den Kritiker Albrecht Fabri, dessen 100. Geburtstag im vergangenen Frühjahr zu begehen war. Von Michael Pilz

 

Den Kritiker und Essayisten Albrecht Fabri (1911–1998) einen verschollenen Autor zu nennen, erscheint beinahe schon makaber angesichts der Tatsache, dass sein Nachlass zu den zahllosen Archivalien zählt, die beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs vom März 2009 im Wortsinne „verschütt gegangen“ sind: Sinnfälliger als durch die Vernichtung des Archivs, das seine schriftstellerische Hinterlassenschaft verwahrt, ließe sich die Tilgung eines Autors aus dem Gedächtnis der kulturellen Überlieferung wohl kaum ins Bild setzen – doch ist zumindest im Falle Fabris der Konjunktiv „ließe“ insofern angebracht, als man vor Ort sichtlich darum bemüht ist, die Erinnerung an den Schriftsteller keineswegs jenem Orkus in Gestalt eines mit Betontrümmern angefüllten Kraterlochs überantwortet zu lassen, das sich vor knapp drei Jahren so unvermittelt in der Kölner Innenstadt aufgetan hatte. Zwar war noch im Februar 2011 nicht wirklich abzusehen, in welchem Umfang „Bestand 1651“ (so die Archiv-Signatur des Fabri-Nachlasses) überhaupt für die Nachwelt gerettet werden kann, doch ließ sich die Stadt Köln dadurch nicht beirren, den 100. Geburtstag des Autors mit mehreren Veranstaltungen zu begehen, zu denen neben einer „Hommage“ durch das Historische Archiv auch eine Ausstellung in der Zentralbücherei der Stadtbibliothek zu zählen war.

Die überregionale Presse freilich hat – mit Ausnahme eines kurzen Berichts der Frankfurter Allgemeinen Zeitung[1] – keinerlei Notiz von Fabris rundem Jubiläum genommen, dessen Feier mithin vorrangig ein Kölner Lokalereignis geblieben ist. Und dies, obschon elf Jahre zuvor das Erscheinen der inzwischen längst vergriffenen Gesammelten Schriften Albrecht Fabris beim Buchversand Zweitausendeins in den Feuilletons mehrerer  so genannter Qualitätszeitungen mit einhelliger Anerkennung begrüßt worden war.[2] Indes: das Gedächtnis der Presse ist kurz, und die seinerzeitige Neuentdeckung eines echten Klassikers der deutschsprachigen Kritik scheint über den momentanen Ereigniswert hinaus kein weiteres feuilletonistisches Interesse nach sich gezogen zu haben.

Dass sich wenigstens die zünftige Germanistik nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen muss, Albrecht Fabri gänzlich zu ignorieren, ist vor allem das Verdienst des Aachener Literaturwissenschaftlers und ausgewiesenen Fabri-Kenners Jürgen Egyptien, der pünktlich zum 100. Geburtstag des Autors seinen Essay Albrecht Fabri als Essayist. Eine Tautologie vorgelegt sowie zwei bislang unveröffentlicht gebliebene Typoskripte des Kritikers über Kunst und Obszönität aus den 1960er Jahren ediert hat. Beide Bändchen sind im Kleinverlag des Antiquars Ulrich Keicher erschienen, der abseits der allgemeinen Literaturbetriebsamkeit im schwäbischen Dorf Warmbronn den Begriff des „Bücher-Machens“ noch ganz wörtlich nimmt und ebenso ambitioniert wie unbeirrt in die Tat umsetzt. Zum Glück – auch für Fabri – gibt’s die Provinz.

Ort und Aufmachung der wohlfeilen Bändchen sind einem „Geheimtipp“ (als der Fabri schon immer gegolten hat) durchaus angemessen. In einer Auflage von jeweils nur einigen Hundert Exemplaren sind die gerade mal etwas mehr als zwei Bogen starken Hefte in ihren bunten Broschuren bibliophile Kostbarkeiten aus einem Guss: „Erschienen zum 20. Februar 2011, dem 100. Geburtstag von Albrecht Fabri, in einer Auflage von 300 Exemplaren. Gesetzt, gedruckt und gebunden in den Werkstätten des Verlags“ heißt es jeweils im Impressum, und mit Ausnahme der Jubiläumswidmung gilt diese bibliographische Notiz auch für den größten Teil der übrigen Veröffentlichungen in Ulrich Keichers kleinem, feinem Verlagsprogramm für Kenner und Liebhaber, in dessen Rahmen sich Albrecht Fabri in bester Gesellschaft befindet: Wer sich auf die Nebenwege der deutschen Literaturgeschichte vorrangig des 20. Jahrhunderts begibt, wird früher oder später auf Keichers Hefte stoßen, hinter deren Buntpapierumschlägen sich Essays über den in jungen Jahren an den Nazis zerbrochenen Autor Eugen Gottlob Winkler (1912–1936) ebenso finden,[3] wie eine Darstellung über Die vergessene Revolution der Lyrik in den 1950er Jahren (letzteres ein Rubrum, unter dem Michael Braun Vier Außenseiter der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zusammenfasst: die im Kielwasser Gottfried Benns schreibenden Dichter Rainer Maria Gerhardt, Werner Riegel, Alexander Xaver Gwerder und Bernhard Koller – allesamt gründlich vergessene Autorenpersönlichkeiten der unmittelbaren Nachkriegszeit, deren erstaunlich eigenständigen Stimmen erneut Gehör zu schenken der Leser auf sympathische Weise eingeladen wird).[4]

Von und über Albrecht Fabri hat Keicher gegenwärtig sechs Hefte im Programm: Außer den beiden erwähnten Neuerscheinungen zum 100. Geburtstag noch den Briefwechsel zwischen Fabri und Erhart Kästner (der den Kritiker 1959 für den Bremer Literaturpreis vorgeschlagen hatte); einen kunstkritischen Text Fabris zu Kugelschreiberzeichnungen des Malers Rolf Sauerwein; Jürgen Egyptiens persönliche Gespräche mit dem Kritiker, die er wenige Jahre vor dessen Tod geführt hat, sowie die ebenfalls von Egyptien besorgte Fabri-Auswahl Das Komma als Hebel der Welt mit einigen Rezensionen aus den Jahren 1948 bis 1953 und einem weiteren Essay des Herausgebers, in dem er insbesondere der Nähe von Fabris Positionen zum kulturkritischem Denken Theodor W. Adornos nachspürt.

Diese – von Adorno selbst erkannte und höflich bekundete – Nähe, die sich nach der Veröffentlichung von Fabris Besprechung der Minima Moralia im Jahr 1952 sogar in einer (allerdings abgelehnten) Einladung zur Mitarbeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung niederschlug, verdankte sich in erster Linie Fabris Positionierung im literarischen Feld der frühen 1950er Jahre, das sich in Hinblick auf die gruppenbildende Kraft intellektueller Leitfiguren u. a. durch die dichotomische Konkurrenz zwischen einer Gottfried-Benn- und einer Bertolt-Brecht-Fraktion kennzeichnen ließ. Als Wortführer einer „absoluten“ Kunst, die sich jedem unmittelbar politischen Engagement verweigerte, stand Fabri nicht nur konsequent im Lager der ersteren (was u. a. zu einer wörtlichen Bezugnahme Benns auf den Kritiker in seiner Marburger Rede über Probleme der Lyrik von 1951 sowie einer äußerst skeptischen Behandlung in Alfred Anderschs Essay Die Blindheit des Kunstwerks von 1956 führte); sondern Fabris Haltung traf sich eben auch mit Adornos Kritik an der Kulturindustrie, deren vereinnahmenden Tendenzen sich jeder ernst zu nehmende Künstler möglichst zu entziehen habe. Im Übrigen – so Fabri in seinem Essay Der Kunst einen Sinn erfinden von 1949 – sei ein Kunstwerk „weder ein Hammer noch eine Pervitintablette. […] Dem Kunstwerk eine Funktion erfindend, endet man immer damit, es in seiner Funktion als Kunstwerk aufzuheben.“ (GS, S. 472). Was bei Adorno als die konstitutive „Negativität des Kunstwerks“ definiert wird, mündet bei Fabri somit in die zu gleichen Teilen humorvolle wie ernst gemeinte Mahnung, echte Literatur nicht etwa mit Kochbüchern zu verwechseln. Denn:

 „Gemeinhin liest man, indem man über den Rand des Buches hinwegschielt: eben die rechte Art, ein Kochbuch zu lesen. Auf ein Kochbuch gibt es eine Nutzanwendung mit Feuer und Pfanne. Ein Kochbuch dient zu etwas, es folgt aus ihm etwas, es enthält eine Lehre. – Nehmen Sie bitte dieses Kochbuch im weitesten Verstand symbolisch.“ (GS, S. 472)

Kaum zu übersehen ist der Zusammenhang von Fabris literaturkritischer Argumentation mit seiner apologetischen Haltung gegenüber der modernen Abstraktion in den bildenden Künsten –  nicht zufällig war Fabri über Jahrzehnte hinweg nicht nur als Literatur-, sondern vor allem auch als Kunstkritiker tätig, der sich u. a. für einen wichtigen Vertreter des Informel, den Maler Hann Trier (1915–1999), eingesetzt hat. Auch im Essay Der Kunst einen Sinn erfinden ist es schließlich die Malerei, die zum Exempel der theoretischen Reflexion wird:

 „Jemand taucht den Pinsel ein, und aus einem braunen und einem grünen Kontur, denen ein wenig verlaufendes Schwarz sekundiert, entsteht ein Instrument der Bezauberung. In dieser Bezauberung, in der der Gegensatz zwischen Warum und Wozu ebenso in eins läuft, wie alle anderen Gegensätze, ist die Kunst zu Hause und bei sich selbst; in allen übrigen Wirkungen, zu denen sie sich gebrauchen läßt, ist sie sozusagen nur auf Besuch.“ (GS, S. 472)

Jürgen Egyptien weist zu Recht darauf hin, dass sich Fabris am Beispiel der bildenden Künste sowie der Musik geschulter Formalismus freilich nicht ganz friktionsfrei auf das Gebiet der Literatur übertragen ließ, wo er zwangsläufig in Widerspruch geraten musste

„[…] mit der nicht aus der Welt zu schaffenden Tatsache […], dass die Literatur eine, wie er [Fabri] einmal bedauernd konzediert, ‚semantisch durch Bedeutung verseuchte‘ Kunst ist. Da er [Fabri] anders als der Dadaismus, Lettrismus, die Konkrete Poesie oder Oulipou das Wort als intakten Baustein der dichterischen Sprache nicht preiszugeben bereit ist, fokussiert er sich auf die Literatur, die seinem Sprachideal am nächsten kommt.“ (Egyptien: Albrecht Fabri als Essayist. Eine Tautologie, S. 27)

In der Literaturgeschichte waren dies u. a. Novalis und Edgar Allan Poe (mit seiner Philosophy of Composition) sowie die französischen Symbolisten um Mallarmé; in der damaligen Gegenwartsliteratur v. a. die nach 1945 bereits alt gewordenen oder schon verstorbenen Exponenten eines Traditionsstrangs der Klassischen Moderne, der von Stefan George und Gottfried Benn bis James Joyce und Paul Valéry reicht, aber auch den Sprachpuristen Karl Kraus mit einschließt – letzteren als einen herausragenden Vertreter all jener „von der Sprache Besessenen, die obsessiv jedes Komma dreimal umwenden, bevor sie es platzieren.“ Gegenüber diesem relativ schmalen und streng auswählenden Kanon ästhetischer Gewährsleute – so Egyptien – musste ein großer Teil der Gegenwartsliteratur und vor allem auch der modernen Prosa von Alfred Döblin bis Wolfgang Koeppen in Fabris literaturkritische Praxis „einen blinden Fleck von ozeanischem Ausmaß“ bilden (Albrecht Fabri als Essayist. Eine Tautologie, S. 28).

Nicht zu unterschätzen bleibt jedoch Fabris Fähigkeit, den Blick seiner Leser für die Bedeutung des Formalen als einer wesentlichen sinnstiftenden Qualität künstlerischer Texte zu sensibilisieren – und zwar schon lange vor dem Erscheinen später so bekannt gewordener Plädoyers für das Primat der Form wie etwa Susan Sontags Essay Against Interpretation von 1964. Aus produktionsästhetischer Sicht eröffnete Fabris konsequenter L’art-pou-l’art-Formalismus nicht zuletzt auch eine emanzipatorische Dimension, die sich aus dem Autonomie-Anspruch der Kunst wie des Künstlers selbst ableiten ließ:

 „Für Fabri besteht die ‚politische‘ Funktion des Schriftstellers ausschließlich darin, korrekte, d. h. kunstvolle Sätze zu schreiben. […] Die Macht des Schriftstellers liegt in der Konzentration auf seine Ohnmacht, d. h. auf sein Ohne-Macht-Sein als der eigentlichen Alternative zur Macht. […] [Er] definiert die Stellung des Geistes […] als das Exterritoriale schlechthin. Der echte Künstler ist daher ein existentiell notwendiger Nonkonformist, der sich untreu würde, wenn er sich auf das Parkett des Politischen begäbe.“ (Egyptien: Ein Wünschelrutengänger des richtigen Worts. In: Fabri: Das Komma als Hebel der Welt, S. 33 f.).

Gerade dieses Beharren auf der Notwendigkeit künstlerischer Autonomie hat Fabri denn auch immer wieder zu implizit politischen Stellungnahmen veranlasst, sobald er Freiheit und Unabhängigkeit des künstlerischen Feldes durch heteronome Einflussnahmen gefährdet sah. Ein eindrückliches Beispiel liefert sein Text Der Zensor von 1964, der anlässlich einer Podiumsdiskussion über vorgeblich obszöne Gemälde des Künstlers Erwin Bechtold im Kölnischen Kunstverein entstanden war, und der seinen Gegenstand (eben den Zensor) mit entlarvender Treffsicherheit definiert als einen „Dauerkonsumenten pornographischer Literatur mit einem roten Telefon!“ Das heißt als einen Mann,

„[…] der darf, was andere nicht dürfen und wovor er sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu bewahren versucht, obwohl sie gar nicht davor bewahrt werden wollen. Ein typischer Fall von Altruist also: ein Mann, der andern in der Nase bohrt.“

Für den Kritiker blieb nach dieser Feststellung nur noch eine Frage offen, nämlich:

„Wer schützt eigentlich den Zensor vor den verderblichen Einflüssen dessen, das er wegen verderblicher Einflüsse verbietet? Er selber, weil er sittlich gefestigt ist, oder […] eine höhere Macht? Wie er freilich Anstoß nehmen kann, wenn er nicht sittlich gefährdet sondern gefestigt ist, bleibt ein Rätsel. Fazit: der Zensor ist ein absurder Bluff.“ (Fabri: Kunst und Obszönität, S. 10 f.)

Mit Pierre Bourdieu gesprochen, erweisen sich Fabris geschliffene Reflexionen über die Autonomie der Kunst als pointierte Plädoyers für die strikte Einhaltung der Feldgrenzen im Sinne der „reinen Produktion“, die auch für die Praxis des Kritikers eine vorrangig formalistisch-werkimmanent orientierte Methodik einfordert – stets mit dem Anspruch verbunden, selbst formal elaborierte Texte von literarischem Rang zu produzieren:

„Ein Porträt ist in erster Linie nicht ähnlich oder unähnlich, sondern ein Bild. Analog ist eine Kritik in erster Linie ein Stück guter oder schlechter Prosa. Eine Literatur über die Literatur“

heißt es z. B. in Fabris Essay Zur Theorie der Kritik, den Sascha Michel 2008 sogar in seine Reclam-Anthologie mit ausgewählten Texten zur Theorie der Literaturkritik aufgenommen hat, und der auch Ansätze zu einer rezeptionsästhetischen Theorie der Lektüre-Erfahrung enthält, als deren subjektiver Ausdruck jede künstlerische Kritik (ganz im Sinne von Roland Barthes) zu verstehen wäre:

„Kritik kann […] nicht […] umhin, ihren Gegenstand mit anderen zusammenzusehen. Jedes neue Bild bittet gleichsam die schon vorhandenen, ein wenig zusammenzurücken; der Blick, mit dem man sie betrachtete, wird durch das neue Bild sozusagen justiert. Schönberg verändert Bach; nach der Lektüre von James Joyce ist die Odyssee nicht mehr dieselbe. Reine Kritik wäre also eine reine Abstraktion? Sie kommt ebensowenig vor, wie die Strukturmodelle eines Lehrbuchs der Kristallographie vorkommen. Es gibt sie, insofern es sie nicht gibt. Auch den Menschen, das Reh, die Palme gibt es ja nicht.“ (GS,  S. 49)

Zu Lebzeiten stets abseits der tonangebenden strukturalistischen oder poststrukturalistischen Zirkel und Schulen stehend und bis zuletzt eher ein Außenseiter als ein prägender Akteur im kulturellen Gesellschaftsspiel der Bundesrepublik Deutschland, hielt der Einzelkämpfer Fabri in seinen souverän formulierten Texten immer wieder erhellende Einsichten in die relationale Bedingtheit der künstlerischen Produktion parat, die bis hin zu einer Definition des Produzenten als Produkt des eigenen Werkes reichen und sich damit noch heute als erstaunlich anschlussfähig an den aktuellen Theorie-Diskurs mit seiner primär konstruktivistischen Perspektive auf das Literatursystem erweisen.

In seinem instruktiven Geburtstagsessay über Albrecht Fabri als Essayisten schreibt Jürgen Egyptien etwa über dessen frühe Texte, die noch unter den rigiden Bedingungen des „Dritten Reichs“ entstanden waren und seinerzeit wohl kaum die ihnen gebührende Beachtung hatten finden können:

„Schon 1940 hatte Fabri in einer Rezension von Briefen Cézannes geschrieben, Beethoven sei ‚nicht minder ein Resultat seines Werks, wie das Werk ein Resultat ist seines Autors.‘ […] Analog heißt es an anderer Stelle: ‚Der Maler, der an einem Bild, arbeitet an einem Maler. Der Architekt, der ein Gebäude, konstruiert einen Architekten.‘ […] Erst das Produkt bringt den Produzenten hervor, oder allgemeiner: Die Ursache ist eine Wirkung der Wirkung. So ist auch das historisch Frühere in seiner Existenz vom historisch späteren abhängig: ‚Das Ältere gibt es erst, wenn es das Jüngere gibt.‘ […] Fabri exemplifiziert diesen paradoxen Gedanken an der Kunstgeschichte, wenn er schreibt: ‚Indem sich das Heute wandelt, wandelt sich nicht nur das Heute, sondern auch das Gestern. […] Die Vergangenheit wird von der Gegenwart hervorgebracht […].‘ Freilich wird damit nicht die Existenz des Früheren bestritten, wohl aber die Art, wie es dem Betrachter erscheint.“ (S. 18)

Wie Egyptien nachweist, reichen die Traditionsstränge, die Fabris Denken prägten, sowohl in die Gebiete ostasiatischer Philosophie, als auch auf seine Lektüre der Schriften Meister Eckhardts zurück, denen er bereits 1934 eine frühe Besprechung in der Zeitschrift Das Deutsche Wort  gewidmet hatte:

„Fabri verfolgt Meister Eckhardts Gedankengang bis zu jener ‚abgrundtiefen Paradoxie‘, die in der Formulierung, ‚dass Gott Gott ist, dessen bin ich eine Ursache‘, gipfelt. Die These, mit der menschlichen ‚Geschöpflichkeit eigentlich erst sei Gott gesetzt worden‘, liefert Fabri auf dem Gebiet der mystischen Spekulation das Modell einer gedanklichen Figur, die in den Mittelpunkt seines ästhetischen Denkens treten wird. Wie hier im schöpfungsgeschichtlichen Kontext der vermeintliche Schöpfer als Geschöpf seines Geschöpfs sich erweist, so späterhin der Künstler als Produkt seines Kunstwerks […].“ (S. 7)

Was bei der Lektüre von Fabris Essays aus den 1930er und 1940er Jahren auffällt, die z. T. auch in die Gesammelten Schriften aufgenommen worden sind, ist vor allem ihr deutlich gewahrter Abstand zum seinerzeit üblichen Jargon der raunenden Wesenssucher, von deren angebräuntem Antiintellektualismus sich Fabri mit großer Souveränität fernzuhalten verstand. Analytische Schärfe und kritische Skepsis sind im Gegenteil bereits in den frühen Schriften als ein wesentliches Charakteristikum für Fabris intellektuelle Grundhaltung auszumachen, die er sich als form- wie gattungsbewusst schreibender Essayist auch unter widrigsten Bedingungen zu bewahren suchte – d. h. inmitten einer Umwelt, in der entsprechende Eigenschaften oft genug mit dem Attribut des „Zersetzenden“ belegt und schließlich durch das von Goebbels dekretierte Verbot der „negativen Kritik“ zu Gunsten einer „positiven Kunstbetrachtung“ kleingehalten wurden.

Dass Fabri in den späten 1930er Jahren eine Stellung beim Rundfunk mit der Begründung verlor, zu „intellektualistisch“ zu schreiben, verwundert vor diesem Hintergrund weit weniger als die Tatsache, dass er – der bekennende Nicht-Katholik – bis zuletzt im Schutz der katholischen Zeitschrift Hochland nicht nur weiter essayistisch tätig sein, sondern im Rahmen dieser Tätigkeit sogar betont anspruchsvolle Literaturkritik betreiben konnte (vgl. GS, S. 742 f.). Fabris Rezensionen liefern jedenfalls handfeste Beispiele sowohl für Ralf Schnells Charakterisierung des Hochland als eines jener „begrenzte[n] Foren einer zumindest distanzierten, wo nicht verdeckt oppositionellen Literatur und Essayistik“ im „Dritten Reich“,[5] als auch für Hans Dieter Schäfers These von der keineswegs flächendeckenden Wirksamkeit des Goebbels’schen Kritikverbots, das offenbar immer wieder Freiräume und Schlupflöcher für die Weiterexistenz eines ernst zu nehmenden literaturkritischen Schreibens jenseits aller platten Politpropaganda zuließ[6] – und sei es auch nur eines von Oben gewünschten Ventileffekts wegen, der zumindest gerade so lange toleriert werden konnte, als die Kritik strikt werkimmanent auf die Diskussion ästhetischer Fragen beschränkt blieb.

Als Beispiel muss an dieser Stelle ein Hinweis auf Fabris offen ablehnende Besprechung der Gesammelten Schriften seines älteren Kritiker-Kollegen Josef Hofmiller genügen, der eben erst mit erheblichem publizistischen Aufwand von der breiten Masse der stromlinienförmig agierenden „Kunstbetrachter“ nationalsozialistischer Observanz zu einem wahren Klassiker der deutschen Essayistik im 20. Jahrhundert aufgebaut worden war, und dem Fabri als einzige negativ wertende Stimme im lauten Chor der undifferenzierten Lobreden kurzerhand jegliche Meisterschaft abzusprechen wagte – auf der Basis einer streng formal-ästhetisch operierenden Argumentation, versteht sich (vgl. Versuch über Josef Hofmiller. In: GS, S. 625–633). Fabris im Hochland des Jahrgangs 1939/40 ausgesprochene Prophezeiung, dass sich Hofmillers Werk wohl kaum im ohnehin schmalen Kanon deutschsprachiger Literaturkritik werde halten können, hat sich jedenfalls ebenso bewahrheitet wie die allgemeiner gefasste Feststellung über Anspruch, Wert und Wahrnehmung literaturkritischen Schreibens in Deutschland, mit der er seine Besprechung eröffnete. Sie lautet lapidar: „Nur selten überlebt ein deutscher Kritiker seinen Tod“ (GS, S. 625).

Zumindest Albrecht Fabris Texte hätten verdient, zu den sprichwörtlichen Ausnahmen gerechnet zu werden, die diese Regel bestätigen. Archiv-Einstürze hin oder her.

 

Michael Pilz, 19.12.2011
Michael.Pilz@uibk.ac.at

 

Bibliographische Hinweise: Albrecht Fabri im Verlag Ulrich Keicher

Albrecht Fabri, Erhart Kästner: Das Wort ist Schlüssel. Texte und Briefe. Hrsg. von Christian Kugelmann. Warmbronn: Keicher, 2004. 36 S. ISBN: 3-932843-69-3. Aufl.: 300 Exemplare, Preis: € 12 ,-

Rolf Sauerwein: Die Hand ist klüger als der Kopf. Vier farbige Kugelschreiberzeichnungen mit einem Text von Albrecht Fabri. Warmbronn: Keicher, 2004. 16 S. Aufl.: 100 Exemplare, Preis: € 15 ,-

Albrecht Fabri: Das Komma als Hebel der Welt. Rezensionen und Porträts. Hrsg. und mit einem Essay von Jürgen Egyptien. Warmbronn: Keicher, 2007. 40 S. ISBN: 978-3-938743-37-9. Aufl: 300 Exemplare, Preis: €10 ,-

Jürgen Egyptien: Gespräche mit Albrecht Fabri. Warmbronn: Keicher, 2009. 28 S. ISBN: 978-3-938743-67-6. Aufl.: 300 Exemplare, Preis: € 10 ,-

Jürgen Egyptien: Albrecht Fabri als Essayist. Eine Tautologie. Warmbronn: Keicher, 2011. 36 S. ISBN: 978-3-938743-99-7. Aufl.: 300 Exemplare, Preis: € 12 ,-

Albrecht Fabri: Kunst und Obszönität. Mit einem Vorwort hrsg. von Jürgen Egyptien. Warmbronn: Keicher, 2011. 36 S. ISBN: 978-3-938743-98-0. Aufl.: 300 Exemplare, Preis: € 12 ,-

 

Anmerkungen:

[1] Vgl. Andreas Rossmann: Kölner Hommage an Albrecht Fabri. In: FAZ, Nr. 47 vom 25.2.2011, S. 34

[2] Vgl. Albrecht Fabri: Der schmutzige Daumen. Gesammelte Schriften. Hrsg. von Ingeborg Fabri und Martin Weinmann. Fankfurt/Main: Zweitausendeins, 2000. 758 S. (im Folgenden: GS). Dazu u. a.: Felix Philipp Ingold: Schreibarbeit als Exerzitium. Albrecht Fabris strenge Lektionen. In: NZZ, Nr. 148 vom 28.6.2000; Michael Kothes: Elefanten baden, Fische nicht. Albrecht Fabri und seine „Gesammelten Schriften“. In: Der Freitag, 22.9.2000; Hans-Peter Kunisch: Man kann nur als Tobsüchtiger anfangen. Im Taifunzentrum der Kunst: Der Feuilletonist Albrecht Fabri kann wieder entdeckt werden. In: Der Tagesspiegel, Nr. 17251 vom 3.12.2000; Heinz Ludwig Arnold: Was einleuchtet, ist verdächtig. Meister der kleinen Form: Albrecht Fabris gesammelte Schriften. In: FAZ, 18.6.2001.

[3] Eugen Gottlob Winkler zum 80. Geburtstag. Mit Abbildungen und einer Gedichtbeilage. Warmbronn: Keicher, 1992. 44 S. ISBN  3-924316-58-7; sowie: Kyra Stromberg: Ein uneingelöstes Versprechen. Über Eugen Gottlob Winkler. Warmbronn: Keicher, 2002. 12 S. ISBN  3-932843-34-1.

[4] Michael Braun: Die vergessene Revolution der Lyrik. Vier Außenseiter. Rainer Maria Gerhardt, Werner Riegel, Alexander Xaver Gwerder, Bernhard Koller. Warmbronn: Keicher, 2011. 32 S. ISBN 978-3-938743-97-3.

[5] Ralf Schnell: Dichtung in finsteren Zeiten. Deutsche Literatur und Faschismus. Reinbek: Rowohlt, 1998. (Rowohlts Enzyklopädie), S. 84.

[6] Vgl. Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewusstsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945. Ungekürzte Ausg. Frankfurt/Main: Ullstein, 1984, S. 98.