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Lob der Gegenwart

Über zwei neue Bücher von Richard Kämmerlings und James Wood

 

Richard Kämmerlings: Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit ’89. Stuttgart: Klett-Cotta 2011. 208 S. ISBN: 978-3-608-94607-9. Preis [A]: € 17,50

James Wood: Die Kunst des Erzählens. Mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann. Aus dem Englischen von Imma Klemm unter Mitwirkung von Barbara Hoffmeister. Reinbek: Rowohlt 2011. 240 S. ISBN: 978-3-498-07367-1. Preis [A]: € 20,60

 

Ein Loblied auf Literatur, die sich der Gegenwart annimmt: Das ist nicht neu, und auch der (meist undefinierte) „Realismus“ taucht immer wieder als Kriterium für gute Literatur auf,  öffentlichkeitswirksam und Debatten auslösend zuletzt im Manifest für einen Relevanten Realismus, das in der Zeit erschien.1 Die vier Autoren Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm forderten darin „relevante Narration“, der Roman habe eine „gesellschaftliche Aufgabe“: „Er muss die vergessenen oder tabuisierten Fragen der Gegenwart zu seiner Sache machen, er muss die Problemfelder, ob in lokalem oder globalem Kontext, in eine verbindliche Darstellung bringen.“

Mit einem solchen Leserinteresse scheint die Verlagsindustrie zu spekulieren, das zeigt ein Blick in die Prospekte und auf die Klappentexte der Neuerscheinungen, und die vier Autoren bringen die gewünschte Wirkung von Literatur mit ins Spiel, wenn sie schreiben: „Denn wir sehnen uns nach nichts mehr als nach Büchern, die uns ergreifen, und sei es gegen unsern Willen!“ Auch Juroren und Jurorinnen schlagen diesen Relevanz-Ton an, vor allem, wenn es um Buchpreise geht, die nicht einer Elite vorbehalten bleiben, sondern sich an die „Masse“ richten und für hohe Verkaufszahlen sorgen sollen, wie etwa der Deutsche Buchpreis, der 2005 genau dafür ins Leben gerufen wurde.

Nun singt auch Richard Kämmerlings, seit 2010 Leitender Redakteur im Feuilleton der Welt und Welt am Sonntag, das Loblied auf die Gegenwart. Und weil er nicht erklärt, was er außer der Forderung nach „aktuellen Stoffen“ mit „Gegenwart“ meint – Sätze wie „Denn Gegenwärtigkeit ist ein strenger Maßstab, dessen Skala gleichwohl ständig im Fluss ist“ (S. 12) und „Gegenwartsliteratur – das sind große Bücher von Hier und Heute“ (S. 28) helfen nicht recht weiter –, muss man wohl den Umkehrschluss ziehen: Gegenwärtigkeit meint jene Gegenwartsthemen der deutschsprachigen Literatur, die Kämmerlings als wichtige aktuelle Stoffe erkennt; gegenwärtig ist alles, was in Kämmerlings Buch (nach)erzählt wird. Welche Themen das sind, verrät das Inhaltsverzeichnis: Berlin, Krieg, Sex, West-Ost, Finanzkrise, die „soziale Frage“, Patchworkfamilien, Migration, Tod und Sterben.

In Sachen „Finanzkrise“ hatte Kämmerlings ja bereits 2008 der Literatur einen „exemplarischen Stoff“ empfohlen, in seinem Buch erinnert er wieder daran: „Darüber solltet ihr einmal schreiben.“ Den „deutschen Neuerscheinungen der letzten Jahre“ hat er kollektives Versagen vorgeworfen, „weil eben solche Gestalten, solche irren Storys und unglaublichen Plots, wie sie die Finanzwelt kennt, gerade nicht vorkommen.“ (S. 112) Zwei Jahre hätte, so Kämmerlings allen Ernstes, die direkte Reaktion auf seinen Beitrag auf sich warten lassen, bis dann im Januar 2010 Kristof Magnusson den Roman Das war ich nicht veröffentlichte. Sonderbarerweise sind die literarischen Werke, die Kämmerlings in diesem Kapitel des weiteren dann vorstellt, vor 2008 geschrieben, und auch ein Blick in Evelyne Polt-Heinzls Einstürzende Finanzwelten2 hätte ihm bei der Suche nach Literatur zu diesem Thema hilfreich sein können.

Das volle Programm der Gegenwart fordert Kämmerlings also. Es fehlen in seinem Inhaltsverzeichnis bloß die immer verspäteten Züge, die Atomkraft und andere Umweltkatastrophen, die Protestbewegungen und das Ausland und der Rest der Welt und noch dies und das, wenn denn mit Gegenwärtigkeit so etwas wie Zeitgenossenschaft und gesellschaftlich relevante Themen der Literatur gemeint sind. Aber mit der Relevanz ist das eben so eine Sache, und Kämmerlings meint mit Gegenwärtigkeit wohl vor allem auch die „Betroffenheit“, das „Sich-gemeint-Fühlen“ (S. 24). Das lässt sich besonders gut erkennen in jenem Kapitel, in dem er den Eingang der Patchworkfamilie in die Literatur moniert und dabei erzählend auf sein eigenes Leben zurückgreift, was er des öfteren tut. Kämmerlings war einmal junger Vater, Kämmerlings kennt die Probleme der Patchworkfamilie, Kämmerlings will daher in der Literatur davon lesen. Er wird schon recht haben, wenn er meint, dass Leser mit den Büchern, die sie lesen, nicht einfach die Zeit totschlagen wollen, sondern dass sie lesen wollen, was sich zu lesen lohnt. Jedenfalls gilt das für Literaturkritiker, die jeden Tag ein Buchpaket vor der Türe liegen haben und eh nicht wissen, was sie zuerst lesen sollen. Was das aber jeweils ist, das zu lesen sich lohnt, das wiederum dürfte bei jedem etwas anderes sein. Und nicht jeder sucht sich selbst und seine eigenen Probleme im Text.

Herta Müller hat in ihrem Essay In jeder Sprache sitzen andere Augen als „Kriterium der Qualität eines Textes“ folgende Frage angegeben: „kommt es zum stummen Irrlauf im Kopf oder nicht. Jeder gute Satz mündet im Kopf dorthin, wo das, was er auslöst, anders mit sich spricht als in Worten.“3 Auch Kämmerlings will, dass Literatur den Leser betrifft, berührt, wandelt, ja sogar angreift, ergreift und vielleicht auch verletzt (S. 17). Er steht auf „Change-Literatur“, für die er Peter Sloterdijk, nein: Rilkes Sonett zitiert – „Du musst Dein Leben ändern“ (S. 17) –, und kann sich in bester Tradition mit vielen wissen, wenn er hofft, dass Literatur auch etwas bewirken kann. Doch Herta Müller weiß, dass es auf die „Dichte der Stellen“ ankommt, dass es Worte und Sätze sind, die den „stummen Irrlauf im Kopf“ auslösen. Von Sätzen ist in Kämmerlings’ Argumentation aber selten die Rede.

Selbstverständlich weiß Kämmerlings um die Bedeutung der Form, und er erwähnt den Umstand auch ab und zu, sein Interesse gilt dennoch den Themen. Und so erzählt er einen Inhalt nach dem anderen und manchmal weiß man dann gar nicht mehr genau, schreibt er gerade von einem Autor oder einer literarischen Figur. Auch so – welch unabsichtliche ironische Volte – hebt sich Realität auf.

Für die Auswahl der in seinem Buch vorgestellten Romane (das Buch bietet tatsächlich eine Fülle an aktuellem Material zu den genannten Themen) scheinen ästhetische Fragen kein Unterscheidungskriterium gewesen zu sein, wie sonst könnte man sonst Judith Hermann unterschiedslos neben Thomas Lehr finden. Vielleicht erklärt eine gewisse Scheu vor der Auseinandersetzung mit literarischen Formen auch, warum keine Bücher von Peter Handke oder Elfriede Jelinek Eingang gefunden haben. Ihre „Gegenwärtigkeit“ ist sicher keine Frage des Alters – Kämmerlings nennt sie „moderne Klassiker“ (S. 202). Die These, dass in einem Buch über die Gegenwart der Literatur ein Autor wie Josef Winkler fehl am Platz sei (S. 202), wirft kein gutes Licht auf Kämmerlings Gegenwartsbegriff. Statt dessen hat Kämmerlings allerdings Clemens Setz, den Preisträger der Leipziger Buchmesse des Jahres 2011, für sich entdeckt und übt an ihm Superlative.

Auch in der Einleitung gibt es große Worte. Da geht es um „große Bücher“, da weiß einer genau, was Literatur „muss“ – woher kommt diese Selbstverständlichkeit, zu wissen, was Literatur muss, etwa dass das Historische immer auch eine „Vorgeschichte“ des Heute sein muss, „wie eine Krankheit oder ein Verbrechen eine Vorgeschichte haben“ (S. 15)? Und so rufen Kämmerlings’ Thesen zum Widerspruch. Etwa jene, dass, wem der Krieg persönlich fremd sei, sich seiner nicht als Thema annehme. (S. 72) Ja, was nun? Jeder schreibe nur über das, was er persönlich kennt? Und wenn sich Kämmerlings als ein Kenner der Frauen erweist – „Auch wenn Frauen das immer peinlich ist, weil sie es bei sich daheim grundsätzlich unordentlich und unaufgeräumt finden …“ (S. 82) – ach, lesen wir das fairerweise einfach als Ironie.

Da Kämmerlings seine Ausführungen über die deutschsprachige Literatur mit zahlreichen Beispielen aus der amerikanischen Gegenwartsliteratur streckt, darf es erlaubt sein, als ergänzende Lektüre zu seinem Buch zu James Woods Die Kunst des Erzählens zu greifen. Wood stellt darin seine These vor, dass erzählende Prosa sowohl Kunst als auch Wirklichkeit ist, und geht der Frage nach, wie sich beide Aspekte zusammenbringen lassen. Das tut er, indem er das Handwerkliche der Erzählkunst beleuchtet: Figuren, Metaphern, Details, Erzählperspektiven, Sprache, Dialog ... Zwar bedenkt er wenig Literatur der Gegenwart (und fast keine deutschsprachige), dafür schaut er umso genauer in die Texte und wie sie gebaut sind. Eine verständlich geschriebene und mit zahlreichen Beispielen gespickte Schule der Textwahrnehmung liegt damit vor, allen Studierenden und so manchem Literaturkritiker als Begleitlektüre wärmstens zu empfehlen. Weder ist die Literatur neu, auf die sich Wood bezieht, allem voran Gustave Flaubert, noch Woods Sichtweise, aber immerhin versteht da einer, dass es in der Literatur nicht nur darauf ankommt, was sie erzählt, sondern wie sie gebaut ist.

Wood weiß, dass er in der Zeit nach Roland Barthes denkt und schreibt und „Realismus“ daher auch ein System konventioneller Codes ist. Von einem naiven Realitätsbegriff hält er nichts. „Literatur bittet uns nicht, Dinge (in einem philosophischen Sinn) zu glauben, sondern sie uns (in einem künstlerischen Sinn) vorzustellen“ (S. 202). Realismus „kann bloße Wirklichkeitstreue, bloße Lebensechtheit oder Lebensähnlichkeit nicht sein,“ weiß Wood, „sondern etwas, das ich Lebendigkeit nennen muss: Leben auf der Buchseite, Leben, das durch höchste Kunstfertigkeit zu einer anderen Art Leben gebracht wird.“ (S. 211)

Deshalb untersucht Wood den „realistischen Roman“ auf seine Erzählweise hin – aber er betrachtet auch den Erfolg dieses Erzählmodells auf dem Markt: Das Konventionelle, so Woods nicht neue, aber deswegen trotzdem gültige These, wird durch Wiederholung immer konventioneller. Die Frage für die Kunst muss daher lauten: Wie kann man schreiben, ohne bloß zu reproduzieren?

Wood ließe sich darin gut ergänzen durch Carlos Fuentes, der in seinem Alphabet des Lebens schreibt: „Der Roman bekommt das Recht, die Welt zu kritisieren, wenn er zeigt, daß er zuerst einmal in der Lage ist, sich selbst zu kritisieren. Es ist die Kritik des Romans durch den Roman, in der sich sowohl der Kunstwerkcharakter als auch die gesellschaftliche Dimension zeigen.“4 

Dann müsste man aber mit so manchem Gegenwartsprodukt kritischer umgehen.

Brigitte Schwens-Harrant, 5.9.2011

b.schwens-harrant@gmx.at

 

Anmerkungen:

[1] Das „Manifest“ von Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm, sowie die Reaktionen von Kollegen darauf fanden sich unter dem Titel Was soll der Roman? in: Die Zeit, Nr. 26 vom 23.6.2005, S. 49–50. Nachträglich kommentiert in: Matthias Politycki: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft. Bestimmte Artikel. Hamburg: Hoffmann und Campe 2007, S. 102 ff.

[2] Evelyne Polt-Heinzl: Einstürzende Finanzwelten. Markt, Gesellschaft & Literatur. Mit einem Nachwort von Wolfgang Polt und 7 Illustrationen von Thomas Kussin. Wien: Sonderzahl 2009.

[3] Herta Müller: In jeder Sprache sitzen andere Augen. In: [Dies.]: Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verl., 2008, S. 7–39, hier S. 20.

[4] Carlos Fuentes: Woran ich glaube. Alphabet des Lebens. Aus dem mexikanischen Spanisch von Sabine Giersberg. München: Deutsche Verl.-Anst., 2004, S. 218 f.