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Das Buch in der Mediendiktatur

Christian Adam und Jan-Pieter Barbian liefern neue Beiträge zur Vermessung des gleichgeschalteten Literatursystems in Deutschland zwischen 1933 und 1945

 

Christian Adam: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Berlin: Galiani-Verl., 2010. 384 S. ISBN 078-3-86971-027-3. Preis [A]: € 20,60

Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im NS-Staat. Von der „Gleichschaltung“ bis zum Ruin. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch-Verl., 2010. 552 S. (Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Buchreihe) (Fischer Taschenbuch, 16306). ISBN 978-3-596-16306-9. Preis [A]: € 15,40

 

I.

In seinen richtungsweisenden Studien zur „deutschen Kultur und Lebenswirklichkeit“ während der Zeit des Nationalsozialismus hat der Regensburger Germanist Hans Dieter Schäfer bereits vor dreißig Jahren das Schlagwort vom Gespaltenen Bewusstsein geprägt, um die auf den ersten Blick unvermutete Koexistenz von nationalsozialistischer Ideologie auf der einen Seite und einer zumindest in Teilen nichtfaschistischen Literaturproduktion sowie einer mitunter erstaunlich weltläufigen Massenkultur auf der anderen Seite der reichsdeutschen Alltagswelt zu charakterisieren.1  Für Jan-Pieter Barbian, der gegenwärtig zweifellos zu den besten Kennern des literarischen Felds im nationalsozialistischen Deutschland zu zählen ist, hat Schäfer damit das wesentliche „Signum der Epoche diagnostiziert“ und „erstmals einen unverstellten Blick auf das kulturelle und literarische Leben der Jahre 1933 bis 1945 geöffnet".2  Mit einiger Verblüffung musste man nach der Lektüre von Schäfers Arbeiten feststellen, dass so manche Phänomene, die aus heutiger Sicht als moderne Errungenschaften einer nicht zuletzt von US-amerikanischen Einflüssen mitbestimmten Nachkriegszeit erschienen, tatsächlich bereits vor 1945 in Deutschland präsent gewesen waren, und dass die Linien, die zumindest die Massenkultur des „Dritten Reichs“ sowohl nach vorwärts mit der Bundesrepublik Deutschland als auch nach rückwärts mit der „Weimarer Republik“ verbanden, nicht in allen Fällen zwangsläufig durch radikale Brüche gekennzeichnet waren. Im Räderwerk der NS-Ideologie waren freilich auch die scheinbar unpolitischen Zeugnisse einer modernen Freizeit- und Unterhaltungskultur alles andere als zweckfrei, diente deren Zugeständnis seitens der Machthaber doch allenfalls dazu, von den realpolitischen Machenschaften abzulenken und zumindest den selbst nicht unmittelbar von Repression, Verfolgung und Ermordung bedrohten Bürgern des „Dritten Reiches“ die Scheinwelt eines „normalen“ Lebens vorzuspiegeln. Die Tatsache, dass die totale Einflussnahme des Staates – auch und gerade in der Kultur- und Literaturpolitik – bisweilen ihre Grenzen hatte und Schlupflöcher für scheinbar ideologiefreie Aktivitäten ließ, war mithin für die Zeitgenossen nur um den Preis einer allgemeinen Verdrängung von Terror und Massenmord zu erkaufen, die mit der Metapher einer kollektiven Schizophrenie treffend umschrieben scheint. Diese Erkenntnis kann man aus Schäfers Aufsätzen ebenso gewinnen wie diejenige, dass nicht alles, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland an literarischen und kulturellen Zeugnissen produziert und rezipiert werden konnte, intentional mit der NS-Ideologie konform gehen musste.

Christian Adam (geb. Härtel), der sich bereits mit Studien über Joseph Goebbels als Journalist und den NS-Autor Wilfrid Bade seinerseits als Kenner der Materie ausgewiesen hat,3 zeigt sich in seinem neuen Buch Lesen unter Hitler. Autoren, Leser und Bestseller im Dritten Reich sichtlich den Arbeiten Schäfers verpflichtet. Auch er geht nämlich von der Beobachtung aus, dass sich im Deutschland der Hitlerzeit „der Zeitgeist wie so oft widersprüchlich“ zeigte (S. 316). Mit Erstaunen seitens einer breiten Leserschaft, die Adam mit seiner durchaus um Popularität bemühten, flott und eingängig geschriebenen Studie offenkundig erreichen will, ist jedenfalls noch immer zu rechnen, wenn man – wie der Galiani-Verlag – im Klappentext die rhetorische Frage stellt:

Dass sich die Deutschen Mein Kampf millionenfach in die Bücherregale stellten, […] das erwartet man für diese Zeit. Doch wer hätte gedacht, dass man in den Dreißigern noch Huxleys Brave New World lesen konnte, […] dass ausgerecht Wind, Sand und Sterne von Antoine de Saint-Exupéry […] während des Kriegs ein großer Erfolg in Deutschland war und mitnichten verboten?

Freilich: Wer Schäfers Aufsätze kennt, wird keineswegs so überrascht darüber sein, dass z.B. spätestens bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 auch eine beachtliche Zahl an angloamerikanischer Literatur von Margaret Mitchells Gone with the Wind bis A. J. Cronins Arztroman Die Zitadelle auf dem deutschen Buchmarkt präsent war und sogar Bestsellerränge erreichen konnte. Insgesamt ist Adams Ansatz jedoch durchaus originell zu nennen: Anhand einer „virtuellen Bestsellerliste“ (S. 12) mit einer Auswahl an Titeln, die im „Dritten Reich“ eine Gesamtauflage von über 100.000 Exemplaren erreichten, versucht der Autor zu zeigen, welche Bücher unter dem Hitler-Regime „tatsächlich in großer Zahl gedruckt, gekauft und gelesen wurden“ (ebd.). Das Ergebnis seiner Nachforschungen, die sich auf eine Vielzahl verstreuter Quellen stützen,4 hat Adam in meistenteils recht aufschlussreichen Einzelporträts von Bestsellern und ihren Autoren niedergelegt, die in der Summe eine Art „Negativform“ zu der bislang zu Recht im Fokus des germanistischen Interesses stehenden Produktion des literarischen Exils ergeben sollten; mithin also

[…] das Gegenstück zur Geschichte der verbrannten und verbannten Bücher und Autoren, eine in jedem Fall spannende und vielleicht auch erhellende Geschichte vom Leben in einer Diktatur und im Idealfall an mancher Stelle sogar das Missing Link zu Erscheinungen des Buchmarktes jenseits der vermeintlichen Zäsuren von 1933 und 1945. (S. 14)

Der von Adam zugrunde gelegte Literaturbegriff ist dabei gewollt breit und offen gehalten: Insgesamt unterscheidet er zehn „Buchtypen“ (S. 12). Sie reichen von der im „Dritten Reich“ zu besonderer Beliebtheit gekommenen Form des fiktionalisierten Sachbuchs (das Paradebeispiel liefert Karl Aloys Schenzingers „Rohstoffroman“ Anilin) über das „Moderne Unterhaltungsbuch“ (Arzt-, Kriminal- und Science Fiction-Romane von Georg von der Vring oder Hans Dominik) bis hin zu Bestseller-Übersetzungen aus dem Ausland (neben den bereits erwähnten Büchern vor allem auch John Knittles Via Mala und die Bücher von Trygve Gulbransson). Die deutsche Humorproduktion (Heinrich Spoerl, Eugen Roth und Ehm Welk) bleibt ebenso wenig ausgespart wie Begleitbücher zum Radio-Wunschkonzert und Biographien des „NS-Jetsets“ (Elli Beinhorn-Rosemeyer: Mein Mann der Rennfahrer), populäre Zigarettenbilderalben oder Heftchenromane nach US-Vorbild (Sun Koh, der Erbe von Atlantis). Dass daneben auch die ideologisch infiltrierte Produktion von NS-Vorzeigeautoren wie Hanns Johst oder Hans Grimm (Volk ohne Raum), propagandistische Kriegsbücher wie Fritz Otto Buschs Narvik und Günter Priens Mein Weg nach Scapa Flow sowie schließlich die pseudoliterarische Produktion der Partei-Prominenz (Hitler: Mein Kampf; Goebbels-Reden) zu thematisieren waren, versteht sich von selbst. Insgesamt wird Adam dabei seinem Ziel gerecht, Buch- und Literaturgeschichte gleichsam ‚von unten‘ zu erzählen, indem nicht die literarische Qualität oder die Gattungs- und Genrezugehörigkeit der behandelten Werke zum Maßstab genommen wurden, sondern einzig und allein die realen Auflagenzahlen, von denen auf die tatsächliche Verbreitung der Verlagsprodukte in deutschen Bücherregalen und Bibliotheken geschlossen werden konnte. Adam gelingt es somit, eine Geschichte der „populären Lesestoffe“ zu schreiben, die für das Deutsche Reich zwischen 1933 und 1945 fortsetzt, was seit den 1970er Jahren im Grenzbereich von Germanistik und Volkskunde vor allem für das „lange“ 19. Jahrhundert unternommen wurde (erinnert sei nur an Rudolf Schendas grundlegende Arbeit Volk ohne Buch).5

Gerahmt wird dieser Kernteil der Studie durch instruktive Einblicke in die zeit- und buchmarktgeschichtlichen Hintergründe, die das literarische Feld in Deutschland nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten so grundstürzend verändert haben. Auch medien- und zensurhistorische Aspekte einer ideologisch gelenkten Literaturvermittlung bleiben dabei nicht ausgespart, wobei Adam manche Funde gelungen sind, die auf ihre Weise die schizophrenen Diskrepanzen in der Lebensrealität des Hitlerstaats zu illustrieren vermögen. Dazu gehört auch, dass die demonstrative Rückwärtsgewandtheit in der ideologischen Beschwörung von völkischen Traditionen und der mythischen Glorifizierung antizivilisatorischer Kategorien wie Blut und Boden mit einer technisch hochmodernen Medienrevolution in der Durchsetzung neuester Massenkommunikationsmittel einherging, für die Adam im Rahmen seines Gegenstandsbereichs ein besonders markantes Beispiel liefert. Gemeint ist die „vermutlich erste Fernseh-Buchbesprechung weltweit“ (S. 317), die im Juli 1939 durch die reichsdeutschen „Fernsehstuben“ flimmerte:

Hier musste mediengeschichtlich Neuland betreten werden, eine dem Buch angemessene Präsentationsform war zu finden. Schon diese erste Sendung griff Elemente auf, die bis heute eine TV-Rezension kennzeichnen: Ein Experte […] trat zu einem Gespräch über das Buch im Studio an. Im Vorspann wurde das Cover des Buches formatfüllend präsentiert. […] Auch die anderen Mittel der Fernsehdarstellung wurden erprobt: Sprecher und Studiogast hielten das Buch während des Gesprächs in der Hand und die Kameraperspektive wechselte von der Detailaufnahme zur Totalen und zurück. Sogar ein ‚Einspieler‘ wurde eingesetzt, damals als ‚Filmdurchgabe‘ bezeichnet, […] um den Inhalt des Buches zu illustrieren. (S. 317)

Allerdings wird, was isoliert betrachtet so modern und zukunftsweisend klingt, auf der inhaltlichen Ebene des Diskurses unmissverständlich in die Zeitgebundenheit der braunen Diktatur und ihre menschenverachtende Ideologie zurückverwiesen: Das besprochene Buch trug nämlich den Titel Die Judenviertel Europas, und bei den Szenen des „Einspielers“ handelte es sich um Filmaufnahmen aus einem ostjüdischen Ghetto. Adams Fazit: „Im Grunde zeigten sich hier bestimmte Aspekte der NS-Herrschaft in nuce: technisch avanciert, moralisch-menschlich verkommen“ (ebd.).
 

II.

Zu den Rahmenbedingungen, die die Literaturrezeption im „Dritten Reich“ maßgeblich steuerten, zählten zu allererst die obrigkeitlichen Zwangsmaßnahmen, die als Mittel der Literaturlenkung ein vormals blühendes literarisches Feld in eine strikt reglementierte Stoppelweide zu verwandeln versuchten – wobei die Betonung des einschränkenden Wortes „versuchten“ bei aller Vorsicht zumindest insofern am Platz erscheint, als trotz aller traurigen Austreibungs- und Ausrottungs-Erfolge, die die NS-Politik im Kampf gegen ihre Gegner und Opfer erzielen konnte, gerade im Bereich der kulturellen Teilfelder ein letztlich erstaunlicher Effizienzmangel in der ansonsten so effizient geplanten Durchsetzung eines totalitären Staatssystems konstatiert werden muss. Das von den Nationalsozialisten postulierte „Führerprinzip“ wurde hier jedenfalls in einem erheblichen, zum Teil auch von persönlichen Animositäten bestimmten Kompetenzgerangel zwischen staatlich-ministeriellen, parteiamtlichen, standespolitischen und polizeilichen Behörden, Ämtern und Dienststellen geradezu ad absurdum geführt. So versuchten etwa neben den beiden Hauptkontrahenten Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg u. a. auch die weitgehend von Goebbels abhängige Reichsschrifttumskammer, der Reichserziehungsminister Bernhard Rust, der NSDAP-Reichsleiter Philipp Bouhler als Leiter der Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums, die Deutsche Arbeitsfront unter ihrem Reichsführer Robert Ley sowie die Wehrmacht und die diversen Exekutivorgane aus der Einflusssphäre Heinrich Himmlers die deutsche „Schrifttumspolitik“ in ihrem jeweils eigenen Sinne mitzubestimmen respektive zu dominieren. Eine von Goebbels angestrebte reichseinheitliche Führung der Kulturpolitik hat es jedenfalls nie gegeben.

Wenn Hans Dieter Schäfer konstatieren konnte, dass neben den auf Gleichschaltung zielenden Zensur- und Terrormaßnahmen im literarischen Feld dennoch „ein gemäßigter Pluralismus als konstitutives Element der nationalsozialistischen Kulturpolitik bis zum Ende des Regimes erhalten“ bleiben konnte,6 war der Grund dafür nicht zuletzt in dieser strukturellen Konkurrenzsituation zu suchen, aus der sich auch Uneinigkeiten in der Bewertung der einzelnen, noch im Reich verbliebenen Autoren ergaben.7 In seinem Buch Lesen unter Hitler liefert Adam dazu einen kursorischen und leicht verständlichen Überblick, der die wichtigsten Institutionen der NS-Literaturpolitik vorstellt und im Wesentlichen eine referierende Zusammenfassung der Forschungsergebnisse von Jan-Pieter Barbian bildet (S. 15–44). Wer hierzu nähere, unmittelbar aus den Quellen geschöpfte Details erfahren will, um fortan die Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums nicht etwa mit der Reichsschrifttumsstelle im Propagandaministerium, der ebenfalls dort ansässigen Reichsschrifttumsabteilung oder gar der Reichsschrifttumskammer zu verwechseln, kann nun zu Barbians neuer Gesamtdarstellung Literaturpolitik im NS-Staat greifen, die nahezu zeitgleich mit Christian Adams Buch auf den Markt gekommen ist.

Im Kern handelt es sich bei diesem in Walter Pehles „Schwarzer Reihe“ erschienenen Band um eine grundlegende Neubearbeitung von Barbians Standardwerk Literaturpolitik im Dritten Reich, das zuerst 1993 im Verlag der Frankfurter Buchhändlervereinigung sowie zwei Jahre darauf als erweitertes Taschenbuch bei dtv erschienen ist. Vergleicht man das neue Buch mit der alten Studie, stechen zuallererst zwei Dinge ins Auge: der erheblich reduzierte Umfang (rund 550 statt über 900 Taschenbuchseiten in der dtv-Ausgabe) und die bedeutend übersichtlichere Gliederung des Materials. Im Rahmen einer überzeugenden Aufteilung in vier Hauptkapitel entwirft Barbian nun seine Anatomie des gleichgeschalteten literarischen Feldes im NS-Staat: Auf die Nachzeichnung des „Personen- und Medienwechsels“ im Übergang von der Republik zur Diktatur (1. Kapitel) mit einer Schilderung der schrittweisen Gleichschaltung feldinterner Berufs- und Interessenverbände vom deutschen PEN-Club über den Börsenverein bis zu den bibliothekarischen Standesvertretungen folgt im 2. Kapitel die detaillierte Vorstellung der diversen NS-Institutionen, die in ihrer Gesamtheit die „Mediendiktatur“ (S. 81) in der Gestalt eines vielköpfigen bürokratischen Monstrums realisierten. Die beiden abschließenden Kapitel lassen auf diese quellengesättigte Strukturbeschreibung eine historische Analyse der konkreten Maßnahmen folgen, in deren Rahmen die Diktatur ihre terroristische und zensuratorische Macht durchzusetzen begann. Ihre Wirkungen werden dabei einmal aus der „Perspektive der Herrscher“ (3. Kapitel), ein andermal aus der „Perspektive der Beherrschten“ (4. Kapitel) vorgeführt. Gerade in diesem letzten Teil hält das neue Buch Literaturpolitik im NS-Staat eine wesentliche inhaltliche Erweiterung gegenüber Barbians ursprünglicher Arbeit aus dem Jahr 1993 bereit: Die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten der Beteiligten von der unterwürfigen Selbstanpassung über Widerstand, Flucht und Verfolgung bis hin zur geschickten Ausnutzung bestehender Freiräume wird eindrücklich dargestellt, wobei ein grundsätzliches Verdienst der Untersuchung darin besteht, die Aufmerksamkeit des Lesers gleichmäßig auf die unterschiedlichsten Teilfelder des Literatursystems zu lenken. So werden nicht nur die Gleichschaltung auf der Produktionsebene (Autoren), sondern vor allem auch die Lenkungsversuche im Sektor der Distribution (Verlage, Buchhandlungen, Bibliotheken) und der Rezeption (Leser) berücksichtigt.

Dennoch – und dies ist durchaus zu bedauern – fallen gerade hier zwei Lücken auf, die nach beendeter Lektüre manche Frage offen lassen: Zum einen nämlich klammert Barbians neues Buch bei der Beschreibung der nationalsozialistischen Bibliothekspolitik die Gleichschaltung der Büchereien in kirchlicher Trägerschaft nahezu vollständig aus, obwohl gerade im süddeutschen und im österreichischen Raum Institutionen wie die katholischen Pressvereine und Pfarrbibliotheken vor der so genannten „Machtergreifung“ einen wesentlichen Teil der bibliothekarischen Literaturversorgung bestritten hatten und späterhin ein für das Regime nur schwer kalkulierbares Widerstandspotential darstellen mussten. Wo von der erschreckend bereitwillig erfolgten Selbstgleichschaltung eines „politisierten Berufsstandes“ die Rede ist (S. 433 ff.), wie sie Barbian an zahlreichen Einzelfällen aus dem Bereich des nichtkonfessionellen Volksbüchereiwesens sowie der wissenschaftlichen Staats- und Universitätsbibliotheken exemplifiziert, wäre zumindest ein Hinweis auf vergleichbare oder auch abweichende Verhaltensweisen im Subfeld des kirchlichen Bibliothekswesens durchaus erhellend gewesen. Sein Fehlen ist umso bedauerlicher, als die erste Fassung der Studie von 1993 durchaus noch zwei kurze Abschnitte über Die Koexistenz zwischen konfessionellen Büchereien und Volksbüchereien bis 1938 sowie Die Ghettoisierung der konfessionellen Büchereien und die Ausbeutung ihrer Bestände enthalten hatte.8 Aufgrund ihrer größeren Detailfülle in der Auswertung und im Nachweis von Einzelquellen wird die ältere Fassung aber ohnehin neben der konziseren und zugleich aktuelleren Neufassung von 2010 für die wissenschaftliche Arbeit weiter herangezogen werden müssen.

Anders als bei der Darstellung der bibliotheksgeschichtlichen Zusammenhänge beruht die zweite wesentliche Lücke in der Neubearbeitung weniger auf einer allzu rigorosen Streichung als vielmehr auf einer unterlassenen Ergänzung. Denn schon in der Erstfassung war mit dem Gesamtfeld der Literaturkritik bzw. des Feuilleton-Journalismus ein zentraler Teil der Literaturvermittlung seltsam unterbelichtet geblieben. Mit einem Hinweis auf die vorgebliche Nichtexistenz einer ernsthaft als solcher zu bezeichnenden Literaturkritik nach 1933 kann diese Lücke kaum erklärt werden, zumal analog zum übrigen Inhalt des Buches gerade die wissenschaftliche Darstellung auch dieses Gleichschaltungsprozesses und der möglicherweise dennoch bestehenden Schlupflöcher im Überwachungs- und Kontrollsystem des NS-Staates zweifellos zu den erwartbaren Aufgaben des Verfassers gezählt hätten, um dem Anspruch eines vollständigen Überblicks über alle Teilaspekte des deutschen Literatursystems zwischen 1933 und 1945 gerecht zu werden. Nun mag zwar der erheblich reduzierte Umfang des neuen Buches der Neuaufnahme eines entsprechenden Unterkapitels von vornherein in pragmatischer Hinsicht entgegengestanden sein; wo aber die übrigen Akteure des literarischen Feldes vom „Schriftsteller“ über den „Verleger“, den „Buchhändler“ und den „Bibliothekar“ bis hin zum „Leser“ in ihrem jeweiligen Verhältnis zur NS-Literaturpolitik vorgestellt werden, darf man sich zu Recht die Frage stellen, wieso die Kategorie der ‚professionellen Leser‘ in den Feuilletonredaktionen der deutschen Zeitungen und Zeitschriften als solche in toto ausgeklammert bleibt.

So sehr sich Barbians NS-Literaturpolitik und Adams Lesen unter Hitler aufgrund ihrer unterschiedlichen Perspektivierungen in geradezu idealer Weise ergänzen: In diesem Fall hilft auch ein Griff zu Christian Adams Untersuchung kaum weiter, obschon in ihr – wie bereits die oben zitierte Analyse der ersten deutschen Fernsehrezension zeigt – das Thema „Literaturkritik“ zumindest am Rand immer wieder angeschnitten wird. Hans Dieter Schäfers Behauptung, dass man sich in deutschen Zeitungen und Zeitschriften während des „Dritten Reiches“ nur „wenig […] an das Verbot der Kunstkritik“ durch Josef Goebbels gehalten habe,9 hat jedenfalls bis heute keine eingehendere Überprüfung erfahren. Dietrich Müllers Mainzer Dissertation aus dem Jahr 2007 über die Buchbesprechung im politischen Kontext des Nationalsozialismus liefert zwar in Hinblick auf die Darstellung der staatlichen und parteiamtlichen Lenkungsinstrumente im Umfeld des Goebbels’schen Kritikverbots die notwendigen institutionsgeschichtlichen Ergänzungen zu Barbian, kommt aber den von Schäfer aufgeworfenen Fragen aufgrund einer insgesamt wohl zu schmalen Quellenbasis und einer nicht klar argumentierten Auswahl weniger, nur oberflächlich analysierter Fallbeispiele allenfalls in Ansätzen nahe. Eine auf literatursoziologischer Basis verfasste Gesamtdarstellung zur Geschichte der Literaturkritik unter den Bedingungen des „Dritten Reichs“ scheint damit noch immer ein Desiderat zu bilden.

Michael Pilz, 12.6.2011

Michael.Pilz@uibk.ac.at

 

Anmerkungen:

[1] Die Erstausgabe erschien zunächst 1981 bei Hanser in München sowie als ungekürzte Taschenbuchausgabe 1984 bei Ullstein. Seit 2009 liegt nun eine erheblich erweiterte und umgearbeitete Neuausgabe bei Wallstein vor, vgl.: Hans Dieter Schäfer: Das gespaltene Bewusstsein. Vom Dritten Reich bis zu den langen Fünfziger Jahren. Erw. Neuausg. Göttingen: Wallstein, 2009. 500 S. (Mainzer Reihe N. F. 8), darin insbes. die Aufsätze: Die nichtnationalsozialistische Literatur der jungen Generation im Dritten Reich und Moderne im Dritten Reich bei Oskar Loerke, Friedo Lampe und Helmut Käutner sowie den titelgebenden Beitrag Das gespaltene Bewußtsein. Alltagskultur im Dritten Reich, in denen sich Schäfer einerseits mit den Möglichkeiten und Bedingungen literarischer Moderne-Rezeption zwischen 1933 und 1945, andererseits mit der ungebrochenen Präsenz von massenkulturellen Phänomenen wie Hollywoodfilmen, Übersetzungen von ausländischer Bestsellerliteratur, Jazz und Swing oder „Coca Cola unterm Hakenkreuz“ beschäftigt.

[2] Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Frankfurt/Main: Buchhändler-Vereinigung, 1993, S. 9.

[3] Vgl. Christian Härtel: Stromlinien. Wilfrid Bade, eine Karriere im Dritten Reich. Berlin: be.bra-Verl., 2004; [Ders.]: „Soldat unter Soldaten“. Der Journalist Joseph Goebbels. In: Lutz Hachmeister/Michael Kloft [Hrsg.]: Das Goebbels-Experiment. München: DVA, 2005, S. 16–28.

[4] Die von Adam zur Bestimmung von „Bestseller-Qualität“ herangezogenen Auflagenzahlen stammen z. T. aus den Angaben im Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums (GV neu), z. T. aus den Nennungen in Verlagsanzeigen sowie aus den verlagsseitigen Angaben im Impressum der ausgewerteten Bücher, die laut Adam „mit Hilfe antiquarischer Verzeichnisse im Internet […] auf breiter Basis“ erhoben wurden (S. 46).

[5] Vgl. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. Frankfurt/Main: Klostermann, 1970. (Studien zur Philosophie und Literatur des 19. Jahrhunderts 5)

[6] Hans-Dieter Schäfer: Horst Langes Tagebücher aus der NS-Zeit. In: [Ders.]: Das gespaltene Bewusstsein. Über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–1945. Frankfurt/Main: Ullstein, 1984. (Ullstein-Buch 34178), S. 99. Der zitierte Aufsatz fehlt in der Neuausgabe von 2009.

[7] Auch Thomas Anz kommt – in Hinblick auf die bescheidene Existenz einer literaturkritischen Praxis im nationalsozialistischen Deutschland jenseits des von Goebbels verkündeten „Kritikverbots“ – zu einem ähnlichen Ergebnis, vgl. Anz: Literaturkritik unter dem NS-Regime und im Exil. In: [Ders.]/Rainer Baasner [Hrsg.]: Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. 3. Aufl. München: Beck, 2007. (Beck’sche Reihe 1588), S. 134: „Es sind […] nicht zuletzt die innerparteilichen Uneinigkeiten und Richtungskämpfe, die der Literaturkritik wenigstens in Ansätzen Spielräume für unterschiedliche Urteile lassen. Sogar die ästhetische Moderne in Kunst und Literatur war bis Mitte der dreißiger Jahre in nationalsozialistischen Kreisen umstritten. 1934 beklagt sich Alfred Rosenberg, daß sein Konkurrent Goebbels die Schirmherrschaft über eine ‚futuristische Ausstellung von Berliner Kulturbolschewisten‘ übernahm […].“

[8] Vgl. Barbian: Literaturpolitik im „Dritten Reich“,  S. 359 ff.

[9] Schäfer: Horst Langes Tagebücher aus der NS-Zeit, S. 98.