litcrit

Die Literaturkritik und Europa

"LitCrit“. Literaturkritik und literarische Öffentlichkeit im europäischen Vergleich 2007–2009. Reader. Hrsg. von Reinhard G. Wittmann. Redaktion: Marion Bösker, Tanja Leuthe. München: Literaturhaus, 2010

 

Der Reader, der nicht käuflich zu haben ist, aber beim Literaturhaus München angefordert werden kann, dokumentiert eine Tagung von 2007 und drei Seminare von 2009 zum Thema Literaturkritik. Die schriftlichen Fassungen der Vorträge werden in dem A4-Heft nacheinander abgedruckt, ergänzt durch Informationen zu den Vortragenden und den SeminarteilnehmerInnen. Das Literaturhaus hat sogar verzichtet, sich für seine Publikation im Eigenverlag eine ISB-Nummer geben zu lassen. Das ist sehr schade, denn die Beiträge sind durchweg interessant und bieten etwas, das es meines Wissens so bisher noch nicht gegeben hat – ein Panorama der Situation der Literaturkritik in 20 europäischen Ländern. Wie die Auswahl getroffen wurde, wird nicht gesagt – Belgien und die Niederlande beispielsweise fehlen, Kroatien und Luxemburg sind dabei. Ein solches Spektrum wirkt dennoch nicht beliebig, denn alle Vortragenden haben umfangreiche Kenntnisse der deutschen Sprache und der deutschsprachigen Literatur. Ein Gesamtbild muss sich die Leserin oder der Leser allerdings selbst zusammensetzen. Die zusammenfassenden Beiträge der SeminarleiterInnen drehen sich eher um Atmosphärisches, als dass sie ein weitergehendes inhaltliches Fazit ziehen würden.

Die Pole Position besetzt die Gründerin und frühere Leiterin der Zeitschrift Literaturen, Sigrid Löffler. Sie macht aus ihrem Herzen keine Mördergrube und wer frühere Beiträge von ihr kennt, der wird höchstens von der neuerlichen Zuspitzung ihrer Position überrascht sein. Für sie ist die Literaturkritik Teil der "Kulturindustrie", in der "sich alles um den Konsum" dreht (S. 7). Zweifellos ist die Vermarktbarkeit der produzierten Bücher ein immer wichtigeres Kriterium geworden. Ob als Vergleich dafür Hollywood herhalten kann (S. 7 f.), wage ich aber zu bezweifeln, denn die US-amerikanische Filmindustrie ist schon lange in einer tiefen Krise; eher schon könnte man auf die Computerspielindustrie verweisen, die der Filmindustrie vom Umsatz her vor einigen Jahren den Rang abgelaufen hat.

Löffler hält am Ideal des nicht-marktkonformen Titels fest und sieht sich von "Trash" umzingelt: "Die überwiegende Mehrheit der Neuerscheinungen besteht demnach aus nicht-rezensierbaren Büchern" (S. 9). Folgender Satz ist ein unausgesprochener Seitenhieb in Richtung Denis Scheck (und seiner Sendung Druckfrisch): "Bestseller im Fernsehen abzukanzeln und sie dann mit Aplomb in den Mülleimer zu pfeffern, macht zwar einen ganz putzigen Effekt, hat aber null Wirkung" (S. 9). Was zu beweisen wäre – die Wirkung von Literaturkritik ist so gut wie nicht erforscht.

Helmut Böttiger nimmt ebenfalls "die deutsche Literaturkritik" in den Blick und sieht ähnliche Probleme wie Sigrid Löffler. Er macht dies an einem Beispiel fest: Den deutschen Buchpreis habe 2007 Julia Franck erhalten (für Die Mittagsfrau), obwohl Ulrich Peltzer den besten Roman der Saison geschrieben habe (S. 13f.). Als Indikator dienen Böttiger sehr positive Besprechungen von Peltzers Teil der Lösung. Böttiger überführt diese Beobachtung in eine Kritik der Massenmedien, die "ein selbstreferentielles System, mit einer sich ständig steigernden Umlaufgeschwindigkeit und der Austauschbarkeit der Personen" geworden seien (S. 16). Zu fragen wäre allerdings, ob dies nicht schon immer so war; auch die Literaturzeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts oder die Feuilletons des 20. waren solche 'selbstreferentiellen Systeme'. Noch fragwürdiger ist es, Niklas Luhmann stellvertretend für eine solche Entwicklung verantwortlich zu machen. Böttiger holt zum Rundumschlag aus und sieht eine Parallele in der Entwicklung der Wissenschaft, in der nicht zufällig die Systemtheorie große Karriere gemacht habe. Hier wird für Böttiger beispielhaft der Prozess der Entsubjektivierung deutlich: "Bei Niklas Luhmann etwa existiert kein 'Ich' mehr […]" (ebd.). Das ist schlicht falsch, Luhmann hat lediglich eine andere Auffassung davon, was ein 'Ich' ist (und zwar ein 'soziales System'). Außerdem ist Luhmanns Schrift Die Realität der Massenmedien wohl immer noch eine der kritischsten Arbeiten zum Thema. Man könnte vielleicht der Luhmann-Rezeption in den Wissenschaften unterstellen, die Systemtheorie entsubjektiviert zu haben und unkritisch geworden zu sein. Luhmanns eigene Arbeiten sind eher Belege für das Gegenteil, denn sie versuchen ja gerade, indem sie Kommunikation (zu der auch Interaktion zählt) in den Mittelpunkt stellen, die Bedeutung von menschlichen Beziehungen herauszustellen und Probleme solcher Beziehungen, insbesondere auf institutioneller Ebene, beobachtbar und damit kritisierbar zu machen.

Auch dass es, so wie Böttiger ebenfalls feststellt, in der deutschsprachigen Literaturkritik "nicht mehr um Kritik" gehe, sondern "offensiv um Affirmation" (S. 17), ist in dieser Absolutheit mehr als anzweifelbar, eine Tendenz in diese Richtung stellen aber viele BeiträgerInnen fest und sie lässt sich wohl auch durch die eigene Beobachtung bestätigen. Wiebke Porombka meint dazu: "Das Kritisieren von Texten hat sich auf erschreckend smarte Weise in die Regeln eines rationalisierten Betriebs eingefügt. […] Von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen, dominiert in der Wahrnehmung des Publikums, aber eben auch in der Kritik, das souveräne, das gut gemachte Buch, das sich genauso souverän und gut auch lesen lässt" (S. 91).

Dies betrifft aber nicht nur den deutschsprachigen Betrieb. Svante Weyler zum Beispiel sieht in der schwedischen Literaturkritik einen vergleichbaren Wandel, den er auf die Formel bringt: "Technik statt Inhalt" (S. 24). Die "führenden Leute" im Literaturbetrieb seien "nicht mehr dem Komplizierteren verpflichtet", das "Einfache", also das Vermarktbare stehe im Vordergrund der Berichterstattung (S. 25). Der polnische Kritiker Aleksander Kaczorowski stellt, in ähnlicher Weise generalisierend, fest: "Der Buchmarkt legt mehr Wert auf den Markt als auf die Bücher" (S. 52).

Für die meisten Länder wird außerdem konstatiert, "dass der Literatur in den Tageszeitungen tatsächlich kein oder nur ein sehr geringer Platz zur Verfügung steht", wie es Ermanno Paccagnini für Italien formuliert (S. 40), und dass dieser Platz abgenommen hat. In den meisten Ländern sind die Printmedien generell, durch das Aufkommen der sogenannten Neuen Medien, in einer Krise. Auf diesen Aspekt wird in den Beiträgen aber erstaunlich wenig eingegangen, Literaturkritik im Internet kommt so gut wie gar nicht vor. Lediglich Ruth Schneeberger geht darauf etwas genauer ein, für sie ist aber klar, dass "Literaturkritik im Internet nicht funktioniert" (S. 147). Redaktionen würden bisher kaum dort investieren. Noch führe professionelle Literaturkritik im Netz ein "Nischendasein" (S. 148).

Nun sind die Verhältnisse in den Ländern so unterschiedlich, dass es auffällt, wie wenig etwa Michael Hofmann klagt, der die Situation in Großbritannien und den USA aus eigenen Erfahrungen schildert. Bezeichnend ist wohl, dass er die Literaturbesprechungen der New York Times und der wenigen anderen Blätter mit entsprechendem Ruf als "kleines Störfeuer" positiv hervorhebt (S. 30). Angesichts der geringen Bedeutung der Literatur und der ihr gewidmeten Kritik ist schon das, was vorzufinden ist, eine Leistung. Wie anders der angloamerikanische Markt funktioniert, illustriert wohl kein Zitat besser als das aus einem Beitrag für ein englisches Magazin, verfasst von einer Deutschen, die lange Zeit vor allem in London gelebt hat: "Criticism is supposed to sell books, too" (S. 171).

Cecilia Dreymüller erläutert, dass in Spanien Zeitungen ihren MitarbeiterInnen ohnehin kein richtiges Honorar zukommen ließen (S. 54). In vielen Ländern war und ist Literaturkritiker ein wenig bezahlter oder sogar unbezahlter Nebenberuf: "Ich kenne nur eine Person, einen Dichter, der als freier Autor von der Kritik gelebt hat, und er musste zehn Rezensionen pro Monat verfassen", stellt Jukka Koskelainen zur Situation in Finnland fest (S. 190). Oder Kritik spielt eine so marginale Rolle, dass sich mit Luc Caregari bemerken lässt: "Literaturkritik in Luxemburg ist vor allem eines: schwer auffindbar" (S. 122).

Zu den besten, weil originellsten und provokantesten Beiträgen zählt zweifellos der von Klaus Nüchtern mit dem schönen Titel Demut ist doof. Er stellt viele Krisensymptome in Frage und plädiert dafür, sich auf die eigene Arbeit zu konzentrieren und das Beste aus der Situation zu machen: "Jeder, der mit Verlagsmenschen zu tun hat, weiß, wie wenig Kritiken zum Erfolg oder Misserfolg eines Buches mitunter beitragen. 'Die Deutungshoheit der professionellen Kritik' ist in der Tat, wie Löffler anmerkt, 'eigentlich nur noch in einem kleinen Reservat des Buchmarkts in Kraft.' Die Frage ist bloß, ob das, erstens, je substanziell anders war, und, zweitens, so schlimm ist. Ich gestehe, dass die Idee, über eine 'Deutungshoheit' zu verfügen, für mich auch etwas Erschreckendes hat und dass – auf der anderen Seite – die Gewissheit, Bücher nicht zu Bestsellern hochloben oder vom Markt schreiben zu können, auch etwas Beruhigendes hat" (S. 61). Nüchern fasst ironisch zusammen: "Der Dichter schreibt für die Ewigkeit, der Kritiker für die Zeitung" (S. 65). Dennoch sollte sich der Kritiker aber seiner Sonderrolle im Betrieb bewusst sein, denn er habe selbst die Chance, "ein gutes, lesenswertes, unterhaltsames und kluges Stück Literatur hervorzubringen" (ebd.). Für Nüchtern ist Literaturkritik "Literatur, die von anderer Literatur angestoßen, inspiriert, in Rage gebracht wird" (ebd.).

Das ist, insbesondere im europäischen Vergleich, vom Literaturkritiker vielleicht etwas zuviel verlangt, aber Nüchterns Versuch, die Lage einmal nicht schwarz zu malen, hebt sich wohltuend von den vielen Weltuntergangsszenarien ab, auch von der Inszenierung des üblichen österreichischen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber Deutschland durch Alexandra Millner. Sie beklagt, zweifellos nicht zu Unrecht, dass "die österreichischen Printmedien" im "Ausland" kaum wahrgenommen würden (S. 132), dies hat aber wohl auch mit der geringen Größe und Qualität der ernstzunehmenden Printmedien zu tun. Dass es Aufgabe der österreichischen Literaturkritik sein müsse, "wie jede andere nationale Literaturkritik" (!) die Literaturproduktion des eigenen Landes "auch international zu behaupten, auf ihre Existenz aufmerksam zu machen oder sie zu verteidigen – etwa gegen bundesdeutsche Vereinnahmungen von österreichischen AutorInnen wie Ingeborg Bachmann oder Peter Handke" (S. 134), das darf man als wenig fortschrittliches und kaum durchdachtes Konzept bezeichnen. Die österreichische Literatur ist in Deutschland außerordentlich präsent, Millner müsste dies eigentlich begrüßen. Aber was bedeuten, angesichts solcher Präsenz, die angesprochenen 'Vereinnahmungen'? Kein deutscher Kritiker würde Bachmann oder Handke als deutsche Autoren bezeichnen; dass dagegen die österreichische Kritik gern das tut, was sie dem deutschen Nachbarn allzuoft vorwirft, sieht man am Beispiel Daniel Kehlmann – er gilt ohne jede Einschränkung als österreichischer Autor, auch wenn er in Deutschland geboren wurde und in der Schweiz lebt. Besser wäre es wohl, solche Konzepte von Nation als höchst anzweifelbare Relikte des 19. Jahrhunderts in der Vergangenheit zu belassen, wie dies auch die anderen BeiträgerInnen, meist unausgesprochen, tun.

So vielfältige Einblicke die einzelnen Beiträge auch geben, so wenig Auskunft erhält ihr Leser oder ihre Leserin darüber, was für Maßstäbe jetzt eigentlich gelten oder gelten sollten. Literatur sollte komplex sein, beim Lesen anstrengen und nicht nur unterhalten, dies dürfte Konsens bei den meisten KritikerInnen sein. Welche Bedeutung Literaturkritik aber gehabt hat und auch heute noch hat, darüber lassen sich kaum Aussagen machen, wenn man von den Veränderungen in der Medienlandschaft einerseits, der Rahmenbedingungen von Produktion und Rezeption literarischer wie literaturkritischer Beiträge andererseits einmal absieht. Insofern passt Meike Fessmanns witziges Fazit für das Ende dieser Rezension: "Marcel Hartges empfing uns als neuer Verlagschef bei Piper und beruhigte uns: die Kritik bleibt wichtig, auch wenn keiner weiß, wie sie tatsächlich wirkt" (S. 164).

Stefan Neuhaus, 29.4.2011

stefan.neuhaus@uibk.ac.at