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Ein Kritiker liebt seine Bücher

Winkels, Hubert: Kann man Bücher lieben? Vom Umgang mit neuer Literatur. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2010. 352 S. ISBN 978-3-462-04237-5. Preis [A]: € 25,70

 

Hubert Winkels kennt man, als langjährigen Literaturredakteur der Sendung Büchermarkt im Deutschlandfunk ebenso wie als Autor kluger Kritiken in der Zeit. Darüber hinaus hat sich der Alfred-Kerr-Preisträger (2007) als Stichwortgeber literaturkritischer Debatten einen Namen gemacht: Sein im Frühjahr 2006 erschienener Artikel Über eine Spaltung im deutschen Literaturbetrieb löste eine lebhafte Kontroverse über das Selbstverständnis journalistischer Literaturvermittlung aus. Unter dem etwas skurril gearteten, doch letztlich sinnstiftenden Begriffspaar des "Emphatikers" und "Gnostikers" ging es um Frage, wie sehr Literaturkritik jenseits eines ästhetisch-textkritisch-intellektuellen Diskurses populär sein kann, will und soll – oder eben nicht.

Der Emphatiker-Gnostiker-Beitrag darf selbstredend nicht fehlen in Winkels’ neuestem Buch Kann man Bücher lieben?. Rund 40 Beiträge versammelt der Band, der einen Querschnitt durch Winkels’ literaturkritisches Schaffen der letzten Jahre bietet. Neben ausgewählten Buchbesprechungen und Schriftsteller-Porträts (bedauerlicherweise fehlen die Erstdruck-Nachweise!) enthält die Sammlung auch einige zeitdiagnostische Essays, etwa zur Gegenwartslyrik, zum Thema Rausch & Literatur oder zur Entgrenzung der Erwerbsarbeit im Spiegel literarischer Texte. Hinzu kommen persönliche Erzählungen, Erinnerungen – etwa an den Dichter Thomas Kling – und Reisereportagen.

Vielleicht ein ganz kurzer Exkurs zum Genre: Wenn (zumal arrivierte) Kritiker ihr Schaffen in Buchform dokumentieren, noch dazu in Hardcover-Ausgaben mit Lesebändchen, kommt dabei nicht selten eine verkappte, ungelenke Form von Literaturgeschichtsschreibung heraus. Ungelenk deswegen, weil Verlage und Kritiker gern der Versuchung erliegen, schon den bloßen Wiederabdruck eigener Rezensionen aus der Tagespresse für ein geeignetes Mittel vermeintlicher Kanonisierung zu halten. Auch Winkels’ letzte Sammlung (Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995–2005 von 2005) litt ein bisschen darunter, in erster Linie Chronik schon einmal gedruckter Kritiken zu sein. Kreativer – als Zweitverwertung im Buch – war da schon Volker Hages Genreführer durch literaturkritische Textsorten.

Diesmal aber betritt auch Winkels Neuland. Bücher, so der Subtext seiner beinahe emphatischen Titelfrage ("Kann man Bücher lieben?"), sind auch für einen Literaturkritiker mehr als innerliterarische "Lust am Text" im Sinne von Roland Barthes. Und so erinnert der Untertitel Vom Umgang mit neuer Literatur vielleicht nicht zufällig an einen fast gleichnamigen Aufsatz von Heinz Schlaffer: In Der Umgang mit Literatur. Diesseits und jenseits der Lektüre [1] hatte Schlaffer vor Jahren dafür plädiert, auch die über das Lesen hinaus reichenden Kulturtechniken der Teilhabe an Literatur stärker in den Blick zu nehmen. 

Kann man Bücher lieben? tut genau das, es liest sich bisweilen wie Winkels’ implizite Aneignung von Schlaffers Thesen. Denn Bücher sind für Winkels nicht nur Objekt kritischer Auseinandersetzung, sie sind auch "Lebensstil" und "Besitzerstolz". Sie bedeuten Anstreichungen in Rezensionsexemplaren, aber auch ausgefeilte Bibliotheks- und Regalsysteme. Winkels lässt uns an all diesen Facetten seines täglichen Umgangs mit Büchern teilhaben, etwa wenn er uns seine Nöte als "lesender Vermieter" schildert, denn ein Teil seiner stetig wachsenden Hausbibliothek ist längst ins "büchermöbliert" vermietete Souterrain abgewandert. Da muss er auch schon mal 'noteindringen', wenn es gilt, etwas ganz Dringendes nachzuschlagen oder aber (auch das soll vorkommen) einen heimtückischen Wasserschaden abzuwehren.

Der ganzheitliche Zugang geht freilich über das Persönlich-Anekdotische hinaus: Ähnlich wie auch schon Hage 2009 überzeugt Winkels mit dem Ansatz, die Rolle des Literaturkritikers nicht auf die des reinen Rezensenten zu beschränken. Tatsächlich wirken Kritiker, sobald sie sich einen Namen gemacht haben, ja ganz vielfältig in den "Betrieb" hinein. Winkels gibt – stets reflektiert und durchaus selbstironisch – Auskunft über seine Rolle in Jurys für die Vergabe von Literaturpreisen; er schildert Episoden als Laudator oder auch Moderator: "Not eines Kritikers", seine Erinnerung an eine Veranstaltung mit Martin Walser im Jahr 2001, gehört zum Besten, was man in den letzten Jahren über Machtausübung im Literaturbetrieb gelesen hat. Dass sich Winkels mit der Schilderung dieser Episode zehn Jahre Zeit gelassen und sie nicht schon in seinem Buch von 2005 veröffentlicht hat, zeigt, wie sehr ihm Effekthascherei fern liegt. Im Gegenteil, statt schneller Polemik pflegt er das krinein, das Sich-Selbst-Befragen und -Hinterfragen.

Sprachlich beeindruckt Winkels durch seinen ganz eigenen, unverwechselbaren Ton. Beim Lesen seiner Kritiken kann man lernen, wie man stets umsichtig (manchmal auch umständlich), doch in jedem Fall mit viel Gespür für feine Zwischentöne, auch für Sprechcodes argumentiert. Bildungssprachliche Begriffe wie "Stasis", "Proselytentum" oder "spätkapitalistischen Manichäismus" streut er gerne ein, aber auch mal – ganz salopp – einen "nutty Professor". Sprichwörtlich ist sein "Winkels-Wir", das sich souverän zum Solo-"Ich" erhebt, wenn es um persönliche Erinnerungen geht – beispielsweise Reiseberichte aus Berlin, Moskau, Japan. Winkels’ Frau ist Japanologin – auch deswegen wohl seine in deutschen Kritikerkreisen überdurchschnittliche Expertise in Sachen japanische Literatur.

Wer sich das Buch zu Gemüte führt, lernt einen Hubert Winkels kennen, der sich in seinen Beziehungen zur Literatur und ihrem Betrieb sympathisch nahbar macht. Ein, was den Modus seiner Literatur- und Kunst-Rezeption angeht, 'emphatischer Gnostiker', gibt Auskunft über sein leidenschaftliches Leben mit Büchern – diesseits und jenseits des Rezensierens.

Marc Reichwein, 29.4.2011
marc_reichwein@yahoo.de

 

Anmerkung

[1] In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. Nr. 31 (1999), S. 1-25.