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Progressive Universalkritik

Hermann Bahr und Adolf Loos: Das kritische Oeuvre zweier Hauptvertreter der österreichischen Moderne liegt in neuen Werkausgaben vor

I. Hermann Bahr bei VDG

Hermann Bahr: Kritische Schriften in Einzelausgaben. Hrsg. von Claus Pias.

Bd. VII: Bildung. Essays. Hrsg. von Gottfried Schnödl. Weimar: VDG, 2010. 210 S. ISBN 978-3-89739-614-2. Preis [A]: € 20,40

Bd. X: Buch der Jugend. Hrsg. von Gottfried Schnödl. Weimar: VDG, 2010. 172 S. ISBN 978-3-89739-651-7. Preis [A]: € 18,-

II. Adolf Loos bei Braumüller-Lesethek

Adolf Loos: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Adolf Opel. Wien: Lesethek-Verl., 2010. 780 S. ISBN 978-3-99100-015-0. Preis [A]: € 34,90

 

I. Hermann Bahr bei VDG

Hermann Bahr (1863–1934) sah sich schon zu Lebzeiten mitunter heftiger Kritik ausgesetzt. „Verwandlungskünstler“, „der Geist, der stets verblüfft“ oder „der Mann von Übermorgen“ waren nur einige der zahlreichen Beinamen, mit denen Zeitgenossen wie Maximilian Harden oder Karl Kraus ihren als eine Art ‚Hans Dampf in allen Gassen‘ wahrgenommenen Kollegen (und notabene: Konkurrenten) belegt haben.1 Es sind dies meist spöttisch gemeinte Versuche, das Proteushafte eines Autors zu charakterisieren, der sich selbst einen „Kautschukmann“ nannte, um seine unermüdlichen Positionswechsel von der Überwindung des Naturalismus über die kritische Wortführerschaft Jung-Wiens bis hin zur eloquenten Propagierung von Neuklassik, Expressionismus oder Heimatkunst zu rechtfertigen. Gotthart Wunberg hat überzeugend herausgestellt, dass dieser von Bahr durchaus selbstreflexiv angenommene Habitus des Wortführers einer „permanenten Revolution“ (Bourdieu) auf den Kern unseres heutigen Moderne-Verständnisses im Kontext eines autonomen literarischen Feldes weist, das sich mit Bourdieu ja als ein System relationaler Beziehungen zwischen sich ablösenden, in stete Distinktions- und Definitionskämpfe verwickelten Avantgarden darstellt. Schon Bahr „hat die Moderne insbesondere als Vorgang“ verstanden, „das heißt, er hat ihre Dynamik bestimmt, wenn er Veränderung als ihr wichtigstes Merkmal begriff.“2 Bahrs Bedeutung für das literarische Feld des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bestand demnach in der „Inaugurierung einer Bewegung, die sich seitdem selbst perpetuiert. Auf die jüngste Entwicklung folgt die noch jüngere, auf diese eine wiederum jüngste, die erst darin ihren Sinn zu gewinnen scheint, daß sie in der nächst höheren aufgeht.“3 Bahr habe diese Dynamik nicht nur deskriptiv zu erfassen versucht, sondern sie – indem er die „Überwindung“ zum Prinzip des eigenen Schaffens erhoben hat – selbst mit Nachdruck eingefordert und „(literatur-)kritisch praktiziert.“4 Diese Praxis aber hat laut Wunberg in ihrem „Rigorismus keine Parallele in der zeitgenössischen Literaturkritik.“5

Wie die eingangs zitierten Spottnamen eindrücklich belegen, ist es Bahr durch dieses Paradox einer als Inkonsequenz interpretierten Konsequenz bei der Durchsetzung der jeweils neuesten „-ismen“ in der Tat gelungen, sich einen Namen zu machen. Dass er damit einen festen Platz in der Literaturgeschichte der Moderne einnimmt, ist heute weitgehend unbestritten. Dies bestätigt allein schon ein Blick in die Register der üppig wuchernden Sekundärliteratur zum Thema „Wien um 1900“, denn zumindest dort bleibt sein Name tatsächlich kaum einmal unerwähnt. Wie der Wiener Medienwissenschaftler Claus Pias allerdings zu Recht konstatiert hat, handelt es sich bei dieser sekundärliterarischen Omnipräsenz Hermann Bahrs lediglich um eine „Geltung, die sich nicht in den Haupttexten, sondern in deren Arabesken, den Sub- und Paratexten der Verweisapparate entfaltet.“6 Denn:

"Wer nachschlägt, findet Hermann Bahr […] nur in Verweisen, Zitaten oder Fußnoten, also den Stellen, die die Wahrheitseffekte des Diskurses produzieren, die ihn glaubwürdig erscheinen lassen, die sein Wissen bestätigen, indem sie auf Orte der Autorität verweisen."7

Um diese „Orte der Autorität“ – also um Bahrs Schriften selbst – war es, was ihre Zugänglichkeit in brauchbaren Textausgaben betrifft, allerdings lange Zeit alles andere als gut bestellt. Nach 1945 hatte zunächst der Theaterwissenschaftler Heinz Kindermann eine Auswahl von Bahrs Schauspiel-Kritiken besorgt, die angesichts ihrer engen thematischen Beschränkung kaum Repräsentativität für das äußerst vielgestaltige kritisches Oeuvre Bahrs beanspruchen konnte.8 Aussagekräftiger und erkenntnisfördernder war da schon Gotthart Wunbergs 1968 bei Kohlhammer veranstaltete Auswahl Theoretischer Schriften aus den Jahren 1887 bis 1904, die gleichwohl ihrerseits längst vergriffen ist.9 Neuere Auswahlbände oder gar eine komplette Werkedition haben – obschon immer wieder als notwendig eingefordert – auf sich warten lassen. Dass dafür nicht zuletzt „notorische Copyrightprobleme“ verantwortlich zu machen waren, „die jede Kanonisierung qua Neuauflage der Werke Bahrs verhindert haben“, lässt sich ebenfalls in Claus Pias’ anregendem Aufsatz über die „Politik der Archivierung“ bei Hermann Bahr nachlesen.10

Seit dem Erscheinen dieses Aufsatzes im Jahr 1999 ist indes ein rundes Jahrzehnt ins Land gegangen, in das auch der 70. Todestag Hermann Bahrs gefallen ist. Dadurch aber sind seit 2004 – zumindest, was das gedruckte Werk anbelangt – die „notorischen Copyrightprobleme“ aus der Welt geschafft. Und wenn Pias seinerzeit die Betrachtungen über Bahrs „ewige Jugend“ in Kanon und Archiv mit der Bemerkung schloss, dass „sich die Kisten des Bahr-Nachlasses erst einmal öffnen lassen“ müssten,11 um der Forschung neue Erkenntnisse zu liefern, so hat sich auch diese Hoffnung in der Zwischenzeit zumindest partiell erfüllt: Bereits seit 1994 wurden unter der Leitung von Moritz Csáky Bahrs frühe Notizhefte und Tagebücher in einer fünfbändigen Ausgabe ediert, deren letzter Band nach fast zehnjähriger Bearbeitungszeit 2003 vorgelegt werden konnte.12 Es hat sich aber noch mehr getan, wofür Claus Pias selbst verantwortlich zeichnet.

Wer heute in den Weiten des Webs nach Hermann Bahr fahndet, stößt  neben der obligaten Wikipedia-Seite rasch auf die Homepage eines an der Universität Wien beheimateten Forschungsprojekts mit dem Titel Hermann Bahr. Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden . Mit dem Ziel, nach Ablauf des Coyprights endlich eine adäquate „Vermessung seines Schaffens“ bieten zu wollen, stellt die Plattform eine wahre bibliographische Fundgrube zum Thema Bahr bereit, die dem Suchenden den bislang wohl umfassendsten dokumentarischen Nachweis von Primär- und Sekundärinformationen über diesen Autor liefert. Letztlich entpuppt sich das akribische, um Briefnachweise, Register und Inhaltsverzeichnisse zu Bahrs Werken ergänzte Online-Angebot jedoch nur als das äußerst ertragreiche Beiwerk zu einem Editionsprojekt, das sich unter Pias’ Leitung zur Aufgabe gemacht hat, endlich eine verlässliche Textausgabe von Bahrs essayistischem Oeuvre vorzulegen.

Statt diesem Oeuvre mit historisch-kritischem Aufwand zu Leibe zu rücken – was gleichermaßen das gegenteilige Extrem zur bisherigen Nichtexistenz einer Werkausgabe bedeutet hätte – hat man sich aus ebenso pragmatischen wie nachvollziehbaren Gründen für die Edition von Leseausgaben in Einzelbänden entschieden, die auf einem behutsam korrigierten Neudruck der jeweiligen Erstauflagen basieren. Die Kritischen Schriften in Einzelbänden bieten also die wesentlichen Texte Bahrs jeweils in der von ihm selbst verantworteten Auswahl und Zusammenstellung – was nicht zuletzt „aus rezeptionshistorischen Erwägungen heraus“ eine sinnvolle Begründung findet.13 

Die Edition, die auf 25 Bände angelegt ist, reicht von Bahrs erster Aufsatzsammlung Zur Kritik der Moderne aus dem Jahr 1890 bis zum Labyrinth der Gegenwart von 1929. Bislang liegen davon 11 Bände vor, zuletzt erschienen 2010 die Neudrucke der Essaysammlungen Bildung von 1900 (Bd. VII) und Buch der Jugend von 1908 (Bd. X), für deren Herausgabe jeweils Gottfried Schnödl verantwortlich zeichnet. Alle Bände der Gesamtausgabe, die seit 2004 bei VDG in Weimar erschienen, stehen auch als E-Books auf der Homepage des Verlags zum Download zur Verfügung.

Hier beginnen sich allerdings schon die ersten Einwände anzumelden. Denn nachdem es heute leicht geworden ist (und zunehmend immer leichter wird), kostenfreie Komplett-Digitalisate der Originalausgaben auch im Netz zu finden – man vergleiche allein die umfangreiche Liste auf Wiki-Source , die vor allem auf die Angebote der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) verweist und auch über das Linkangebot der Wiener Bahr-Forschungsstelle zu erreichen ist14 – hätte man sich von einer solchen Buchausgabe bzw. dem parallelen kostenpflichtigen E-Book-Angebot immerhin einen philologischen Mehrwert erwarten dürfen, der über eine bloße Textwiedergabe hinausgeht, wie sie ja schon die besagten Retrodigitalisate bieten. Ein solcher Mehrwert hätte vor allem in einem um einiges ausführlicheren Kommentar bestanden, als ihn das Editions-Konzept der vorliegenden Neuausgaben vorsieht. Außerdem wären mehr oder weniger knappe Einleitungen, Vor- oder Nachworte zumindest begrüßenswert gewesen, die den jeweiligen Band hinsichtlich seiner Stellung innerhalb des Bahr’schen Oeuvres reflexiv verortet hätten. Denn gerade angesichts der denkbar großen Heterogenität dieses Werks und der bewussten Wandlungsfähigkeit des „Mannes von Übermorgen“, der nahezu mit jeder neuen Sammelausgabe seiner Essays immer auch Revisionen eigener Standpunkte von ehedem und damit wiederholte Neupositionierungen im literarischen Feld vorgenommen hat, wäre der Leser für eine solche Orientierung dankbar gewesen. Der tatsächlich realisierte Apparat beschränkt sich dagegen auf ein Minimalprogramm, das einerseits ob seiner Kargheit enttäuscht, andererseits durch die Mitteilung überflüssiger und/oder unvollständiger Informationen verstimmt.

Der Anhang eines jeden Bandes gliedert sich in drei Abschnitte: Neben einer editorischen Notiz, die – philologisch exakt – die gegenüber den Erstausgaben verbesserten Satz- und Druckfehler ausweist, findet der Leser eine Rubrik „Übersetzungen“, die sämtliche fremdsprachigen Wendungen und Zitate aus Bahrs Haupttext für den deutschsprachigen Leser verständlich macht. Das ist gut gemeint – meistens aber auch nicht mehr; jedenfalls, wenn es sich um die Übersetzung von Zitaten aus den gängigsten neueren Sprachen wie Englisch oder Französisch handelt, die zumindest in den beiden eingesehenen Bänden Bildung und Buch der Jugend den deutlich größten Teil der abgedruckten Listen füllen. Für die Verdeutschung von Bildungszitaten aus dem Altgriechischen mag der heutige Leser ja dankbar sein, welchen Zweck aber verfolgen die Bearbeiter – um nur ein wahllos herausgegriffenes Beispiel aus dem Band Bildung zu nennen – mit der kommentarlosen Übersetzung des Ausrufs „I want a hero!“, bei dem es sich laut Bahrs eigener Aussage allerdings um ein Byron-Zitat handelt. Der Leser erfährt nun zwar, dass die Textstelle auf Deutsch „Ich verlange einen Helden!“ lautet, nicht jedoch, welchem Werk Byrons das Zitat entnommen ist. Und dies ist leider kein Einzelfall, sondern ein grundsätzlicher methodischer Mangel: Die zentralen Informationen werden dem Suchenden zu Gunsten unnötiger Auskünfte vorenthalten.

Als dritten Abschnitt enthält jeder Anhang ein Personenregister, das auch die Personennamen aus den von Bahr erwähnten literarischen Werken enthält, aber nur diese – und nicht etwa auch die Titel von Werken, für die keine Person oder Figur ihren Namen geliehen hat. Wobei hinsichtlich des angewendeten Ordnungsprinzips ziemlich inkonsequent vorgegangen wird: z.B. steht Bartel Turaser, die Hauptfigur des gleichnamigen Dramas von Philipp Langmann, im Register zu Band VII unter B, während man in Band X Robinson Crusoe nicht etwa unter R, sondern invertiert als Crusoe, Robinson findet – aber wahrscheinlich gar nicht sucht. Immerhin scheint dieser Teil des Apparates dem Leser noch am ehesten auf brauchbare Weise weiterhelfen zu wollen, zumal die Registereinträge durch die Beifügung von Lebensdaten als minimalistischer Kommentar-Ersatz konzipiert sind (wobei man allerdings gar nicht so selten über ein eingedrucktes „?“ zur Kennzeichnung „unsicherer Identifizierungen und fehlende[r] Angaben“ stolpert).

Freilich soll mit diesen Hinweisen nicht der Eindruck entstehen, dass sich durch Erbsenzählerei der grundsätzliche Wert einer durchaus begrüßenswerten Edition verdecken ließe. Frei nach der an Erich Kästner gestellten Frage, wo denn das Positive bleibe, ist hier keineswegs mit einem „Weiß der Teufel, wo das bleibt“ zu antworten. Denn immerhin werden mit der zügig erscheinenden Bahr-Ausgabe schon bald alle maßgeblichen Schriften eines für die Geschichte der österreichischen Moderne bedeutsamen Autors in insgesamt recht ansprechend gestalteten und (was die Textherstellung betrifft) soliden Neudrucken vorliegen, die trotz aller Abstriche nicht nur als bequeme Leseausgaben, sondern auch als zitierfähige und – wie es die Herausgeber beabsichtigen: „alltagstaugliche“15 – Arbeitsgrundlagen für die weitere Beschäftigung mit Bahrs kritischem Schaffen dienen können.

Dass sich die Neuausgabe im Übrigen allein auf das essayistische Schaffen Bahrs beschränkt und die dichterischen und dramatischen Arbeiten ganz bewusst ausklammert, kommt einer vernünftigen Konzentration auf den ‚essentiellen‘ Bahr gleich, zumal es in der Fachwissenschaft längst zur opinio communis zählt, dass der „Herr aus Linz“ zwar ein „wichtiger Kritiker“ aber nur „ein mediokrer Autor“ gewesen ist,16 von dem Gotthart Wunberg festhält: „An […] seinen kritischen Arbeiten […] sollte man ihn messen, wenn man von ihm reden, wenn man ihm gerecht werden will. Nicht an seiner Belletristik.“17 Es müsse im Falle Bahrs mithin darum gehen, „nicht die schönen Texte […] zu suchen, sondern die interessanten.“18 Die neue Bahr-Ausgabe mag dazu beitragen, dass dieses Suchen fortan ein neues Ziel finden kann.


II. Adolf Loos bei Braumüller-Lesethek

Sieht man die beiden zuletzt erschienenen Bahr-Bände auf die in ihnen behandelten Themen hin durch, entsteht ein Bild, das ihren Verfasser als einen regelrechten „Universalkritiker“ ausweist – zumal Bahr nicht nur über Literatur und Theater, sondern auch über Musik und bildende Kunst, über Kunsthandwerk und Volksbildung oder das Wahlverhalten der Österreicher und die Kulturpolitik im Allgemeinen geschrieben hat. Karl Kraus freilich, von dem die Bezeichnung „Universalkritiker“ stammt, hatte dieses Epitheton seinerzeit nicht auf Bahr gemünzt (der für den Fackel-Herausgeber spätestens seit 1893 auf der satirischen Abschussliste stand19), sondern auf seinen Zeitgenossen und Freund Adolf Loos (1870–1933).

Zwar ist Loos bis heute in erster Linie als Architekt berühmt, doch hat Susanne Eckel schon vor 15 Jahren die (rhetorische) Frage gestellt, ob es sich bei ihm nicht doch auch um einen Fall für die Literaturwissenschaft handeln würde.20 Einen Eintrag in Killys Literaturlexikon – auf den die Neuausgabe dieses Standardwerks hoffentlich nicht wieder verzichten wird21 – weißt Loos jedenfalls längst auf, und auch die Wirkung seiner ästhetischen Theorien auf Literatur und Literaturkritik der Moderne sind keineswegs zu unterschätzen. Karl Kraus etwa war der Meinung, dass entscheidende Parallelen zwischen seiner eigenen und Loos‘ kritischer Praxis bestünden, die sich in beiden Fällen „gegen die tägliche Vermischung von künstlerischen und moralischen Grundsätzen, von Literatur und Journalismus, von Kunst und Gebrauchskultur“22 wandte. Und auch bei Alfred Döblin findet sich die Bemerkung:

"Kritik ist Kritik und hat ihren Stil, der nicht der Stil der barocken Novelle ist; außerdem kann man nicht alles in diesem Stil schreiben; siehe auch die Bemerkungen von Loos, der als Princip aufstellt: Sachlich sein; jedem Ding seine besondere Sachlichkeit, Zweckmäßigkeit; nichts von außen heranbringen und ankleben. Wenn doch das die Herren lernen wollten und nicht dauernd den Stil der schlechten Kunstgewerbler schrieben."23

Loos hat also Maßstäbe gesetzt, die weit über den Rahmen der Design- und Architekturgeschichte hinausreichen. Er hat dies in erster Linie durch ein publizistisches Werk getan, das auch im öffentlich artikulierten Selbstverständnis seines Verfassers eine zentrale Rolle gespielt hat. So verwundert es wenig, wenn er sich in einer autobiographischen Notiz für das Deutsch-Österreichische Schriftstellerlexikon aus dem Jahr 1902 keineswegs als Architekten, sondern als „Kunstschriftsteller“ und Mitarbeiter der Neuen Freien Presse, Bahrs Wiener Zeit und Maximilian Hardens Berliner Zukunft bezeichnet.24

Als solcher äußerte er sich – wie ein Zeitgenosse feststellte – u. a.

"[...] über Erziehung, über Theater, über Musik, über die Sinnlosigkeit von Frakturdruck und Kurrentschrift, über die Einräumung aller Theater für die Operette, damit das Publikum ihrer überdrüssig werde, über die Notwendigkeit, die Akademien und die ganze Kunstpflege dem Einfluß des Staates zu entziehen, über die Wahl der Kunstlehrer durch die Schüler, über die Lächerlichkeiten (Haltung ec.) des Turnunterrichtes, über die Wichtigkeit von praktischer und materialtechnischer Arbeit des künftigen Architekten, bevor er Theorie und Zeichnen lerne, über die unumstößliche Tatsache, daß jeder den wahren Künstler verkennen müsse …. über alles"25

– darunter hin und wieder auch über Literatur, Theater und Film, wie etwa seine Statements zu Karl Kraus, sein Nachruf auf Peter Altenberg oder seine Gedanken über deutsche und französische Kinoästhetik zeigen. Ziel seiner kritischen Praxis war – wie der durchaus polemisch zu verstehende Untertitel seiner kurzlebigen Zeitschrift Das Andere lautete – die „Einführung abendländischer Kultur in Österreich“. Loos‘ Kritik (gleich welcher Objekte) verstand sich mithin in erster Linie als „Geschmackspädagogik“26, die ein vorgeblich in stilistischen Fragen rückständiges Publikum zu erziehen trachtete.

Diese Wirkungsabsicht ließ ein essayistisches Werk entstehen, das weniger für ein Fachpublikum als vielmehr für die Allgemeinheit und damit „für den Tag“ geschrieben war.27 Es ist als solches denkbar verstreut in Zeitungen und Zeitschriften publiziert worden, doch hat der Autor – auch das ein Ausweis seines Selbstverständnisses als Schriftsteller – in den Jahren 1921 und 1931 eine Auswahl seiner Texte in den Sammelbänden Ins Leere gesprochen und Trotzdem vorgelegt, die aus Anlass seines 60. Geburtstages unter dem Obertitel Schriften in zwei Bänden eine veränderte Neuauflage in Ludwig von Fickers Innsbrucker Brenner-Verlag erfahren haben.

Über die sich anschließende, durchaus verworrene Editions-Geschichte von Loos‘ Werk gibt einmal mehr Susanne Eckels Aufsatz kompetent Auskunft. So wurde in den 1960er Jahren zwar eine zweibändige Neuedition Sämtlicher Schriften von Franz Glück in Angriff genommen, von der allerdings nur der erste Band (der alle bislang in Buchform vorliegenden Aufsätze enthielt) erschienen ist; für den Folgeband mit den verstreuten Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen blieb es dagegen bei der bloßen Ankündigung. Ab 1982 veröffentlichte dann der Wiener Journalist Adolf Opel mehrere Bände mit Loos-Texten, darunter Neuausgaben von Trotzdem und Ins Leere gesprochen, sowie die Sammlung Die Potemkin’sche Stadt, von denen die letztere allerdings aufgrund des unkonventionellen und unbesorgten Umgangs mit den edierten Texten laut Eckel „eine gravierende Verwirrung in der Loos-Forschung“ gestiftet habe.28

Derselbe Herausgeber, der sich seit mehreren Jahrzehnten unermüdlich mit Loos und seinem Werk beschäftigt, legt nun eine neue, einbändige Ausgabe aller bislang im Druck ermittelbarer Texte aus den Jahren 1897 bis 1933 unter dem Titel Gesammelte Schriften vor. Mit einem Umfang von 780 Seiten und dem Format eines Ziegelsteins tritt dieser Band schon rein äußerlich mit dem Anspruch auf, nun endlich die definitive Loos-Ausgabe verkörpern zu wollen. Für den Herausgeber Adolf Opel bedeutet er „die Einlösung eines Versprechens, die allzu lange auf sich warten ließ.“29

Die bislang vollständigste Ausgabe ist Opels neuer Band mit Sicherheit geworden, doch krankt auch sie – was die Editionspraxis betrifft – leider an einem großen Mangel an Sorgfalt. Gewisse philologische Standards, wie sie die zumindest um Genauigkeit bei der Textherstellung bemühte Bahr-Ausgabe anstandslos erfüllt, darf man von der Loos-Ausgabe erst gar nicht erwarten. Sie wimmelt von Satz- und Druckfehlern. Um nur ein wahllos herausgegriffenes Beispiel zu nennen: Auf den 13 Seiten der Kritiker- und Kulturbetriebs-Satire Mein Auftreten mit der Melba. Humoreske aus dem amerikanischen Journalistenleben (1900, S. 254–261) stolpert der Leser allein bei der ersten oberflächlichen Lektüre über ganze zehn Satz- und Druckfehler, die – oft im Abstand weniger Zeilen – von deplatzierten Satzzeichen bis zu offensichtlichen Verschreibungen reichen.

Daneben sind Ungenauigkeiten in der Datierung einzelner Aufsätze zu bemerken, wie etwa des letzten mit dem Titel Vom Nachsalzen: Stammt er nun von 1933 (wie im Inhaltsverzeichnis und beim Text selbst vermerkt ist) oder von 1932 (wie es die Quellenangabe suggeriert)? Zumal die Jahreszahl nicht unmittelbarer Teil der im Anhang abgedruckten bibliographischen Titelaufnahme ist, wäre diese Frage für den Leser erst nach mühsamem Nachprüfen an der zitierten Originalquelle selbst zu beantworten. Solche unnötigen Fehler, die durch das Eingreifen eines einigermaßen aufmerksamen Lektorats leicht zu vermeiden gewesen wären, sind in Hinblick auf die Buchherstellung zumindest als schlampig zu bezeichnen – in Hinblick auf die Benutzbarkeit des Bandes als zitierfähige Arbeitsgrundlage für die Forschung sind sie äußerst ärgerlich.

Doch die Ärgerlichkeiten häufen sich: So fehlen im Inhaltsverzeichnis die Nachweise ganzer Textgruppen, darunter die zahlreichen Artikel aus Loos eigener Zeitschrift Das Andere (S. 270–321) – volle 50 Seiten, auf die man erst zufällig beim Durchblättern des Buches stößt. Gleiches gilt für seine Antwort auf die Rundfrage: Die Bücher zum wirklichen Leben (S. 446) oder den von Loos zusammengestellten Lehrplan Kunstgeschichte für Eugenie Schwarzwalds Schulanstalten (S. 452, der im Übrigen unter diesem Titel nur im Quellenverzeichnis auftaucht, während er im Hauptteil unter dem Reihentitel des Fundorts – dem X. Jahrbuch der Schulanstalten der Dr. phil. Eugenie Schwarzwald – abgedruckt ist).

Oder: Die Zählung der von Loos fallweise in Einzeltexten eingefügten Fußnoten beginnt nicht in jedem neuen Aufsatz wieder mit der Ziffer 1, sondern läuft durch das gesamte Buch durch, was sich zwar mit den Tücken der modernen Textverarbeitung bei der Herstellung des Buches erklären lässt. Auf die textkritische Zuverlässigkeit des Buches werfen solche Details aber einmal mehr ein eher ungünstiges Licht.

Sind dies Mängel, die sich immerhin bei einer allfälligen Neuauflage einigermaßen leicht beheben ließen, stellen sich in anderer Hinsicht Fragen, die die Grundkonzeption der Textauswahl und -zusammenstellung selbst betreffen.

Fragen darf man zum Beispiel, was eindeutig nicht von Loos stammende Zeitungsmeldungen über ihn in einer Loos-Gesamtausgabe zu suchen haben – sofern sie nicht im Anhang stehen – was aber nicht der Fall ist. Tatsächlich sind diese Texte in die chronologische Reihe der Loos’schen Aufsätze aufgenommen worden, ohne sie im Inhaltsverzeichnis gesondert zu markieren. Immerhin sind die Fremdtexte im Hauptteil des Buches dann typographisch abgesetzt, indem sie kursiviert gedruckt wurden – was sich dem Leser allerdings selbsterklärend erschließen muss. Einen editorischen Hinweis hierzu sucht man nämlich vergebens. Der Anspruch, eine vollständige Edition des verstreut Gedruckten zu liefern, geht hier offenbar mit demjenigen durcheinander, eine Dokumentation auch des lediglich mündlich in Vorträgen und Vorlesungen Mitgeteilten über den Umweg von Sekundärquellen bieten zu wollen. Entsprechende Begründungen für die Aufnahme oder Nichtaufnahme von Rezeptionszeugnissen sind allerdings – wiederum – nicht vorhanden.

Ähnliches gilt für die Berücksichtigung der wenigen eingestreuten Briefe, die zwar partiell (!) im Inhaltsverzeichnis gemeinsam mit den übrigen Texten aufscheinen, im Hauptteil aber untranskribiert als faksimilierte Abbildungen der Handschriften mitgeteilt werden (z.B. S. XXXIV, S. 469, S. 739). Als Zeugnisse aus Loos‘ privater Korrespondenz gehörten sie – genauso wie die abgebildeten Sprech-Zettel des im Alter ertaubten Autors – in eine eigenständige, noch immer ein Desiderat bildende Briefausgabe. Als mehr oder weniger zufällig ausgewählte Illustrationen im Kontext einer Gesamtausgabe des publizierten schriftstellerischen Oeuvres stellen sie jedoch bestenfalls das dar, was der Purist Loos selbst zeitlebens am wenigsten gemocht hatte: bloßes Ornament.

Nicht als Ornament, sondern als ein nützliches und mithin funktionales Element einer jeden Werkausgabe ist deren paratextuelles Beiwerk zu betrachten. Diesbezüglich bietet der Loos-Band im Gegensatz zur Bahr-Ausgabe zunächst eine umfangreiche Einleitung über Leben und Werk des Autors – in der allerdings schon das Fehlen von Quellennachweisen für die zitierte Sekundärliteratur (darunter Aussagen von Bahr und Walter Benjamin) den kritischen Leser nachdenklich stimmt.

Immerhin: Ein Namensregister, das sowohl Einleitung und Kommentare als auch die edierten Texte selbst erschließt, ist dankenswerterweise mit abgedruckt. Auch um Kommentare – die nicht in einem eigenständigen Apparat, sondern auf lesefreundliche Weise unmittelbar nach dem jeweiligen Text geboten werden – hat sich Opel in seiner Loos-Edition bemüht, doch ist die Vollständigkeit der Erläuterungen eher zufällig zu nennen. Zum bereits erwähnten Text Mein Auftreten mit der Melba erfährt man z.B. durchaus, dass es sich bei der titelgebenden Gestalt um „die berühmteste Koloratursängerin ihrer Zeit“ gehandelt hat; nicht jedoch, wer sich hinter den Namen der diversen Wiener Volkschauspieler oder Varieté-Größen verbarg, die Loos wenige Jahre später in mehreren seiner Kritiken erwähnt hat.

Das aber mag man verschmerzen, vor allem, weil solche Lässlichkeiten vergleichsweise gering wiegen, sobald man sie an den anderen Mängeln des Bandes misst – denn diese offenbaren eben eklatante Nachlässigkeiten im Umgang mit Loos‘ Texten selbst.

Trotz aller Monita bleibt festzuhalten, dass Opels Loos-Ausgabe zurzeit ohne wirkliche Alternative dasteht: Eine sorgfältigere Ausgabe ist wohl kaum in absehbarer Zeit zu erwarten, Digitalisate im Netz stehen anders als im Falle Bahrs bislang nicht zur Verfügung und würden im Falle der vergriffenen Buchausgaben auch insofern keinen Ersatz bieten können, als es ja Opels begrüßenswertes Ziel war, auch die zahllosen, nicht in den von Loos noch selbst herausgegebenen Sammelbänden enthaltenen Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge zu publizieren. Und auch die kleinen Auswahlbändchen des Wiener Metro-Verlages, die mehr als vergnügliche Einstiegslektüre in den Loos’schen Gedankenkosmos konzipiert sind, können mit ihrem Lesebüchl-Charakter schon rein quantitativ keine wirkliche Konkurrenz zu einem opus magnum von etwas weniger als 800 Seiten bilden.


Michael Pilz, 11.10.2010

Michael.Pilz@uibk.ac.at

 

Anmerkungen:

1 Zit. nach Donald G. Daviau: Der Mann von Übermorgen. Hermann Bahr 1863–1934. Wien: Österr. Bundes-Verl., 1984, S. 9.

2 Gotthart Wunberg: Deutscher Naturalismus und Österreichische Moderne. Thesen zur Wiener Literatur um 1900. Deutsche Text-Bibliothek, Bd. 7 (1987), S. 100.

3 Ebd., S. 104.

4 Ebd., S. 105.

5 Ebd., S. 111.

6 Claus Pias: „Do you really want to live forever – forever young?“. Hermann Bahr, die Jugend und die Speicher. In: Andreas Beyer, Dieter Burdorf [Hrsg.]: Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900. Heidelberg, 1999, S. 7–88, hier S. 73.

7 Ebd.

8 Hermann Bahr: Theater der Jahrhundertwende. Kritiken. Ausw. u. Einf. von Heinz Kindermann zum 100. Geburtstag des Dichters. Hrsg. vom Land Oberösterreich u. von d. Stadt Linz. Wien: Bauer, 1963.

9 Hermann Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887–1904. Ausgew., eingel. u. erläuert von Gotthart Wunberg. Stuttgart: Kohlhammer, 1968.

10 Ebd., S. 74 f.

11 Ebd., S. 88.

12 Hermann Bahr: Tagebücher, Skizzenbücher, Notizhefte. Hrsg. von Moritz Csáky. Bearb. von Lottelis Moser und Helene Zand. Wien: Böhlau. Bd. 1: 1885–1890 (1994) – Bd. 5: 1905–1908 (2003).

13 Vgl. Editionsrichtlinien. In: Hermann Bahr. Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden.

14 Weitere Digitalisate von Bahr-Ausgaben lassen sich z.B. auch über das wie immer ertragreiche Internet-Archive oder – in geringerem Umfang – bei ALO. Austrian Literature Online finden.

15 Vgl. Claus Pias: Zu dieser Edition. In: Hermann Bahr. Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden.

16 Vgl. Gotthart Wunberg: Deutscher Naturalismus und Österreichische Moderne. Thesen zur Wiener Literatur um 1900. Deutsche Text-Bibliothek, Bd. 7 (1987), S. 99.

17 Gotthart Wunberg: Hermann Bahr – ein Fall für die Kulturwissenschaften. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts, 5 (1998), S. 200.

18 Ebd., S. 201.

19 Vgl. Die Überwindung des Hermann Bahr. In: Die Gesellschaft, 9 (1893), Nr. 5, S. 627–636.

20 Vgl. Susanne Eckel: Adolf Loos – (k)ein Fall für die Germanistik. Bericht aus der aktuellen Adolf-Loos-Forschung. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 69 (1995), S. 71–91.

21 Vgl. die allerdings auf Loos kaum zutreffende Vorbemerkung des Herausgebers im bereits erschienenen Bd. 1 des neuen Killy, S. X, dass Artikel über „mittlerweile ephemere Verfasser“ sowie über „große Namen der neueren deutschsprachigen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte“ mit nur geringem Kontakt zum „öffentlichen literarischen Leben ihrer Zeit“ gegenüber der Erstauflage gestrichen wurden.

22 Eckel: Adolf Loos, S. 77 f.

23 Döblin an Herwarth Walden, November 1909, zit. nach Eckel: Adolf Loos, S. 79.

24 Zit. nach Adolf Opels Vorwort zu dem hier besprochenen Band, S. XIX.

25 Zit. nach dem hier besprochenen Band, S. 490.

26 Zit. nach ebd., S. XXXII.

27 Vgl. ebd., S. XXVIII.

28 2Eckel: Adolf Loos, S. 87. Ebd. findet sich auch eine ausführliche Kritik von Opels Editionspraxis in Bezug auf den Band Die Potemkin‘sche Stadt.

29 Vorwort des Herausgebers, S. XXXIII.