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So oder nicht so

Kunst der Kritik. Hrsg. von Birgit Mennel, Stefan Nowotny und Gerald Raunig. Wien: Turia + Kant, 2010. 252 S. (rePUBLICart, Bd. 10). ISBN 978-3-85132-584-3. Preis [A]: € 26,-

In unserer ausdifferenzierten Gesellschaft gibt es zum Glück nicht nur Spezialisten für Autoreparaturen und die Herstellung von Mobiltelefonen, sondern auch Spezialisten des Lesens und Verstehens von Texten sowie ihres Auslegens und Weiterdenkens. Literaturkritiker- und LiteraturwissenschaftlerInnen gehören zu den letzteren, aber auch Philosophinnen und Philosophen.

Michel Foucaults Diktum, Kritik sei „die Kunst, nicht so regiert zu werden“, bildet das Zentrum und den Ausgangspunkt des Bandes Kunst der Kritik. Fast jeder der 13 (mit dem Vorwort 14) Beiträge beginnt mit diesem Zitat. Dadurch entsteht beim Leser zwar rasch der Eindruck einer gewissen Eintönigkeit, andererseits aber entfaltet sich vor ihm ein Panorama von Lesarten, die jeweils abhängig sind von der Position des Autors/der Autorin. Dass die Texte sich inhaltlich zu sehr an einander annähern wird außerdem durch den Umstand verhindert, dass der Bezug zu Foucaults Kritikverständnis sich zumeist auf den einen Satz beschränkt, der übrigens in der ausführlicheren Version – zumindest in der deutschen Übersetzung – etwas anders lautet: Kritik sei "die Kunst, nicht regiert zu werden, bzw. die Kunst, nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden."1 Nicht, dass die zweite Hälfte in den Texten unterschlagen würde, aber doch ist da ein kleiner Unterschied: Bei den Autoren des widerständig-knallorangefarbenen Bandes hat sich ein „so“ eingeschlichen. Hier wird also an der Art und dem Ausmaß des Regiertwerdens Kritik geübt, während bei Foucault zuerst einmal das Nichtregiertwerden im Zentrum steht. Der Unterschied mag gering sein, aber er ist doch da: Heißt doch „nicht so regiert zu werden“, die Macht zu verändern, also aktiv Widerstand zu leisten, während „nicht regiert zu werden“ vorerst nur bedeutet, sich der Macht zu entziehen.

So muss es den Leser auch nicht wundern, dass der aktive Widerstand gegen die bestehende Gesellschaft in den Mittelpunkt gerückt wird, wie es auch schon das Programm des eipcp (european institute for progressive cultural policies), der Herausgeber des Bandes, andeutet: Man engagiert sich „im Kontext eines transnationalen Kampfes gegen die neoliberale Hegemonie“2, wobei der behandelte Themenbereich explizit die Kunst miterfassen soll.3 Und bei allen Worthülsen, die ein solcher Ansatz mit sich bringt,4 finden sich zum Teil auch fruchtbare Ansätze, die weiterzudenken sich lohnen könnte.

Wenn beispielsweise Ulf Wuggenig in seinem Aufsatz Paradoxe Kritik unter Zuhilfenahme soziologischer Arbeiten von Negri, Boltanski, Bourdieu usw. darauf hinweist, dass Kritik einen konstitutiven Faktor des Kapitalismus darstellt; dass also Kritik den Kapitalismus mitprägt, aber auch gleichzeitig stärkt, indem sie es ihm ermöglicht, sie zu inkorporieren und damit seine Macht auszubauen, dann bedarf es nur geringfügiger Modifikationen, um dasselbe auch für den Bereich der Literaturkritik geltend zu machen. Dann könnte man behaupten, dass die Literaturkritik, die sich oft genug über die mangelnde Qualität der zeitgenössischen Literatur beschwert, an dieser selbst die (Mit-)Schuld trägt. Zugespitzt hieße das, die Kritik habe immer die Literatur, die sie verdient.

Erstaunlicherweise findet sich ebendiese Überlegung bereits bei Walter Benjamin, zitiert von Stefan Nowotny im selben Band. „Nicht umsonst sagt Benjamin, ‚dass mit der 'Neuen Sachlichkeit' die Kritik endlich die Literatur bekommen hat, die sie verdient.‘“5 Und daran, dass sich der Bereich ‚Literatur und Kritik‘ nicht auf die Literaturkritik im Feuilleton beschränken muss, erinnert Benjamin mit bissigen Worten über die „Unmaßgeblichkeit der Rezensierbetriebs, mit dem der Journalismus die Kritik zu Grunde gerichtet hat.“6

Auch die Leitfragen von Jens Kastner müsste man konkret für die Literaturkritik weiterdenken: „[W]as daraus zu folgern ist, welche Schlüsse also für die Praxis der Kunstkritik aus der Diagnose gezogen werden, dass sie selbst in Machtverhältnisse eingebunden ist, in ihnen uneindeutig agiert und im Zweifel sogar affirmative Effekte zeitigt“ und „wie genau diese Ambivalenz der Kritik aussieht, wie sie produziert wird und sich in ihrer jeweiligen historisch-konkreten Situation reproduziert.“7 Für die Beantwortung der Fragen allerdings nimmt sich Kastner weniger Zeit als für die Kritik an einem Aufsatz von Helmut Draxler, der ebenfalls als Autor für das eipcp schreibt.

Die Beiträger scheinen zum Teil weniger gegen die neoliberale Hegemonie zu kämpfen als gegen einander und für ihre jeweils eigene Version von Kritik und – das ist positiv hervorzuheben – die Bedeutung von Kritik überhaupt. Dass das notwendig ist, zeigt das Dilemma, in dem KritikerInnen stecken: dass die Praxis der Kritik in Systemen, die einerseits unveränderlich scheinen, andererseits flexibel genug sind, jede Kritik sofort zu inkorporieren und damit für sich verwertbar zu machen, zunehmend unmöglich bzw. unfruchtbar zu werden verspricht. Dieses Problem, das sich KapitalismuskritikerInnen stellt, ist LiteraturkritikerInnen als solchen mehr oder weniger fremd – sie versuchen ja weniger, auf die Literatur zu wirken als auf die Leser. Dass aber die Literatur und die Kritik in das Ökonomische und das Politische ebenso eingeschrieben sind, darf dabei nicht übersehen werden. Wie kritisch können Kunst und Kritik sein und auf welche Weise muss mit ihnen umgegangen werden, damit sie ihre kritischen Möglichkeiten entfalten können?

Diese Fragen sind auch mitgedacht im Beitrag von Hakan Gürses. Macht, so Gürses, zersetzt Kritik, wenn sie an einen Topos gebunden ist, also sich über den Argumentationsstandpunkt definiert. Als „legitimatorisches Denkgebilde“ offenbart sich der Topos als „Kommentar der Kritik“8 und verliert dadurch sein kritisches Potenzial. Das wiederum kennt man von der Literaturkritik: Wenn wir über die (politische) Position einer Zeitung Bescheid wissen, lesen wir die abgedruckte Kritik anders; der Topos (Kritik an der Beliebigkeit oder Lob der Einfühlsamkeit usw.) wird tatsächlich zum Kommentar. Die Argumente erhalten eine andere Bedeutung und ein anderes Gewicht, je nach der Art wie und dem Ort wo sie vorgetragen werden.

Erfrischend ist deshalb inmitten dieser im ursprünglichen Wortsinn esoterischen Aufsätze Patricia Purtscherts Texteinstieg im Kaffeehaus, wo sich am Nebentisch Mutter und Tochter im Streitgespräch befinden: „Was immer die Mutter sagte, ob es Ratschläge, Kommentare oder Versuche waren, sich der Tochter als Freundin, als elterliche Autorität oder als Fremde zuzuwenden, sie erntete erbitterten Widerstand.“ Hier wird die Foucault’sche Kritikdefinition auf den Versuch der Tochter angewandt, „sich nicht so regieren zu lassen, nicht dermaßen und nicht auf diese Weise regieren zu lassen, von ihrer Mutter, ihren Eltern, ihrer Umwelt, von der Gesellschaft, ihren Lehrerinnen und Lehrern, der Schule, der Ausbildungsstätte, von den Normen und Vorgaben, die ihr Leben in bestimmte Bahnen zu lenken suchten.“9 Erfrischend ist dieser Einstieg vor allem deshalb, weil er nicht versucht, über einem Denken (sei es das von Foucault, Bourdieu, Marx usw.), das sich ohnehin schon auf höchsten Ebenen vollzieht, ein noch höher angesiedeltes babylonisches Gedankengebäude zu errichten, sondern das Gedachte herunterbricht auf den ganz und gar nicht banale oder einfache Realität und die Frage, was Kritik im Alltag leistet.

Und so müsste man, wenn man Foucaults Vortrag Was ist Kritik (wieder) liest und das Politische, das Künstlerische und das Kritische im Blick hat, die Frage stellen, ob nicht Kunstwerke (im weitesten Sinn, von religiösen Texten bis hin zu TV-Serien) auch verschiedene Formen von Wissen erzeugen, die ihre Machtwirkungen entfalten. Man müsste analysieren, wie diese Wissen zustande kommen und wie sie wirken, und man müsste sich Gedanken darüber machen, wie die Kritik beschaffen sein muss, die sich von diesen Prozessen nicht regieren lässt, anstatt die Macht wie eh und je ausschließlich beim Souverän zu suchen.

So. Und weil es gerade um Zugänge geht und ums Suchen: Die Texte sind fast vollzählig und ungekürzt auf der Homepage des eipcp einsehbar, unter der URL http://eipcp.net/transversal/0808.

Gerhard Scholz, 11.10.2010

Gerhard.Scholz@uibk.ac.at

 

Anmerkungen:

1 Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin: Merve, 1992, S. 12. Auch wenn Foucault im Verlauf der Rede immerwieder einschränkt, Kritik sei die Kunst, „nicht dermaßen regiert zu werden“ (ebd.), steht doch das Nichtregiertwerden im Mittelpunkt.

2 http://eipcp.net/institute/reflectionzone/buden/de.

3 „Traditionell gesprochen erfasst [die Tätigkeit des eipcp] drei Aktivitätsbereiche: Kunst, Theorie und Politik, wobei sie beansprucht, mehr als bloß deren mechanische Summe zu sein“ (ebd.).

4 z.B. dieser: „Kritik tritt heute nicht mehr im Namen einer klassenlosen Gesellschaft, sondern im Namen einer gesellschaftslosen Klasse auf“ (ebd.).

5 Stefan Nowotny: Die fremde Erde des Wissens. Kritik und Politik nach Walter Benjamin, S. 239.

6 Ebd., S. 238.

7 Jens Kastner: Zur Kritik der Kritik der Kunstkritik. Feld- und hegemonietheoretische Einwände, S. 126.

8 Hakan Gürses: Kein Kommentar. Was ist 'atopische' Kritik?, S. 190.

9 Patricia Purtschert: Nicht so regiert werden wollen. Zum Verhältnis von Wut und Kritik, S. 149.