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Was nicht nur Schüler wissen sollten, aber oft nicht zu fragen wagen

Oliver Pfohlmann: Literaturkritik und literarische Wertung. Hollfeld: Bange, 2008. (Königs Lernhilfen). 184 S. ISBN 978-3-8044-1521-8. Preis [A]: € 13,26

Dass Wertungsfragen Grundsatzfragen sind, wenn man sich mit Literatur beschäftigt, hat bereits Walter Müller-Seidel in den 1960er Jahren festgestellt. Dennoch hat sich seither erstaunlich wenig getan. Es gibt zweifellos einige wegweisende, grundlegende Publikationen zum Thema, hervorzuheben sind besonders Bücher von Renate von Heydebrand („Kanon Macht Kultur“ von 1988), auch gemeinsam mit Simone Winko („Einführung in die Wertung von Literatur“ von 1996), der von Heinz Ludwig Arnold und Hermann Korte herausgegebene Band „Literarische Kanonbildung“ (2002) und wenige andere mehr. Ähnlich stellt sich die Situation in der Forschung zur Literaturkritik dar. Aus den vielen interessanten Ansätzen insbesondere der 1970er Jahre ist kein bedeutender Forschungszweig hervorgegangen, allerdings lassen sich auch hier einige sehr berücksichtigenswerte Bücher finden, vor allem der nach wie vor unersetzliche, von Peter Uwe Hohendahl herausgegebene Band „Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730–1980)“ von 1985, aber auch Einführungen in die Literaturkritik von Thomas Anz / Rainer Baasner, Wolfgang Albrecht und Stefan Neuhaus sowie zuletzt (2008) die Arbeit von Brigitte Schwens-Harrant, „Literaturkritik. Eine Suche“.

Oliver Pfohlmann ist ein Kenner der Materie, er ist nicht nur selbst Kritiker, er hat auch an der Einführung von Anz/Baasner und an einem von Thomas Anz geleiteten multimedialen Informations- und Lernsystem zu „Geschichte – Theorie – Praxis“ der Literaturkritik mitgearbeitet (vgl. http://cgi-host.uni-marburg.de/~omanz/forschung/modul.php). Pfohlmann hat es nun unternommen, das eigentlich Naheliegende zu tun und die beiden Themengebiete eng miteinander zu verbinden.

Nun ist literarische Wertung auch ohne Literaturkritik denkbar, aber Literaturkritik nicht ohne literarische Wertung. Und um sich überhaupt ein Urteil über Literatur erlauben zu können, sollte man mit den möglichen Kriterien vertraut sein, die man an Literatur anlegen kann. Daher ist es konsequent, aus dem Buch eine „Lernhilfe“ für die Oberstufe zu machen. Wie sich zeigen wird, ist aber nicht nur die Idee ausgezeichnet, sondern auch die Durchführung. Ob der Band für die Oberstufe zu umfangreich ist und das Thema auf zu komplexe Weise aufzäumt, sei dahingestellt. Pfohlmann bemüht sich erfolgreich um Verständlichkeit. Eher lässt sich jetzt schon sagen, dass der im fränkischen Hollfeld erschienene Band nicht nur für die Schule, sondern genauso für die Universität ein echter Geheimtipp ist. Ein Schulbuch mit erheblichem Mehrwert also.

Dem Zielpublikum geschuldet ist der weitgehende Verzicht auf Belege etwa in Fußnoten (die Erarbeitung der Wertmaßstäbe z.B. verdankt viel dem Buch von Heydebrand/Winko) und die didaktische Aufbereitung des Materials, aber Literaturtipps und das Literaturverzeichnis geleiten die interessierten Leser auf weiterführende Lektürepfade. Besonders gelungen sind die übersichtlichen Kategorisierungen, die weder überladen noch kompliziert wirken. Pfohlmann gibt auch nicht vor, eine neue, nun maßgebliche Erklärung und Systematisierung der Bewertung von Literatur in den Medien gefunden zu haben, gerade diese Offenheit für eigene Gedanken, Ergänzungen und auch Abweichungen macht einen Teil des Charmes dieses Buches aus. So ist es ebenso einfach wie schlüssig, in explizite und implizite sprachliche Wertungen zu unterteilen, auch wenn die beiden Beispiele, die Pfohlmann gibt, unterschiedlich explizit zu sein scheinen (ein Roman ist „ein Meisterwerk“ oder er „ist spannend“, S. 13). Aber darüber kann man streiten wie über andere Beispiele, etwa die Möglichkeit, „realitätsfern“ als positive Eigenschaft zu bezeichnen (S. 17), und „Schmöker“ als positiv konnotierten Begriff (S. 45).

Deutlich werden die Möglichkeiten unterschiedlicher Wertmaßstäbe angesprochen und die historischen wie zeitgeschichtlichen Voraussetzungen, von denen sie abhängen. Dass hier der historische Schwerpunkt die literarische Moderne ist, liegt an Pfohlmanns eigenen Forschungsinteressen, reicht aber vollkommen aus, um das Prinzip des Wertewandels am Beispiel einer besonders wichtigen Epoche vor Augen zu führen. Die Ausführungen zum literarischen Kanon fallen dagegen eher knapp aus.

Im zweiten umfangreichen Kapitel, dem zur Literaturkritik, werden zunächst die Definitionsmöglichkeiten präsentiert und anschließend mögliche Funktionen vorgestellt. Wie schon in dem Band von Anz/Baasner gibt es einige missverständliche Formulierungen, etwa wenn „didaktisch-vermittelnde“ und „didaktisch-sanktionierende“ Funktionen festgestellt werden. Didaktik ist die Lehre von der Pädagogik, es müsste also „pädagogisch-vermittelnde“ und „pädagogisch-sanktionierende Funktion“ heißen. Außerdem ist zu bezweifeln, dass Literaturkritik in einer plural organisierten Gesellschaft noch, wie dies einst die Aufklärung postulierte, erzieherische Funktionen übernehmen kann oder auch übernehmen sollte. Literaturkritik kann, wie beispielsweise in dem Buch von Schwens-Harrant festgestellt, Lektüre- und Deutungsangebote machen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Breit gefächert sind die genannten und erläuterten „Formen der Kritik“, wobei zu fragen ist, ob der Begriff hier nicht zu weit geöffnet wird – Bestsellerlisten beispielsweise gehören höchstens noch institutionell, weil sie sich auf Literaturseiten in Zeitungen finden, zur Literaturkritik, und Literaturpreise sind Teil eines anderen Bereichs, mit der Kritik haben sie nur gemeinsam, dass sie Texte bewerten. Eigentlich decken sich die „Formen der Kritik“ weitestgehend mit den Textsorten des Journalismus, auch wenn im Literaturteil andere Textsorten wichtiger sind als z.B. im Zeitgeschehen. Schön sind die genannten „Rezensionstypen“, auch wenn es hier wieder „pädagogisch-belehrend“ und nicht „didaktisch-belehrend“ heißen müsste (S. 71). Dass auf Rahmenbedingungen des Literaturbetriebs und den Alltag von Kritikern eingegangen wird, bis hin zur Zeilenlänge und zu üblichen Honorarhöhen, ist besonders hervorzuheben, denn so gewinnen die LeserInnen, über eher abstrakte Kategorisierungen hinaus, vertiefte Einblicke in die eigentliche Arbeit. Neben anderen nützlichen Informationen findet sich noch ein Abriss der Geschichte der Literaturkritik, der auch wichtige Informationen zur Geschichte und Entwicklung der literarischen Wertung nachliefert.

Exemplarischen Analysen von literaturkritischen Texten folgt noch ein Anhang mit einer Auswahl von (teils gekürzten) Kritiken, diese eher bunte und interessengesteuerte Auswahl berücksichtigt auch so wirkungsmächtige Kritiken wie die von Frank Schirrmacher zu Martin Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ (ein hochproblematischer Text, der vielleicht besser in den kommentierten Teil aufgenommen worden wäre) oder die von Hubert Winkels zur Einteilung der Literaturkritiker in „Emphatiker und Gnostiker“.

Das Titelfoto ist das Geheimnis des Verlags – ein Schülerpärchen strahlt in die Kamera, vor einem dekorativen Strauch sitzend. Kein Buch weit und breit, nur eine Sonnenbrille baumelt vom Pullover des jungen Mannes. Eine nicht ganz überzeugende Methode, junge Leute wieder mehr für Literatur zu interessieren.

In der Summe kann man das Buch nur wärmstens empfehlen (daher vielleicht die Sonnenbrille?). Pfohlmann macht erfolgreich den Spagat zwischen thematischem Anspruch und sachlich-spannender, leicht verständlicher Aufbereitung. Erfreulich, dass es ein solches Buch sogar für die Schule gibt. An den Universitäten sollte man sich dadurch aber keinesfalls vom Kauf und der Lektüre abhalten lassen.

Stefan Neuhaus, 08.07.2009
stefan.neuhaus@uibk.ac.at