wittstock.ii

Bonbonbuntes Lesevergnügen

Die Reihe zu Klampen Essay. Herausgegeben von Anne Hamilton. Röse: zu Klampen-Verlag

Der zu Klampen-Verlag, der sich irgendwo in der norddeutschen Tiefebene hinter der schönen Anschrift „Röse 21, Springe“ verbirgt, gehört zu jenen kleinen Verlagen, deren Programme mit renommierten Namen prunken können. Die Autorenliste der Reihe zu Klampen Essay scheint sich allmählich zu einem kleinen „Who’s Who“ anspruchsvoller deutscher Literaturkritiker und Kulturjournalisten auszuwachsen, die hier in knallbunten Pappbändchen ihre verstreut erschienenen Texte sammeln und zur Re-Lektüre anbieten. Uwe Wittstock und Fritz J. Raddatz, Gustav Seibt und Burkhard Müller – der Alfred-Kerr-Preisträger des Jahres 2008 – zählen zu den bisherigen Beiträgern der Reihe. Ein Band mit Texten von Otto Kallscheuer ist angekündigt. Die durchaus geschmackvoll aufgemachten Bücher, denen man einzig etwas besseres Papier wünschen würde, sind im Schnitt zwischen 150 und 200 Seiten stark.

Ob man alle in der Reihe versammelten Texte wirklich als „Essays“ bezeichnen kann, sei einmal dahingestellt, zumal es sich bei dieser Textgattung ja bekanntlich um eine denkbar offene Form handelt, deren letztgültige Definition immer wieder auf Schwierigkeiten stoßen wird. Fast durchwegs sind es jedenfalls „Medientexte“ aus den Feuilletons deutschsprachiger Qualitätszeitungen und Kulturzeitschriften, bisweilen um die eine oder andere Rede, das eine oder andere entlegene Vor- oder Nachwort aus einem Sammelband ergänzt, die hier in Buchform wieder neu zugänglich gemacht werden. In der Regel lassen sich bestimmte Themenschwerpunkte erkennen, unter denen die Herausgabe der Einzelbände jeweils erfolgt ist.

Uwe Wittstock etwa lädt zu Streifzügen durch den Literaturbetrieb ein, indem er sich selbst der Kaste der Büchersäufer zurechnet. Dieser titelgebende Begriff wird im ironisch warnenden Vorwort des Bandes als jene Gruppe von „Literaturabhängigen“ definiert, die der „Lesesucht“ rettungslos anheim gefallen seien. Über Jahrhunderte hinweg habe laut Wittstock das „einschlägige Milieu ein so weitverzweigtes Netzwerk quer durch unsere Gesellschaft gesponnen, daß die Literaturabhängigen, ohne öffentlichen Widerspruch zu ernten, sogar Suchtstoffarchive, sogenannte Bibliotheken, unterhalten können, im Fernsehen eigene Drogenberatungssendungen mit dem bezeichnend autoritären Titel ‚Lesen!‘ betreiben und sogar über eine Stiftung gleichen Namens verfügen, die erklärtermaßen kein anderes Ziel kennt, als die Jugend mit ihrer Gier zu infizieren.“ Die folgenden Glossen und Porträts, die mit wenigen Ausnahmen erstmals in der Welt, der SZ und der FAZ erschienen sind und für die Buchausgabe überarbeitet wurden, widmen sich dann mit anhaltendem Augenzwinkern und gleichzeitiger hoher Sachkompetenz einzelnen Protagonisten dieses „weitverzweigten Netzwerks“: Buchhändlern und Verlegern, Genre-Autoren und selbst Ikea-Regalen (Billy ist für alle da. Eine Hommage). Vielleicht hätte man den extensiven Teil über die schreibenden und zeichnenden Vertreter des humoristischen Genres – von Bernd Pfarr bis Oliver Maria Schmitt und Volker Reiche (dem FAZ-Cartoonisten) – nicht unbedingt in einem Buch zum Literaturbetrieb vermutet, aber da ja die Produzentenseite eingestandenermaßen zu den konstitutiven Teilen des Betriebes zählt, will man diesen Umstand auch nicht weiter bekritteln. Bei der Lektüre der Texte, die sich den Literaturvermittlern im eigentlichen Sinne widmen, stellt man rasch fest, dass dem 2007 veröffentlichten Band zumindest partiell schon der dokumentarische Charakter einer zeithistorischen Quellensammlung zugewachsen ist: Nicht nur die einleitende Anspielung auf Elke Heidenreichs TV-Sendung, sondern auch das lesenswerte Porträt von Bernd F. Lunkewitz – Der Retter des Aufbau Verlages – machen deutlich, wie schnell sich die Verhältnisse im Betrieb ändern können.

Von Anfang an literarhistorischen Gegenständen widmet sich Fritz J. Raddatz in seinem Band Das Rot der Freiheitssonne wurde Blut, dessen Titel auf den einleitenden Text über Die französische Revolution und das deutsche Geistesleben verweist. Weitere Texte behandeln Friedrich II. als Schriftsteller und den Literaturentwurf von Jean-Paul Sartre – immer dem im Vorwort begründeten Anspruch verpflichtet, das dargestellte „Individuum gegen seine Zeit zu spiegeln – und umgekehrt den Prägungen und Versehrungen des Subjekts durch Geschichte nachzugehen“. In einfühlsamen Porträts werden auf diese Weise auch Lessing, Fontane und Rosa Luxemburg im Kontext ihrer zeitgenössischen Lebenswirklichkeit beleuchtet; ein Aufsatz über Thea Sternheim als Tagebuchautorin beschließt den Band. Im Kern gehen die meisten Beiträge auf schon etwas ältere Rezensionen für Die Zeit und das Zeit-Magazin zurück (der Großteil stammt aus den 1980er Jahren). Unter der Hand des Autors haben sich die überarbeiteten und erweiterten Buchbesprechungen zu ausführlichen literarischen Essays ausgewachsen, die dieses anspruchsvolle Etikett nun wirklich verdienen.

Dies darf auch für die meisten Texte gelten, die Gustav Seibt in zwei Bändchen mit den beziehungsreichen Titeln Canaletto im Bahnhofsviertel. Kulturkritik und Gegenwartsbewußtsein sowie Deutsche Erhebungen. Das Klassische und das Kranke vorlegt. Als ein im besten Wortsinne konservativer Autor versteht es Seibt, abseits thematischer Konjunkturen und marktbedingter Aufgeregtheiten auch einen so sperrigen Autor wie Rudolf Borchardt in ein angemessenes Licht zu rücken oder eine Lanze für den heute weithin vergessenen bayerischen Publizisten und konservativen Nazi-Gegner Erwein von Aretin zu brechen. Die Traditionslinie, in der sich Seibt offensichtlich selbst sieht, wird in den Deutschen Erhebungen durch seine Porträts von Golo Mann, Joachim Fest, Arno Borst und Karl Heinz Bohrer abgesteckt – allesamt Autoren, denen er sich als essayistisch schreibender Historiker, als Publizist und Kritiker gleichermaßen verpflichtet zeigt. Seibts lesenswerte Aufsätze über das philanthropische Gartenreich von Dessau-Wörlitz, über den Philhellenismus als deutschen Sonderweg der Antike-Rezeption oder sein engagierter Nachruf auf das Ideal der Humboldt’schen Universität stecken in den Deutschen Erhebungen ein vielfältiges Themenfeld ab, das den weiten Horizont des Autors erkennen lässt. Entsprechend finden sich auch im Canaletto-Band thematisch so heterogene Texte wie ein Aufsatz über „die Geburt des moralisierenden Literaten“ am Beispiel Petrarcas, Überlegungen zu Identität und Zukunft Europas oder eine durchaus polemisch gemeinte Kritik am gegenwärtigen „Kunstgerede“ vereinigt. Geistreich und anregend ist Seibt in all seinen Glossen und Essays – selbst dort, wo er vielleicht gelegentlich zum Widerspruch herausfordert.

Deutlich stärkeren Widerspruch provoziert freilich Burkhard Müller, der in seinem Band Lufthunde fünfzehn Portraits der deutschen literarischen Moderne von Wilhelm Busch und Christian Morgenstern bis Kafka, Benn und Jünger bietet. Den Abschluss des Bandes bildet der Abdruck einer im April 2007 an der TU Chemnitz gehaltenen Rede über Günter Grass’ Blechtrommel und Martin Walsers Halbzeit. Gerade diese Rede nun hinterlässt beim Lesen einen schalen Nachgeschmack, der durch die generelle Neigung des Verfassers zum gelehrsamen Dozieren auch in den übrigen Texten alles andere als wettgemacht wird. Müllers Reflexionen erscheinen nicht immer frei von verbaler Wichtigtuerei. Dass beispielsweise – wie das Vorwort bemerkt – viele der hier versammelten Aufsätze aus Anlass einschlägiger Dichterjubiläen entstanden sind, dürfte in der Praxis schlichtweg dem Abarbeiten eines gewissen feuilletonistischen Plansolls zu verdanken sein, das man mit Hans Ulrich Gumbrecht auch als Folge der „Faszination am Zufall der runden Zahl“ bezeichnen könnte. Wenn Müller hingegen diese einfache Tatsache mit der Bemerkung verbrämt, seine Texte gingen „aus der Zeitlichkeit hervor, um ihr Trotz zu bieten“, klingt das natürlich gleich um einiges bedeutungsschwerer. Das soll nun freilich keineswegs heißen, dass nicht auch Müller originell zu formulieren verstünde. Beispiele für den klugen Witz des Verfassers bietet der Band zur Genüge – ob Müller nun Freud als Hydraulischen Novellisten charakterisiert oder über die unwillkürliche Versuchung berichtet, beim Anblick der van Gogh’schen „Sonnenblumen“ das irgendwie inkomplett erscheinende Originalgemälde um eine Monatsleiste zum Kalenderblatt zu vervollständigen. Zumindest methodisch unkonventionell ist auch der Essay Nietzschestechen, bei dem zufällig herausgefischte Stellen aus dem Werk des Philosophen kommentiert werden. Die Abrechnungen mit Schwächen im Werk von Hesse oder Rilke erscheinen demgegenüber zwar weniger neu, aber immerhin noch einigermaßen gerechtfertigt. Wirklich verunglückt ist dagegen Müllers Versuch, Grass und Walser gegeneinander auszuspielen. Ob Halbzeit, wie Müller meint, wirklich der „größere“ Roman als Die Blechtrommel ist, mag jeder Leser selber beurteilen. Weshalb Müller aber die subjektive Feststellung eines relativen Rangverhältnisses mit einer vernichtenden Fundamentalkritik an Grass’ frühem Hauptwerk verknüpft, die der Blechtrommel nahezu jedweden literarischen Rang abzusprechen sucht, ist keineswegs einsichtig (von Müllers verquerer Argumentation, die Grass vor allem Mangel an Realismus vorwirft und mit ihrem bemühten Aufrechnen der Glanz- und Schwachstellen beider Romane oft genug an einen Vergleich von Äpfeln mit Birnen gemahnt, ganz zu schweigen). Worum es dem Kritiker mit seinem verspäteten Verriss wirklich zu tun ist, wird schnell offenkundig; denn mit seiner Absicht, unter dem Vorwand einer „Ehrenrettung“ für Walser am Prozess der „Entkanonisierung zu Lebzeiten“ von Günter Grass mitwirken zu wollen, hält Müller erst gar nicht hinter dem Berg. Die längst inflationär gewordene Mode des Grass-Scheltens wird jedoch – indem sie eingestandenermaßen „an den Kern seines Ruhmes“ rühren will – deutlich über Gebühr strapaziert. Von diversen Anspielungen und Hinweisen auf die hinlänglich bekannten Verstrickungen des attackierten Autors in die deutsche Zeitgeschichte kann schließlich auch Müller nicht lassen. Der Habitus radikaler Souveränität, mit dem der Kritiker auftritt, entpuppt sich damit letztendlich als leere Geste im aufgeregten Umfeld eines medialen Konjunkturrittertums, von dem sich Müllers eigene Position nur noch mit Mühe abhebt.

Dass infolgedessen der mit Abstand dickste der hier besprochenen Bände (Müller füllt ganze 250 Seiten) gleichzeitig den Eindruck des schwächsten vermittelt, mag freilich als die Ausnahme gelten, die die Regel eines insgesamt glücklichen Auswahl-Konzepts bestätigt. Denn immerhin kann die Aufnahme gerade auch kontrovers zu diskutierender Texte dem Niveau einer in jeder Beziehung auf Buntheit angelegten Reihe keineswegs abträglich sein.

Michael Pilz, 18.05.2009

Michael.Pilz@uibk.ac.at

 

Bibliographische Angaben zu den besprochenen Bänden:

Wittstock, Uwe: Die Büchersäufer. Streifzüge durch den Literaturbetrieb. Springe: zu Klampen, 2007. 173 S. ISBN 978-3-86674-005-1. Preis [A]: €16,50

Raddatz, Fritz J.: Das Rot der Freiheitssonne wurde Blut. Literarische Essays. Springe: zu Klampen, 2007. 175 S. ISBN 978-3-86674-013-6. Preis [A]: €16,50

Seibt, Gustav: Canaletto im Bahnhofsviertel. Kulturkritik und Gegenwartsbewußtsein. Springe: zu Klampen, 2005. ISBN 3-934920-76-4. Preis [A]: € 18,50

Seibt, Gustav: Deutsche Erhebungen. Das Klassische und das Kranke. Springe: zu Klampen, 2008. ISBN 978-3-86674-024-2. Preis [A]: € 16,50

Müller, Burkhard: Lufthunde. Portraits der deutschen literarischen Moderne. Springe: zu Klampen, 2008. 254 S. ISBN 978-386674-027-3. Preis [A]: € 18,50