heesen_zeitungsausschnitt_4

Kleine Ausschnittkunde

Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch, 2006. (Fischer Taschenbuch, Band 16584). 384 S. ISBN 978-3-596-16584-1. Preis [A]: € 17,50

Was wäre die Rezeptionsforschung ohne den Zeitungsausschnitt, um den sich literaturwissenschaftliche Dokumentationsstellen mit Akribie bemühen - egal, ob auf konventionelle Weise mit Schere und Klebstoff, oder vollelektronisch mit Scanner und bildschirmgestütztem Clipping-Programm, wie es seit Oktober 2000 etwa im Innsbrucker Zeitungsarchiv zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur / IZA praktiziert wird. Der Zeitungsausschnitt ist also längst im digitalen Zeitalter angekommen. Seiner Geschichte als "Papierobjekt" hat die Kulturwissenschaftlerin Anke te Heesen eine ausführliche Studie gewidmet. Anregend und kenntnisreich wird darin der Rolle nachgespürt, die gezielt aus der Tagespresse ausgeschnittene Papierstücke seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Kultur der Moderne gespielt haben.

Die unterschiedlichsten Beispiele werden berücksichtigt: Die fiktive Zeitungsausschnittsammlung von Arthur Conan Doyles berühmter Detektivfigur Sherlock Holmes ebenso wie die reale Privatsammlung des Physikers Ernst Gehrcke und die Verwendung von Zeitungsmaterial in den Werken von bildenden Künstlern und Autoren wie Kurt Schwitters, Alfred Döblin und Siegfried Kracauer. Auf diese Weise wird die Herausbildung einer "regelrechten Ausschnittkultur" im Zeitraum zwischen 1870 und 1930 umrissen. Ausgehend von der 'klassischen' medienwissenschaftlichen Definition der Zeitung erkennt die Autorin in den denkbar unterschiedlich gelagerten Motivationen für das Beobachten und Sammeln von Presseinhalten eine allgemeine "Reaktion auf die grundlegenden Eigenschaften des Mediums: Aktualität, Periodizität, Publizität und Universalität" (S. 10). Unter Anwendung der Begriffe "Vielheit", "Bewegung" und "Reproduktion" erscheint der Zeitungsausschnitt auf paradigmatische Weise als "moderner Gegenstand" (S. 46 ff.), dessen systematisierte Handhabung "das Informationsdetail aus dem Gesamtzusammenhang aussonderte und in einen neuen Kontext einfügte. Dabei ging es vor allem um eine Sammlung von Einzelinformationen, die sich […] irgendwann zu einem großen Ganzen zusammenfügen würde" (S. 9).

Indem sie die Ambivalenz zwischen der vorgeblichen "Vergänglichkeit" des tagesaktuellen Zeitungsinhalts und dem im Ausschnitt manifest werdenden Interesse an seiner dauerhaften Sammlung und Aufbewahrung im Fokus unterschiedlichster Beweggründe umreißt, liefert te Heesen erhellende Einblicke in die Mediengeschichte der Moderne. Am Aufkommen der Massenpresse wird die Konkurrenz zwischen den "neuen Medien" und der ungebrochen hochgehaltenen "Autorität des Buches" (S. 10) aufgezeigt. Die kulturwissenschaftliche Perspektive, die an zentralen Stellen auf Georg Simmel und Walter Benjamin rekurriert, erlaubt es der Autorin dabei immer wieder, von ihrem historischen Gegenstand aus Brücken in die unmittelbare Gegenwart zu schlagen. Wenn Zeitungsausschnitte "als Chiffren des modernen Massenlebens" begriffen werden und die Verfahren ihrer Ordnung und Aufbewahrung als der Versuch, "das unaufhörliche Erscheinen der Zeitung festzuhalten und in die langsamere, schrittweise vorgenommene, Dokumentation zu überführen", wobei die Gefahr des "totalen Stillstands" nicht auszuschließen ist, "weil die Masse täglicher Zeitungen alle überfordern musste, die auf Vollständigkeit zielten" - so liegt der Vergleich mit den elektronischen Medien auf der Hand:

"Der Zeitungsausschnitt kennzeichnet den langen, im Grunde bis heute andauernden Übergang in das Zeitalter moderner Medien. Denn sobald man sich vor Augen führt, mit welchen Problemen wir auch heute noch durch die Frage nach der Organisation und Speicherung von E-Mails konfrontiert werden, so könnte man zum Schluss gelangen, dass wir keinen Deut weitergekommen sind" (S. 13).

Nach solchen grundlegenden Reflexionen über das "Wesen" des Zeitungsausschnitts wird im äußerst detailreich gestalteten Hauptteil der Arbeit die zunehmende Professionalisierung der modernen "Ausschnittkultur" behandelt. Zeugnis von dieser Professionalisierung geben einerseits kommerziell arbeitende Dienstleistungsunternehmen wie die Ausschnittbüros (die heute unter der Bezeichnung "Medien-Monitoring" fortbestehen), andererseits zahlreiche Ausschnittarchive in der Trägerschaft der öffentlichen Hand. Aus der Reihe der letzteren stellt te Heesen die seit 1908 bestehende Zeitungsausschnittsammlung des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA) eingehender vor. Neben der Entstehung der Zeitungswissenschaft als eigenständigem universitären Fach und der "Entdeckung" des Zeitungsausschnitts durch Soziologen, Historiker und Kulturhistoriker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dient die Sammlung im HWWA zur exemplarischen Darstellung eines konkreten wissenschaftlichen Interesses am Zeitungsinhalt und der sich daraus entwickelnden Infrastruktur für seine institutionalisierte Erfassung und Erschließung.

Auch wenn auf die Behandlung spezifisch literaturwissenschaftlicher Institutionen und Fragestellungen des Ausschneidens und Sammelns von Zeitungen weitgehend verzichtet wird, so eröffnet te Heesens Arbeit doch einen fundierten Überblick über die Geschichte einer medial bedingten Dokumentationspraxis, die gerade in der Germanistik neben der Erfassung und Aufbereitung bibliographischer Informationen bis heute wichtige Grundlagen für die literaturwissenschaftliche Forschungsarbeit liefert. Wenn auch vielfach schon mit digitalen Mitteln erstellt und gespeichert, ist das Phänomen des Zeitungsausschnitts damit noch lange nicht so historisch geworden, wie es Anke te Heesens im Übrigen äußerst vergnüglich zu lesendes Buch vielleicht an mancher Stelle suggeriert.

Michael Pilz, 14.02.2009

Michael.Pilz@uibk.ac.at