Kehlmann Montufar mittelgroß

Vermessung der Weltliteratur

Daniel Kehlmann: Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2005. 152 S. ISBN 978-3-499-24139-0. Preis [A]: € 12,30

Im Herbst 2005 erschien neben dem Roman Die Vermessung der Welt ein Band ausgewählter Literaturkritiken Daniel Kehlmanns. Wo ist Carlos Montúfar? umfasst 19 Beiträge, die – bis auf den titelgebenden Essay – alle zwischen 2000 und 2005 in verschiedenen Printmedien (u.a. in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Rundschau oder in Literaturen) erschienen sind. Neben einer Rede über Voltaire, einem Vortrag zum Roman in der Moderne sowie einem Text über die Lektüre eigener Bücher enthält der Band 14 Rezensionen, die ganz besondere Schlaglichter auf Autoren wie Leopold von Sacher-Masoch, Stendhal, Isaiah Berlin, Kurt Vonnegut, Helmut Krausser und etliche andere werfen. Daneben unterzieht Kehlmann auch einige der großen Amerikaner einer Relektüre: J.D. Salinger, John Updike, Tom Wolfe und Raymond Carver.

Im Essay Wo ist Carlos Montúfar? nimmt der Autor die Frage nach dem Verbleib des Mannes, der zwar an Alexander von Humboldts Expedition an den Orinoko teilgenommen hat, der jedoch nicht, wie etwa ein anderer Reisegefährte des Protagonisten, Bonpland, Eingang in Die Vermessung der Welt fand, als Ausgangspunkt für eine Apologie des historischen Romans. Kehlmann untermauert sein Plädoyer für das Spiel mit Fakten und Fiktionen durch kurze Exkurse zu Kubricks Film Barry Lyndon und zu Romanen von Vargas Llosa und Coetzee. Zu den genannten Werken, die Kehlmann allesamt beim Schreiben seines Erfolgsromans beeinflusst haben, gibt er kurze, schlüssige Interpretationen, wobei das Hauptaugenmerk auf der Frage nach der Umformung des 'historischen' Stoffes liegt. Kehlmann äußert sich hier nicht nur als Romancier, sondern als einfühlsamer und verständiger Leser, als der er sich auch in den folgenden Rezensionen erweist.

Das Auffällige an den Essays Kehlmanns ist der Mut zu Wertungen abseits des Mainstreams. Ganz unprätentiös stellte er z.B. 2001 seine Lesart von J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe vor und regte damit erneut einen Diskurs darüber an, ob die Trilogie nun bloße Unterhaltungsliteratur sei oder doch ein ernst zu nehmendes Kunstwerk. Kehlmann tritt – zwar nicht als Erster, aber mit überzeugenden Argumenten – für eine Einschätzung als Kunstwerk ein.

Seine Literaturkritiken zeichnen sich aber auch dadurch aus, dass der Autor seinen Kollegen und Kolleginnen (bzw. deren Werken) sehr respektvoll gegenübertritt. Das mag daran liegen, dass er weiß, wie viel harte Arbeit in einem Roman steckt und wie schnell diese Arbeit in Frage gestellt scheint, wenn sie verrissen wird. Dennoch schreckt er nicht davor zurück, negativ zu werten, wo es begründbar ist. Erfrischend ist in dieser Hinsicht die Kritik an Harold Blooms Genius. Das Wort gegen diesen Übervater der Literaturwissenschaft zu erheben, ist auch nach Terry Eagletons polemischer Rezension von How to Read and Why von 2000 (The Crack of Bloom) noch couragiert, wenngleich Kehlmann hier etwas zu tief in Eagletons Fußstapfen steigt. Das äußert sich in einer unübersehbaren Analogie der beiden Texte, die ihren Höhepunkt gleich im ersten Satz hat: „Harold Bloom was once an interesting critic" (Terry Eagleton) / „Harold Bloom war [...] noch vor kurzem ein bedeutender Literaturwissenschaftler" (Daniel Kehlmann). Selbstverständlich kann man auch einmal die Register eines anderen ziehen, doch der Anklang an den Text des Kollegen sollte zumindest erkennbar gemacht werden. Wie auch immer, die Faktenlage spricht eindeutig für die Gegenspieler Blooms. Kehlmann führt die Position Harold Blooms ad absurdum und hinterfragt – endlich! – dessen Wertungen, denen viele Leser oft genug kritiklos Glauben schenkten; so, als hätten sie es mit in Stein gemeißelten Gesetzen zu tun.

Eine Auswahl von Blooms Werturteilen beschließt Kehlmann mit folgendem Fazit: „Wer so schreibt, dem geht es ums Zensurenverteilen. Die Autorität eines Klassenlehrers jedoch steht und fällt damit, daß er nichts Falsches sagt, und so ist es keine Kleinigkeit, daß A Word Child keinerlei Anspielungen auf König Lear enthält. Möglicherweise dachte Bloom an Murdochs Prospero-Roman The Sea, the Sea; zwar ist auch Der Sturm nicht König Lear, aber vom Standpunkt der Kabbala aus fallen so manche Gegensätze in eins." (S. 112)

Wo Kehlmann anregend unkonventionelle Verbindungen schafft wie zwischen Voltaire und den Simpsons, tritt zu Tage, was exemplarisch für seine literaturkritische Schreibweise und die Gegenstände seiner Reflexion ist: Er beschäftigt sich nicht nur mit älteren, kanonisierten Texten, sondern auch mit zeitgenössischen kulturellen Phänomenen, auf die er neue Perspektiven eröffnet, indem er sie in den Kontext unterschiedlicher Traditionen stellt. Kehlmann verfügt über die seltene Fähigkeit, unsere Kultur und Gesellschaft auf knappen Seiten so pointiert zu umreißen, dass seine Argumentationen immer anregend und nachvollziehbar sind.

Wie Alexander von Humboldt in der Welt unterwegs war, ist es Daniel Kehlmann in der Weltliteratur. Er prüft zu Unrecht vergessene Texte genauso wie zu Recht umjubelte und vermisst so ein breites Spektrum der Literaturgeschichte neu. Dabei überblickt er ganze Epochen und Nationalliteraturen und bewegt sich – Gustav Seibt hat es am treffendsten ausgedrückt – wie eine „Eule auf Panoramaflug" durch die Welt der Literatur.

Zweifellos wird Daniel Kehlmann dem Gros der Leser als der Autor der Vermessung der Welt und anderer Romane im Gedächtnis bleiben. Doch der Seitenblick auf seine literaturkritischen Texte lohnt, denn Kehlmann ist auch in dieser Hinsicht eine erfreuliche Ausnahmefigur im Literaturbetrieb der Gegenwart. Bleibt zu hoffen, dass 2009 nicht 'nur' ein neuer Roman (Ruhm wurde im Januar veröffentlicht), sondern ebenfalls wieder ein Band mit ausgewählten Essays erscheint.

Irene Zanol, 15.01.2009

irene.zanol@student.uibk.ac.at