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Im Gängelwagen durch die Geschichte der deutschen Filmkritik

Über David Steinitz' Versuch einer Gesamtdarstellung. Von Martina Zerovnik


David Steinitz: Geschichte der deutschen Filmkritik. München: Ed. Text + Kritik, 2015. 325 S. ISBN 978-3-86916-409-0. Preis [A]: 39,90 €


Als Kant 1784 auf die Frage „Was ist Aufklärung?‟ antwortete, verwendete er zur Veranschaulichung ihres Gegenteils – der Unmündigkeit des Menschen – die Metapher des „Gängelwagens‟: ein Hilfsgerät, mit dem Kinder seiner Zeit gehen lernten. Darin sind nicht selbständig denkende Menschen (unverschuldet oder selbstverschuldet aus Faulheit oder Feigheit) der Fähigkeit beraubt, einen Gedankenschritt alleine zu setzen. Womit mündige Menschen ‚draußen‛ konfrontiert werden, verlangt durchaus Mut – vernunftbegabtes Denken fordert Kritikfähigkeit und Urteilsvermögen. Nun kann auch eine Dissertation als ein Schritt in eine Mündigkeit gesehen werden, zumindest als ein Beweis, dass ihr Verfasser dazu imstande ist, von seiner Vernunft in einem ausgewiesenen Rahmen spezifischen öffentlichen Gebrauch zu machen und sich in einen Diskurs einzuschreiben. David Steinitz tritt mit seiner in der edition text + kritik erschienenen Geschichte der deutschen Filmkritik die Beweisführung an.

Steinitz unternimmt in seinem Buch den Versuch, ein umfassendes Bild der „Evolution‟ der deutschen Filmkritik zu geben. Er bezieht sich, ohne dies vorab zu definieren und mit Ausnahme einiger österreichischer Beispiele, auf Deutschland in seinen heutigen Grenzen. Eingangs vollführt er in einem mit „Was bedeutet Kritik?‟ betitelten Kapitel einen „Streifzug durch deutsches kritisches Denken in Etappen‟, der allerdings lediglich Kant, Hegel, Marx und Adorno streift, deren Besprechung darüber hinaus zu wenig auf eine Relevanz für die Filmkritik zugespitzt und fehlerhaft ist. Etwas unbefriedigend ist das schon, gemahnt der Titel des Kapitels doch an Michel Foucaults Vortrag „Was ist Kritik?‟, der als Vorbild eine stärkere Differenzierung und Systematisierung der unterschiedlichen Formen und Zielsetzungen von Kritik möglich gemacht hätte, als dies Steinitz mit der Einteilung in eine „eher ästhetisch-subjektive Herangehensweise (Frühzeit der Filmkritik und digitales Zeitalter)‟ und eine „eher soziologisch-ideologiekritische Vorgehensweise (Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre)‟ tut.

Im chronologisch angelegten Hauptteil der Geschichte der deutschen Filmkritik stellt Steinitz jeder Epoche eine filmhistorische Einleitung voran, was allerdings aufgrund von Redundanzen mehr störend als erhellend ist. Steinitz lässt die Filmkritik mit der Erfindung des Films Ende des 19. Jahrhunderts beginnen und zeigt die Verschiebung des Interesses von der technischen Sensation auf den Inhalt anhand des Wandels vom Attraktionskino zur Institutionalisierung des Films. Die Forderung nach einer formalen und narrativen Emanzipation des Films von Literatur und Theater spiegelte sich wider in der fortschreitenden Professionalisierung der Filmkritiker, die sich mit kontinuierlicher Berichterstattung und Einzelkritiken einen respektablen Platz im Feuilleton errangen. Die Jahre zuvor gegründeten Kino- und Filmzeitschriften waren mitunter durch ihre wirtschaftliche Abhängigkeit in ihren Anfangsjahren mehr Sprachrohre der Kinoindustrie oder auch der Kinoreformer denn Orte freien Denkens.

Etwas befremdlich ist es, dass Steinitz den Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Ende der frühen Filmkritik bezeichnet, denn Fragen nach filmischer Ästhetik und Moral wurden – im Kontext aktueller Gegebenheiten – weiterhin gestellt. Steinitz springt in das Jahr 1919, wo er die erste Phase des Films in der Weimarer Republik bis 1924 mit den Erfolgen des expressionistischen Films, die zweite bis 1929 als Phase der größten filmischen Konjunktur und die dritte Phase bis 1933 als Umstellung vom Stummfilm zum Tonfilm unter zunehmender politischer Einflussnahme ansetzt. Er verweist auf Kritiker und Arbeiten, die den Film unter ästhetischen und soziologischen Gesichtspunkten definierten und auch das immer virulenter werdende Phänomen der Massenkultur thematisierten. Er nennt Georg Lukács, Béla Balázs, Rudolf Arnheim, Kurt Pinthus, Siegfried Kracauer und andere mehr.

Die zunehmende politische Vereinnahmung des Films in den 1930er Jahren wurde schließlich zu einem Angriffspunkt kritischer Gegenstimmen, bis diese durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten systematisch aus- und die Filmkritik unter Führung der Partei gleichgeschaltet wurde. Filmkritiker wie Kracauer, Pinthus, Hans Siemsen oder Willy Haas emigrierten zum Teil noch vor Goebbels‘ „Kunstbetrachter-Erlaß‟ von 1936, der darauf zielte, jegliche Berichterstattung in die nationalsozialistische Ideologie einzupassen. Steinitz rekurriert hier wiederholt auf die von ihm als „One-Man-Show‟ bezeichnete Machtposition Goebbels‛ und gibt mit dessen Tagebuchaufzeichnungen auch Beispiele für dessen filmkritische und -theoretische Überlegungen.

Das Filmschaffen der Nachkriegszeit war geprägt von dem Streben nach gesellschaftlicher Rehabilitierung und Konsolidierung, deren erfolgreichstes Produkt der Heimatfilm war. Dies äußerte sich Steinitz zufolge auch am Mangel ernstzunehmender Filmkritik. Er schenkt dem Kritiker Gunter Groll als Ausnahme größere Aufmerksamkeit und setzt den Umbruch zum Erstarken filmischer Ansprüche mit der Gründung der Zeitschrift Filmkritik im Jahr 1957 an. Mit dem Oberhausener Manifest von 1962 und der Gruppierung des „Neuen Deutschen Films“ erhielt die Filmkritik in den 1960er und 1970er Jahren Impulse linksintellektueller Formierungen (Frankfurter Schule), die sich gegen eine Ideologisierung des Films richteten und den Autorenfilm unterstützten. In diesem Zusammenhang gewährt Steinitz eine Formulierung von Maßstäben: Eine zeitgemäße Filmkritik erforderte laut der Zeitschrift Filmkritik weniger Affirmation, mehr Auseinandersetzung, eine filmtheoretische und filmhistorische Kontextualisierung, die Vorrangstellung der Aussage über die Form und die Berücksichtigung der Produktionsbedingungen des zu betrachtenden Films.

In den 1980er Jahren wurde der Niedergang des deutschen Films und der Kinos befürchtet, bedingt durch finanzielle Engpässe und die erstarkte Konkurrenz des Fernsehens. Die Filmkritik der Zeit durchzog ein Generationenkonflikt zwischen den Haltungen der gesellschaftskritischen Linken und einem aufkommenden Subjektivismus, der das persönliche Filmerlebnis ins Zentrum der Beurteilung rückte. Diesen Wandel zeichnet Steinitz ausführlich am Beispiel einer im Sommersemester 1989 veranstalteten Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin nach und arbeitet auch einige Haltungen der „Kritischen Schule‟ (Karsten Witte, Gertrud Koch, Wolf Donner) deutlicher heraus. Die subjektivistischen Gegenpositionen bringt er mit Andreas Kilb, Claudius Seidl, Günter Rohrbach und mit Einschränkungen auch Frieda Grafe ein, deren „offener, assoziativer‟ Stil sich jedoch einer klaren Zuordnung widersetzt.

Der Filmkritik in der DDR und der kirchlichen Filmkritik widmet Steinitz jeweils ein eigenes kurzes Kapitel, bevor er die 1990er und 2000er Jahre wieder ausführlicher behandelt. Nun entwickelte sich der von Anbeginn schwelende Konflikt zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Filmindustrie und redaktioneller Unabhängigkeit zu einem veritablen Dilemma, da der mit der Digitalisierung erfolgte Anstieg an filmspezifischen Plattformen zu einer immer größeren und intransparenteren Einflussnahme der Filmvermarktung führte. Die Filmberichterstattung der Printmedien bekam Konkurrenz von Online-Diensten, die Filmkritiker von Laien. Hier fallen viele Kritikernamen, aber keiner Persönlichkeit (außer vielleicht Michael Althen) und auch keinem Text gesteht Steinitz mehr Raum als den eines kurzen Statements zu. 

David Steinitz schließt seine Geschichte der deutschen Filmkritik mit der schon eingangs gestellten Frage nach dem „Ende der Filmkritik‟ bzw. nach der Nützlichkeit und Notwendigkeit der Filmkritik und bleibt letztlich eine Antwort in Form einer analytischen Annäherung schuldig. Trotzdem sein Text mit zunehmendem chronologischem Fortgang etwas fokussierter und die Zusammenhänge nachvollziehbarer werden, fällt das Buch durch eine eingeengte Perspektive und undifferenzierte Darstellung auf, der methodische Leitlinien und grundsätzliche Unterscheidungen zwischen Arten, Mechanismen und Motiven der Kritik und des Urteilens fehlen. Steinitz verwendet den Begriff „Filmkritik‟ ohne vorangegangene Definition gleichermaßen für ein Urteil oder eine Wertung des Phänomens Film wie auch eines bestimmten Films. Besonders deutlich zeigen sich die mangelnde theoretische Fundierung und analytische Differenzierung in der Thematisierung des „Dritten Reichs‟, indem grundlegende Motive wie Arisierung und Antisemitismus sowie strukturelle Mechanismen der Aneignung und Ausschließung unscharf oder ungenannt bleiben. Dies liegt nicht zuletzt an der Argumentationsweise, wenn zum Beispiel der „Kunstbetrachter-Erlaß‟ u. a. mit folgender rhetorischen Frage begründet wird: „Aus nationalsozialistischer Sicht war dieser Erlass nur konsequent, denn warum sollte ein autoritäres Regime die Filmindustrie unter seine Kontrolle bringen, die Filmpresse aber frei kritisieren lassen?‟ Nicht weniger irritierend: „Aus Goebbels‛ persönlicher Sichtweise heraus war das Verbot notwendig, um seine, die Meinung des Reichspropagandaministers, als allgemeingültige verteidigen zu können.‟ Die Unschärfe verwendeter Begriffe und Formulierungen – in welchem Verhältnis stehen „persönliche Sichtweise‟ und „Meinung des Reichspropagandaministers‟ innerhalb seiner politischen Funktion? – lässt manche Aussage fragwürdig erscheinen. Ärgerlich ist die Wortwahl von Steinitz nicht zuletzt dann, wenn er die Ausführungen anderer WissenschaftlerInnen bisweilen als „dünn‟, „bedingt tauglich‟ oder als „Hangeln‟ und „Verheddern‟ bezeichnet. Enttäuschend ist schließlich auch die defiziente Erschließung von Primärquellen und Archivmaterial, das darüber hinaus vorrangig nach Sekundärtexten zitiert wird.

Am Ende meiner Lektüre von Steinitz‛ Buch steht die Frage nach dem „Gängelwagen‟. Die Stützen eines solchen Wagens bestehen gemäß Kant aus Bequemlichkeit und fehlendem Mut, die dem Verfasser aufgrund des großen Unterfangens, die solch eine Arbeit an sich darstellt, nicht zu unterstellen sind. Es bleibt der Wunsch: Nicht nur in einer Kritik, auch in einer Dissertation sollte ihrem Urheber im Kant‛schen Sinne daran gelegen sein, den „gedankenlosen großen Haufen‟ aufzurütteln.


Martina Zerovnik, 23.10.2015
martina@zerovnik.at