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Kanon und Wertung auf den Punkt gebracht

Gabriele Rippl und Simone Winko haben mit dem "Handbuch Kanon und Wertung" ein neues Standardwerk vorgelegt. Von Veronika Schuchter


Gabriele Rippl, Simone Winko (Hrsg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart und Weimar: Metzler 2013. ISBN 978-3-476-02430-5. Preis: [A]: 69,95 €


Ein Handbuch sollte Orientierung schaffen, einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand geben und die Themen aufzeigen, die für das behandelte Gebiet von Relevanz sind. Für das Themengebiet Kanon und Wertung war ein solches Einführungs- und Überblickswerk schon lange überfällig. Die Anglistin Gabriele Rippl und die Germanistin Simone Winko haben sich äußerst ambitioniert daran gemacht, diese Lücke zu schließen. Das Ergebnis geht durchwegs über die Ansprüche eines Handbuchs hinaus, zeigt sich schon in der Einleitung erfreulich kritisch, weist auf Forschungsdefizite hin und gibt sich zudem nicht mit einer Darstellung des Status Quo zufrieden (was an sich schon Leistung genug gewesen wäre), sondern liefert auch Neues, etwa eine akribische Analyse von wertenden und kanonbildenden Instanzen des Literaturbetriebes.

Die Liste der BeiträgerInnen kann mit Hochkarätern der Literaturwissenschaft und benachbarter Fächer aufwarten. So steuert Aleida Assmann einen Beitrag über Theorien des kulturellen Gedächtnisses bei, Fotis Jannidis widmet sich Literaturgeschichten, Thomas Anz schreibt über Literaturkritik und Rezensionskultur in Deutschland und Hans-Heino Ewers über Kinder- und Jugendliteratur, um nur einige wenige zu nennen. Der Fokus liegt sowohl auf der Germanistik als auch auf der Anglistik/Amerikanistik und der Allgemeinen Literaturwissenschaft.

Der Band startet mit einem Überblick über Wert- und Wertungstheorien des 20. Jahrhunderts und geht dann zu Kanontheorien und Modellen der Kanonbildung über. Nach einem sehr exemplarisch geratenen Kapitel über Kanonpluralität (so wird etwa Schottland als Beispiel für kleinere Nationalliteraturen behandelt) folgt das zentrale und innovative Kapitel über „Instanzen der Wertung von Literatur, der Bildung und Pflege von Literaturkanones: Die Rolle des Literaturbetriebs“. Neben den sofort in den Sinn kommenden, weil aktiv wertenden Institutionen wie Medien, Verlagen, Buchhandel usw. werden auch weniger prominente Instanzen der Kanonisierung angeführt, etwa Literarische Gesellschaften, Editionen, Stiftungen oder die Bildungs- und Wissenschaftsförderung. Ausgesprochen spannend zu lesen sind die einzelnen in Kapitel 6 zusammengetragenen Kanongeschichten, angefangen von Antiken Literaturen über eine Vielzahl von Nationalliteraturen bis hin zu verschiedenen Genres, wie Kriminalliteratur, Fantasy und Comic. Auch die sonst so stiefmütterlich behandelte Kinder- und Jugendliteratur wird nicht vergessen. Vergleiche mit Kanonisierungspraktiken in den Nachbardisziplinen Kunst-, Musik-, Film- und Religionswissenschaft werden in Kapitel 7 gezogen. Abgeschlossen wird der Band durch einen Blick auf die Wertungs- und Analysepraxis und einem ausführlichen Anhang mit Auswahlbibliographie, Personen- und Sachregister. Diese und der kleinteilige Aufbau machen das Buch zu einem idealen Nachschlagewerk.

Ein Manko ist, dass der Faktor Gender im Vergleich mit seiner Bedeutung sowohl für die Kanonbildung als auch als mehr oder weniger bewusstes Wertungskriterium deutlich zu kurz kommt. Dabei wird in Unterkapitel 4.4, das sich mit Kanon und Macht auseinandersetzt, auf die „entscheidende Rolle“ der Geschlechterdifferenz bei „der Formation von Kanones“ hingewiesen und Simone Winkos Verdienst auf diesem Gebiet (zusammen mit Renate von Heydebrand, deren Andenken der Band gewidmet ist) kann nicht hoch genug geschätzt werden. Natürlich kann in einem Werk, das sich dem Überblick verschrieben hat, nicht jedes Thema ausführlich behandelt werden. Das Thema Gender hätte sich allerdings einen gesonderten und ausführlicheren Beitrag verdient – wer sich über das Thema informieren will, muss etwas mühsam mithilfe des Sachregisters den ganzen Band nach Informationshappen durchkämmen. Zum anderen lassen einige Beiträge selbst Sensibilität für die Machtgefälle in Kanonisierungs- und Wertungsdiskursen vermissen.

Manches wirkt in der Zusammenstellung etwas willkürlich, etwa das Unterkapitel über Wissenschaftsförderung im englischsprachigen Raum. Die sehr spezifischen Ausführungen wirken im Kontext eines Handbuchs deplatziert und stellen auch keine Verknüpfung zum Thema Kanon und Wertung her, die so entscheidend wäre, dass sie Eingang in ein Handbuch finden muss. Das ist auch einer der wenigen Kritikpunkte am ganzen Band: Einige Beiträge sind zu speziell und verlieren das eigentliche Thema aus dem Auge. Sie sind zwar gewinnbringend zu lesen, erfüllen aber nicht unbedingt die Ansprüche, die RezipientInnen an ein Handbuch stellen mögen. Das ist allerdings Jammern auf sehr hohem Niveau. Gabriele Rippl und Simone Winko haben das Kunststück zuwege gebracht, schon mit Erscheinen des Handbuch Kanon und Wertung ein unverzichtbares Standardwerk vorzulegen. Wüsste man es nach der Lektüre eben dieses Werkes nicht besser, müsste man sagen: Das kanonisiert sich praktisch von selbst.

Veronika Schuchter, 15.07.2015